19. Juni 2025
DENKMOMENT

Anonyme Befragungen an Schulen – oder: Reines Gift für die Schulkultur

Periodische Umfragen an Bildungsinstitutionen gehören zum Schulalltag. Sie existieren in unterschied-lichen Formen, je nach Zielpublikum, das befragt werden soll. Zum grossen Erstaunen werden viele Befra-gungen zum einen anonym durchgeführt, zum zweiten gelangen die Ergebnisse direkt zur Schulleitung oder zur Schulbehörde und drittens wird der Kreis zum Ursprung der Befragung nicht geschlossen. Diese Art und Weise im Umgang mit Feedbacks ist nicht optimal und für das Schulklima keineswegs förderlich. Ein Beitrag von Condorcet-Autor Niklaus Gerber.

Eine gute Schule – und die sich als solche bezeichnet – führt regelmässig Feedbacks bei Schüler/innen, Lernenden, Lehrpersonen und Studierenden durch. Meist erfolgt die Befragung auf digitalem Weg mit einem differenzierten Online-Fragebogen. Die Erhebungen sind Teil des Qualitätsmanagements und haben primär zum Ziel, den Zufriedenheitsgrad der Befragten zu erfahren und diesen allenfalls zu verbessern.

Grundsätzliches zum Thema Umfragen 

Niklaus Gerber, war bis zu seiner Pensionierung im August 2021 Abteilungsleiter und Mitglied der gibb-Schulleitung und hat sich mit NORDWÄRTS – Kompass für kompetente Führung selbständig gemacht.
www.nord-waerts.com

Kommunikative Kompetenz. – Die freie Meinungsäusserung ist in unserer Gesellschaft ein hohes Gut. Dabei lernen wir als Befragte, persönliche Sichtweisen und Empfindungen auf konstruktive Weise zu äussern und zu vertreten, damit sie beim Gegenüber authentisch und verständlich ankommen. Feedbacks dürfen stets auch konstruktive und sachliche Kritik beinhalten. Diese soll jedoch nicht auf die Person zielen. Kurz: Es geht um grundsätzliche Regeln bei der zwischenmenschlichen Kommunikation.

Primäre Adressaten bei Datenerhebungen. – Ergebnisse aus einer Befragung gehören als erstes derjenigen Person, auf welche sich die Befragung bezieht. In Bildungsinstitutionen sind das primär die betroffenen Lehrpersonen, die Dozierenden oder die Schulleitung. Kurz: Es geht um Mitarbeitende und Funktions-träger/innen.

Kreisschliessung. – Mit einer Umfrage wird stets ein Fenster geöffnet, das sinnvollerweise wiederum geschlossen werden muss. Der befragten Zielgruppe werden die Ergebnisse dargelegt resp. präsentiert. Kurz: Die Bildungsinstitution agiert mit Offenheit und Transparenz.

So dürfte es nicht gehen …

Recherchen des Autors zeigen, dass Umfragen vielerorts anonym durchgeführt, die Ergebnisse nicht adressatengerecht verwendet werden und eine Spiegelung den Befragten gegenüber ausbleibt.

Praxisbeispiel 1

  • Schultyp: Volksschule
  • Befragte Zielgruppe: Lehrpersonen
  • Vorgehen: Die Ergebnisse der periodischen Zufriedenheitsbefragung – eine solche wird alle drei bis vier Jahre anonym durchgeführt – gelangen zur Schulleiterin. Die positiven Rückmeldungen nimmt sie mit Freude entgegen, die negativen Äusserungen bereiten ihr Mühe. Es beschäftigt sie und sie stellt Verdächtigungen an, wer unter den Lehrpersonen sich wohl kritisch geäussert haben könnte. Die Misstrauensspirale beginnt sich zu drehen. Und: Eine Rückmeldung der Befragungsresultate an die Lehrpersonen existiert nicht.
  • Kritik: Die anonyme Befragung hinterlässt Spuren und erzeugt eine Spannung zwischen Schulleitung und Lehrpersonen. Letztere beobachten aus der anonymen Position heraus auch, was mit ihrer persönlichen Rückmeldung wohl passiert. In der Summe strapaziert ein solches Setting das Vertrauen. Dieses wird brüchig und kann sich gar zu einem toxischen Klima hin entwickeln.

Praxisbeispiel 2

  • Schultyp: Eine Volksschule, Zyklus 3, 9. Klasse
  • Befragte Zielgruppe: Schüler/innen
  • Vorgehen: Im letzten Quartal der Schulzeit werden die Schüler/innen gebeten, ohne Angabe ihres Namens einen Fragebogen auszufüllen, der sich unter anderem zum Unterricht mit ihrer Klassenlehrerin bezieht. Die ausgefüllten Online-Fragebögen gelangen direkt zum Schulleiter. Gibt es auffällige Rückmeldungen zur Klassenlehrerin, wird diese zu einem Gespräch eingeladen, um die kritischen Punkte zu besprechen. Sind die Feedbacks aus Sicht des Schulleiters im so genannten «grünen Bereich», passiert nichts.
  • Kritik: Die Befragung wird anonym durchgeführt und die Erhebungsresultate gelangen direkt an die Schulleitung. Die Lehrperson wird umgangen und erfährt nur im Negativfall etwas. Ein Lob für die guten Feedbacks gibt es nicht. Dazu kommt, dass die Schülerschaft der 9. Klasse keine Rückmeldung resp. Spiegelung zu den Befragungsergebnissen erhält.

