31. März 2025
Eine Kontroverse wegen der Selektion in Schulen

Ohne fachliche Norm bildet das Kind die Norm – will man das?

Der Artikel von Hanspeter Stalder “Die schulische Selektion. Vom 19. ins 21. Jahrhuntert. Ist die selektive Schule noch zeitgemäss?” hat eine ungeahnte Flut an Kommentaren ausgelöst, an der Condorcet-Autor Felix Schnmutz “mitschuldig” war, weil er grundsätzlich für die Selektion argumentierte. Seinem Votum wurde teilweise mit tiefer moralischer Entrüstung widersprochen. Wie kann einer nur derart Unmenschliches verteidigen? Hier geben wir unserem Autor die Gelegenheit, auf die einzelnen Vorwürfe zu reagieren.

Im folgenden Beitrag möchte ich auf einige Punkte der Kommentare der Herren Stalder, Joss und Dettwiler in Sachen Selektion eingehen und dann insbesondere einen interessanten Punkt aufgreifen, den Herr Dettwiler anführt: die Normierung.

Felix Schmutz, Baselland: Es geht um Messbarkeit.

Die Selektion

Herr Dettwiler entgegnet mir, dass er die Verhältnisse in BS, wo ich 38 Jahre unterrichtet habe, nicht kennt. Herr Stalder verweist auf die Statistiken der Kantone und moniert die erheblichen Unterschiede bei den Selektionsentscheiden.

Tatsächlich ist es wegen der Schulhoheit der Kantone so, dass sich die Bildungssysteme stark unterscheiden. Das verwundert nicht, denn die Gesetzgeber und die Behörden der einzelnen Kantone haben das Schulwesen seit vielen Jahren nach ihren Vorstellungen und den politischen Mehrheitsentscheiden geformt und umgeformt.

Ist es nicht vermessen, wenn Herr Stalder mit anderen Bildungsfachleuten nun fordert, dass seine Vorstellung von Schule für alle anderen ebenfalls zu gelten hat? Nach dem Motto: Ich kenne meine Welt, die aus einigen Quadratkilometern besteht, und bin überzeugt, dass die Welt ausserhalb genau gleich ist, also die genau gleichen Lösungen für die ganze Welt richtig sind?

So wird das Beispiel der krachend gescheiterten Reformschule in Basel von 1994 – 2012 beiseite gewischt, mit dem Argument: «Kenne ich nicht, müsste mich einlesen. Die Lehrer(innen) hatten wohl nicht die richtige Ausbildung oder verfielen in alte Muster.» Mit solcher Einschätzung diffamiert man 2000 Lehrpersonen, die diese Reform umsetzten. Mit andern Worten: Ich bin im Besitz der allgemeingültigen Wahrheit, ich weiss, wie es geht, deshalb interessiert mich wenig, was ausserhalb meiner Welt geschieht oder geschehen ist.

Resultat: Wenn um 1980 bereits über 40% eines Jahrgangs ins Gymnasium wechselten, so waren es nach der Reform von 1994 schon 1999 wieder 40%, die im 8. Schuljahr ins Gymnasium eintraten. Die ganze Orientierung war wohl für die Katz.

Tatsächlich hat Basel von der Selektion im 4. Schuljahr auf die Selektion Ende 7. Schuljahr umgestellt, weil das 4. Schuljahr als viel zu früh angesehen wurde. So hat der Schreibende die Primarschule von 1958 bis 1962 besucht und anschliessend das Gymnasium von 1962 bis 1970. Die Selektion sollte mit der flächendeckenden Reform durch eine dreijährige Orientierungsschule besser werden. Resultat: Wenn um 1980 bereits über 40% eines Jahrgangs ins Gymnasium wechselten, so waren es nach der Reform von 1994 schon 1999 wieder 40%, die im 8. Schuljahr ins Gymnasium eintraten. Die ganze Orientierung war wohl für die Katz.

Der Grund lag nicht in der Selektion an sich, sondern in der Art und Weise, wie in Basel Selektion seit je gehandhabt wird. In Basel gibt es nur Prüfungen für Kinder, deren Eltern mit dem Entscheid der Lehrpersonen nicht einverstanden sind. In der Reformschule waren es die Eltern, die das letzte Wort beim Übertrittsentscheid hatten. Die Selektion war also superhuman. Da bestand kein Grund zum Bettnässen, zur lebenslangen Depression oder zum vergleichbaren Schicksal von Verdingkindern, wie das nach den Kommentaren auf Condorcet offenbar in anderen Kantonen üblich war.