Praxisbeispiel 3

  • Schultyp: Berufsfachschule, Stufe Höhere Berufsbildung (HBB)
  • Befragte Zielgruppe: Studierende
  • Vorgehen: Im Segment der HBB ist es üblich, dass die Kursleitung jedes Modul/Fach eines Lehrgangs evaluiert. Da man im umkämpften Weiterbildungsmarkt tätig ist, soll das Image als Anbieterinstitution hochgehalten werden. Die Studierenden erhalten die Möglichkeit, auf anonyme Weise ihre Rückmeldung mittels eines Online-Fragebogens zu machen. Dieser gelangt direkt zur Kursleitung. Sind die Resultate in der von der Leitung erwarteten positiven Bandbreite, geschieht nichts. Im andern Fall wird der oder die Dozierende zu einem Gespräch zitiert. Eine Rückmeldung der Befragungsergebnisse an die Studierenden bleibt aus.
  • Kritik: Das HBB-Segment mit seinen eidgenössischen Abschlüssen[1] richtet sich hauptsächlich an angehende Kaderpersonen. In ihrem Berufsalltag und als Vorgesetzte gehört ihre Kommunikationskompetenz zu den wichtigsten Skills. Zu dieser zählen Transparenz, Offenheit, Integrität, Vorbildfunktion. Anonymes Agieren gehört hier nicht dazu. In der Rolle als Studierende sind diese (Führungs-)Personen in der Lage, Feedbacks mit ihrem Namen zu machen.

Es dürfte meines Erachtens nicht sein, dass Befragungen an Bildungsinstitutionen anonym durchgeführt werden.

So müsste es gehen …

  1. Anonymität. – Es dürfte meines Erachtens nicht sein, dass Befragungen an Bildungsinstitutionen anonym durchgeführt werden. Ein solches Vorgehen sendet Signale aus, wie wir sie von den Social-Media-Kanälen[2] her kennen. Die Schule muss dieser unschönen Entwicklung entgegentreten und Gegensteuer geben. Sie hat unter anderem einen pädagogischen oder andragogischen Auftrag, über Werte und Haltungen zu sprechen und diese zu entwickeln. Als Folge davon entstehen kommunikativ reife Persönlichkeiten, welche in der Lage sind, zur eigenen Meinung und Beurteilung zu stehen. Gerade auch Jugendliche und junge Erwachsene können das.[3]
  2. Adressatengerechtigkeit. – Wenn eine lehrende oder schulleitende Person mittels einer Befragung beurteilt werden soll, hat sie als erste Anrecht auf die erhobenen Ergebnisse. Das hat mit Wertschätzung und der Erwartung zu tun, dass die Befragungsresultate richtig interpretiert und die entsprechenden Schlüsse daraus gezogen werden. Wenn dieses Vertrauen nicht vorhanden ist, dann herrscht Misstrauen und führt zum Eindruck, dass an der Bildungsinstitution grundsätzlich etwas nicht stimmt.[4]
  3. Kreisschliessung. – Befragungen sollten immer geschlossen werden. Jede befragte Person – seien es Schüler/innen, Studierende oder Lehrpersonen – kennt nur die eigene Beurteilung, die sie abgegeben hat. Wie sie im Gesamtverband steht, ist nicht bekannt. Die Rückmeldung resp. Spiegelung der Befragungsergebnisse ist wichtig. Gleichzeitig wird aufgezeigt, was mit ihnen passiert resp. welche allfälligen Massnahmen angegangen werden. Optimal ist es, wenn diese Kreisschliessung durch den Adressaten oder die Adressatin der Befragung – allenfalls gemeinsam mit der vorgesetzten Stelle – gemacht wird. Ein solches Vorgehen zeigt, dass das institutionelle Qualitätsmanagement funktioniert.

Fazit

Zahlreiche Bildungsinstitutionen – es handelt sich in diesem Beitrag um Schulen der Sekundarstufe 1 und 2 – verteidigen ihren an den drei Praxisbeispielen beschriebenen Befragungs-Prozess mit dem Verweis auf andere Bildungseinrichtungen. Diese würden es auch genauso machen. Ergo halten sie daran fest und sind nicht gewillt, etwas zu ändern und eine Musterbrechung[5] vorzunehmen. Dieses Beharrungsvermögen hat Folgen. Es führt dazu, dass die Schulkultur als Ganzes darunter leidet. Eine gute Schulleitung dürfte das nicht zulassen.