Diese Fehlzuweisungen im 8. Schuljahr hatten eine Kaskade von Auswirkungen: Zu hohe Maturabschlussquoten führten zu Studienabbrüchen.

Die Kehrseite dieser humanen Selektion. Nach wissenschaftlichen Zahlen der Psychologie können ca. 15 – 25 % der Bevölkerung die gymnasialen Anforderungen in Grammatik, Mathematik, Physik, Fremdsprachen im geforderten Tempo und der nötigen Tiefe leisten, damit sie anschliessend ein Unistudium absolvieren können. Bei 40% sitzen also viele Jugendliche in Gymnasialklassen, die überfordert sind. Achtung: Gefahr des Bettnässens und der Depression wird akut!

Diese Fehlzuweisungen im 8. Schuljahr hatten eine Kaskade von Auswirkungen: Zu hohe Maturabschlussquoten führten zu Studienabbrüchen. Basler Maturanden mussten an der ETH jeweils ein Jahr Stoff nachbüffeln, bevor sie ins Studium einsteigen konnten. Abgänger der nichtgymnasialen Sekundarstufe mussten scharenweise ihre Lehren abbrechen, weil sie schulisch zu wenig konnten, deshalb ihre Fähigkeiten überschätzten und die Lehrbetriebe ihnen die Jugendlichen aus BL und SO vorzogen. Die Schuld gab man den Lehrpersonen der Reformschulen, obwohl diese über 400 Stunden Ausbildung gehabt hatten und die Schulleitungen fast despotisch darauf achteten, dass die Segnungen der modernen Pädagogik auch eingehalten wurden.

Die Frage sei erlaubt: Wann im Leben ist es am humansten, zu erfahren, wo die eigenen Fähigkeiten und wo die eigenen Grenzen liegen? Diese Erfahrung kommt bei jedem Menschen, in allen Kantonen, auch im Kanton Bern, auch in Spreitenbach (AG).

Was BS also seit Jahren in unterschiedlichen Systemen praktiziert, ist eigentlich keine echte, konsequente Selektion, sondern eine sehr humane Form von: Jeder soll es einmal im anspruchsvollen Niveau ausprobieren dürfen. Solange bis klar wird, dass er oder sie nicht mitkommt. Die Frage sei erlaubt: Wann im Leben ist es am humansten, zu erfahren, wo die eigenen Fähigkeiten und wo die eigenen Grenzen liegen? Diese Erfahrung kommt bei jedem Menschen, in allen Kantonen, auch im Kanton Bern, auch in Spreitenbach (AG). Wann ist der beste Zeitpunkt? Möglichst spät (im echten Leben: Lehre, Uni oder Beruf) oder doch im Jugendalter? Und wie verkrafte ich Enttäuschungen ohne Depression und Bettnässen und das traurige Schicksal eines Verdingkindes?

Normierung

Im Kommentar von Herrn Dettwiler stosse ich auf einen interessanten Punkt. Er prangert die Normierung an, die der Selektion zugrunde liegt. Er hat sicher Recht, wenn er damit die traditionelle Schule charakterisiert. Das muss näher ausgeführt werden.

Die traditionelle Schule, auch die harmonisierte Schule seit 2006 und die Schule mit den Kompetenzlehrplänen, beruht auf folgendem Prinzip: Die Norm, nach der sich Schule ausrichtet, wird von den Wissenschaften vorgegeben. Die Gesetze der Mathematik (Rechnungsverfahren, geometrische Figuren, algebraische Gleichungen, Prozentrechnung, etc.) sind erforscht und stehen fest. Der Unterricht richtet sich didaktisch nach diesen Gesetzen aus. Die Kinder und Jugendlichen müssen sich diese Gesetze oder Normen aneignen, denn von Natur aus bringen sie diese Kenntnisse nicht mit. Dasselbe gilt natürlich für die Rechtschreibung, die Physik, die Biologie, die Geschichte, etc.

Was von der Schule bisher erwartet wurde, war die Anpassungsleistung der Schüler(innen), diese wissenschaftlich definierten Normen zu lernen und anzuwenden. Unterricht war eine Kompensation: Nicht Gekanntes sollte mit im Unterricht erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten kompensiert werden. Universitäten, Lehrbetriebe erwarten von der Schule, diese kompensatorische Aufgabe zu erfüllen. Überprüft wird dieser in Lehrplänen definierte, angestrebte und kanonisierte Bildungsstand mit kantonalen und überkantonalen Vergleichstests (Stellwerk in der Ostschweiz), mit PISA in den OECD-Ländern.

Dass Kinder hier auch überfahren, unmenschlich gefühllos behandelt wurden, wenn Lehrpersonen sich psychologisch falsch verhielten oder das System die Kinder überfuhr, soll in keiner Weise abgestritten werden.

Die traditionelle Schule versuchte, die Jugendlichen nach Fähigkeiten in Gruppen einzuteilen, um sie ihren Möglichkeiten gemäss an diesen Bildungsstand heranzuführen: Realschule, Sekundarschule, Sonder- und Kleinklassen, Gymnasien.

Was die Herren Dettwiler, Stalder, Joss und viele andere nun aber wollen, ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel, da diese Anlehnung an eine Norm zwangsweise in die Persönlichkeit des Kindes eingreift, indem es das Kind mit kognitiven Anforderungen, neuen Perspektiven, Schwierigkeiten und auch Enttäuschungen konfrontiert, mit denen es fertig werden muss. Sie haben Recht, auf diese Probleme hinzuweisen. Dass Kinder hier auch überfahren, unmenschlich gefühllos behandelt wurden, wenn Lehrpersonen sich psychologisch falsch verhielten oder das System die Kinder überfuhr, soll in keiner Weise abgestritten werden.

Wenn die Norm nicht mehr fachlich vorgegeben wird, bildet das Kind die Norm

Was den Herren als Alternative vorschwebt, um Kindern die Härte der Normierung zu ersparen, ist eine Schule, die ihren Unterricht nicht nach den fachlichen Gesetzen ausrichtet, d.h. keinen Bildungsstand als Norm vorgibt, sondern umgekehrt den Bildungsstand an den Jugendlichen ausrichtet. Die Norm ist nicht mehr fachlich vorgegeben, sondern das Kind bildet die Norm, wonach sich das schulische Programm zu richten hat. Diese Befreiung von einer Fremdnorm führt zum Paradigma der emanzipatorischen Schule. Kinder und Jugendliche arbeiten nach wie vor an schulischen Stoffen, aber ein Bildungsstand wird nicht mehr als obligatorisch zu erreichendes Ziel vorgegeben. Deshalb machen auch Noten keinen Sinn mehr.

Das hat natürlich Folgen für die abnehmenden Institutionen: Lehrbetriebe und Universitäten können nicht mehr Aufnahmebedingungen definieren. Hürden müssen beseitigt werden, individuelle Bedingungen für die unterschiedlichen Kenntnisse und Fähigkeiten geschaffen werden. Sonst verlagern sich Bettnässen und Depressionen auf die 16 bis 20-Jährigen.

Letztlich zielt die emanzipatorische Schule auf eine neue Gesellschaft, die alle Hürden beseitigt und – vielleicht in Zukunft mit digitalen Hilfsmitteln und künstlicher Intelligenz– uns die Mühe von Anpassungsleistungen erspart, so dass allen alle Wege offenstehen. Mit anderen Worten: Ein objektiver Bildungsstand wird vereinbar mit der individuell begrenzten Leistungsmöglichkeit. Brave new world!

 

 

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5 Kommentare

  1. Kürzlich in einem Vortrag fiel das Wort “Diesseitsreligion”. Im Zusammenhang mit der ganzen woken Entwicklung der letzten Jahre trifft dieser Begriff m. E. den Nagel auf den Kopf. Es geht um die selbstproklamierte Ernennung zum Gutmenschen bei Befolgung all der modernen Trends, Dos und Don’ts. Dann kann man aus sicherer Warte getrost (hinter vorgehaltener Hand) auf die anderen zeigen und sich vor allem doch für ach so entwickelt halten. Schön.