[1] Die Abschlüsse lauten: Eidg. Fachausweis (Berufsprüfung), Eidg. Diplom (Höhere Fachprüfung), Diplom HF (Höhere Fachschule)

[2] In der Anonymität erlaubt sich der Mensch Äusserungen, die er mit seiner Namenangabe üblicherweise nicht macht.

[3] Anonymitäts-Befürworter/innen argumentieren, dass sich Befragte unter Namensnennung nicht gleich (schlecht) äussern. Das Ergebnis büsse dadurch an Qualität ein.

[4] Befürworter/innen von „Überspring-Rückmeldungen“ haben kein Vertrauen, dass die Befragungs-Ergebnisse durch die Direktbetroffenen resp. Angesprochenen nicht richtig interpretiert werden.

[5] Argyris/Schön, Lernende Organisationen, 1999.

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6 Kommentare

  1. In einem wichtigen Punkt bin ich mit Niklaus Gerber einverstanden. Die Beispiele 1 – 3 zeigen den Missbrauch auf, der mit solchen Befragungen getrieben werden kann. Letztlich geht es bei diesen Beispielen nicht um Qualitätsverbesserung, sondern um Machtdemonstration einer vorgesetzten Stelle. Es sind Beispiele für das Peter-Prinzip, wonach Leute in der Hierarchie solange aufsteigen (z.B. zum Schulleiter/zur Schulleiterin), bis sie die Stelle erreichen, für deren Funktion sie unfähig sind. Und dort bleiben sie sitzen. (vgl. Lawrence Peter: Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen, Hamburg 1972) Die drei in den Beispielen Genannten gehören abgesetzt, besser heute als morgen.
    Die Beispiele zeigen jedoch auch die grundsätzliche Problematik solcher Befragungen auf. Angenommen, es läuft so, wie N. Gerber vorschlägt. Welches sind die Antwortmöglichkeiten der Befragung? Wird hier nicht schon vorgespurt, was die Befragenden hören wollen, wenn Auswahlantworten angekreuzt werden sollen? Das läuft dann auf ein Mittel hinaus, um Lehrpersonen zu knechten, in die herrschende “Vision” einzubinden. Angenommen, die Fragen sind offen gestellt und erwarten freie Antwortmöglichkeiten: Was geschieht damit? Resultieren daraus irgendwelche Veränderungen oder Verbesserungen? Nach meiner Erfahrung entstehen schöne Berichte, Statistiken, viel Papier und that’s it. Mit anderen Worten: Befragungen sind meist ein gigantischer Leerlauf, eine Art l’art pour l’art, eine Legitimation für eine unnötige Amtsstelle und die Antwortbögen ein Haufen Makulatur.

  2. Anhand solcher Praktiken, die weit verbreitet sind, ist man geneigt, anzumerken: Gute Schulleitung – finde den Fehler.

    1. Lieber Daniel
      Der Fehler liegt darin, dass zu viele Schulleitungen – übrigens auf allen Bildungsstufen – nach wie vor überzeugt sind, dass anonyme Befragungen “das Gelbe vom Ei seien”.

  3. Lieber Felix
    Meiner Erfahrung nach sind Befragungen nutzbringend, wenn sie den von mir erwähnten Qualitätsansprüchen genügen: (1) Keine Anonymität, (2) Adressatengerechtigkeit und (3) Kreisschliessung. Wenn das nicht gewährleistet ist, sollte man Befragungen besser sein lassen. Zu Machtdemonstrationen – wie du sie nennst – dürfen sie nicht missbraucht werden. Im Artikel beschreibe ich das “was” und nicht das “wie”. Das wäre ein anderes Thema.

    1. Nutzbringend für wen? Für die Beratungsfirma (Honorar CHF 750.00 pro Halbtag)? Für die Behörden (Wir tun etwas für die Qualitätssicherung)? Für die Schubladen (Sie füllen sich mit Papier)? Ein Schulpsychologe, mit dem ich viele Jahre zusammenarbeitete, teilte die Lehrpersonen in drei Gruppen ein: (1) Die Lieben. Sie verkehren kameradschaftlich mit den Kindern, geben gute Noten, aber die Kinder lernen nichts. (2) Die Schwätzer. Sie verbreiten weise Sentenzen über Pädagogik, sind meist abwesend auf Fortbildungen, die Kinder lernen nichts. (3) Die Krampfer. Sie bereiten sich vor, lesen Fachzeitschriften, sie unterrichten mit hohem Einsatz, gehen auf die Kinder ein. Sie haben keine Zeit für pädagogisches Geschwätz, Visionen, Schulhauskultur, etc. Die Kinder lernen etwas.

      1. Lieber Felix
        Aus deinem Kommentar lese ich eine schwierige, schulische Vergangenheit mit grosser Unzufriedenheit deiner oder deinen Schulleitungen gegenüber. Ich erlaube mir, deine Eindrücke so stehen zu lassen.

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