  2. Lieber Felix Schmutz,
    wenn wir davon ausgehen, dass jedes Kind einzigartig ist, aber sich die Kinder in den verschiedenen Kantonen oder Gemeinden nicht so stark unterscheiden, dass dies die erheblichen Unterschiede in der Anzahl der Klassen mit Grundansprüchen erklären könnte – wie z.B. im Kanton Luzern mit nur 16%, im Wallis mit 44% und im Kanton Bern mit 34% –, dann erwarte ich von einer erfahrenen Lehrperson eine pädagogische Erklärung für diese Diskrepanz. Die Schulhoheit der Kantone allein reicht hier nicht aus. Wären diese Unterschiede folgenlos für die Kinder, könnte man sie vielleicht übersehen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Schülerinnen und Schüler mit „nur Grundanforderungen“ werden stigmatisiert und haben schlechtere Chancen auf weiterführende Schulen oder anspruchsvollere Lehrstellen.
    Stellen Sie sich vor, Sie sind zwölf Jahre alt – voller Träume und Tatendrang – und Ihre Lehrperson sagt Ihnen: „Für dich reicht es leider nur für die Grundanforderungen.“ Wie würden Sie sich fühlen? Jedes Jahr erleben tausende Kinder in unserem Bildungssystem genau das – mit gravierenden Folgen.
    Die Etiketten „nur Grundanforderungen“ mögen neutral klingen, doch für Kinder bedeuten sie oft: „Ich bin dumm. Ich habe versagt. Ich kann nichts.“ Dieses Gefühl untergräbt ihr Selbstwertgefühl und raubt ihnen die Motivation. Oft wird versucht, dies zu relativieren: „Aber das macht ja nichts. Wenn du dich anstrengst, kannst du aufsteigen. Und auch mit den Grundanforderungen stehen dir alle beruflichen Wege offen – unser System ist durchlässig.“ Doch diese Aussage hält nur, wenn die Eltern die Kinder unterstützen können oder die finanziellen Mittel haben, sie in eine Privatschule zu schicken. Viele Kinder ziehen sich zurück; manche geben ganz auf. Selbst jene wenigen, die es später schaffen, aufzusteigen oder beruflich erfolgreich zu sein, tragen oft eine seelische Narbe davon – eine Narbe, die sie ein Leben lang begleitet.
    Das System ist nicht nur hart – es ist auch unzuverlässig. Nur etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler werden tatsächlich korrekt eingeteilt; bei allen anderen entscheiden Faktoren wie Wohnort, Elternhaus, Klassenzusammensetzung oder die Lehrperson über ihre Zukunftschancen. Diese willkürliche Etikettierung ist nicht nur ungerecht – sie ist auch pädagogisch falsch.
    Zum Glück gibt es innovative Schulen wie in Spreitenbach oder Knonau, die zeigen, dass es auch anders geht. Ansätze wie das Churer Modell oder Mosaik-Sekundarschulen setzen auf individuelle Förderung statt auf starre Selektion – mit Erfolg! Ein Schulleiter einer solchen Schule in Bern erzählte mir sogar, dass er trotz Lehrpersonenmangels keine Schwierigkeiten hat, motivierte Lehrkräfte zu finden. Das zeigt: Es gibt engagierte Lehrpersonen, die bereit sind, neue Wege zu gehen – nicht aus Ideologie, sondern aus Überzeugung.
    Selektion ist kein pädagogisches Prinzip – sie stammt aus einer Zeit, als Bildung dazu diente, gesellschaftliche Stände zu bewahren. Doch wir leben im 21. Jahrhundert! Unsere Kinder sind keine Erbsen, die man aussortieren kann nach dem Motto „Das Gute ins Kröpfchen, das Schlechte ins Töpfchen“. Sie verdienen ein Bildungssystem, das sie fördert statt sie auszusortieren.

    1. Ihr Verständnis und Ihre Kinderliebe in Ehren. Wohl jede Person, die an der Volksschule unterrichtet, will Kinder und Jugendliche fördern und sie nicht “etikettieren” und “stigmatisieren”, sie pädagogisch ungerecht behandeln. Was Sie tun, ist genau das, was Sie anprangern: Sie verallgemeinern, indem Sie die Lehrpersonen als unfähige Monster stigmatisieren und etikettieren. Sie leisten sich unglaubliche und berufsschädigende Unterstellungen. Sie malen ein Bild von Schule, das in keiner Weise gerechtfertigt ist. Warum? 1. Die Struktur wird in Ihrer Argumentation überbewertet: Ob drei- oder viergliedrige Sekundarstufe oder Gesamtschule. In jedem System können Sie etikettieren und stigmatisieren. Die Frage ist, wie Sie mit den unterschiedlichen Leistungsvermögen umgehen. Irgendeine Art von Sonderbetreuung haben Sie in jedem System. 2. Sie entwerfen von Jugendlichen ein unrealistisches Menschenbild von zarten Pflänzchen, die in der ersten Frostnacht eingehen. Würden Sie mit Jugendlichen arbeiten, wüssten Sie, was Mobbing und Stigmatisierung heisst. Jugendliche merken sehr wohl, wer von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Sie hören dann Sprüche wie: “Der M. hat gar nichts in der Birne.” Sie vergessen, dass Klassenzimmer ein soziales Gefüge darstellen. Da gibt es unten und oben, und das ist oft viel schlimmer als eine schlechte Note. 3. Es ist eine Tatsache, dass es nicht nur Begabungsunterschiede, sondern auch Unterschiede in der – wie die Psychologen sagen – Anstrengungsbereitschaft gibt. Das war zur Zeit der Schulreform in Basel in jedem Evaluationsbericht zu lesen: Die Anstrengungsbereitschaft sinke bei allen – auch bei den Begabten – und verhindere bessere Leistungen. 4. Die Motivation, die Begabung und die Leistungsbereitschaft entscheiden über den Schulerfolg und die Berufsaussichten. Da ist die Frage: An welchem Punkt stellen Sie die Weichen? Eher früher, eher später? Meine Erfahrung: Am bittersten war es immer, wenn Jugendlichen vorgegaukelt wurde, sie könnten alles erreichen, und sie dann mit 16 oder 17 merkten: “Hoppla, ich erfülle die Voraussetzungen ja überhaupt nicht.” Viel wichtiger wäre es, sich ein realistisches Selbstbild anzueignen, das erfolgversprechende Aussichten hat. Die Möglichkeiten, via Brückenangebote, Berufsmatur, Fachhochschule, Passerelle, höhere Fachschule etc. aufzusteigen, sind intakt und werden von vielen ergriffen. Die diesbezüglichen Kurse haben grossen Zulauf von Jungen, die halt erst später den Knopf aufmachen oder sich neue Ziele setzen. Dass dies ohne Privatschule und reiche Eltern möglich ist, kann ich mit vielen Beispielen belegen. Hier malen Sie einfach zu schwarz, weil Sie im missionarischen Eifer die Realitätsebene verlassen.

      1. Lieber Herr Schmutz
        Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung. Es ist mir bewusst, dass unsere Weltbilder zu unterschiedlich sind, um Ihrer Argumentation folgen zu können.
        Ich teile Ihre Ansicht, dass die Selektion einen Platz in unserem Bildungssystem hat. Allerdings bin ich überzeugt, dass sie erst am Ende der Volksschule stattfinden sollte und von den weiterführenden Schulen oder Lehrbetrieben durchgeführt werden müsste. Diese wissen am besten, welche Kompetenzen und Kenntnisse für ihre Anforderungen entscheidend sind.
        In der Volksschule übernehmen die Lehrpersonen derzeit mehrere Rollen: Sie bestimmen, welche Inhalte für die Selektion relevant sind, überprüfen den Lernstoff und sind zu einem guten Teil auch verantwortlich was die Schülerinnen und Schüler tatsächlich lernen. Damit vereinen sie die Aufgaben von Trainer, Regelbehörde und Richter in einer Person. Die Volksschule soll unsere Kinder jedoch auch auf die Demokratie vorbereiten – und in einer Demokratie ist es selbstverständlich, dass Legislative, Exekutive und Judikative getrennt sind.
        Die Volksschule ist das Herzstück unserer Gesellschaft. Nur wenn sie gerecht gestaltet ist, kann auch unsere Gesellschaft gerecht sein. Glücklicherweise gibt es bereits viele Schulen, Schulleitungen und Lehrpersonen, die das, was Sie als Utopie betrachten, erfolgreich in die Realität umgesetzt haben – und es werden immer mehr.
        Ich danke Ihnen für die anregenden Diskussionen. Sie haben mir geholfen, meine Argumente für eine gerechte Volksschule weiter zu schärfen.
        Freundliche Grüsse
        Hanspeter Stalder

        1. Sehr geehrter Herr Stalder, diese wohlwollenden Zeilen kann ich zurückgeben. Auch Ihre Überlegungen haben einiges für sich und fordern auch uns, über Gewissheiten nachzudenken. Sie haben mit Ihrem Text einen – meiner Meinung nach – hochstehenden Diskurs ausgelöst, der zwar hart in der Sache, aber immer respektvoll geführt wurde. Ihr Beitrag macht unserem Blog, der sich als Diskursblog sieht, alle Ehre.

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