Im folgenden Beitrag möchte ich auf einige Punkte der Kommentare der Herren Stalder, Joss und Dettwiler in Sachen Selektion eingehen und dann insbesondere einen interessanten Punkt aufgreifen, den Herr Dettwiler anführt: die Normierung.

Die Selektion
Herr Dettwiler entgegnet mir, dass er die Verhältnisse in BS, wo ich 38 Jahre unterrichtet habe, nicht kennt. Herr Stalder verweist auf die Statistiken der Kantone und moniert die erheblichen Unterschiede bei den Selektionsentscheiden.
Tatsächlich ist es wegen der Schulhoheit der Kantone so, dass sich die Bildungssysteme stark unterscheiden. Das verwundert nicht, denn die Gesetzgeber und die Behörden der einzelnen Kantone haben das Schulwesen seit vielen Jahren nach ihren Vorstellungen und den politischen Mehrheitsentscheiden geformt und umgeformt.
Ist es nicht vermessen, wenn Herr Stalder mit anderen Bildungsfachleuten nun fordert, dass seine Vorstellung von Schule für alle anderen ebenfalls zu gelten hat? Nach dem Motto: Ich kenne meine Welt, die aus einigen Quadratkilometern besteht, und bin überzeugt, dass die Welt ausserhalb genau gleich ist, also die genau gleichen Lösungen für die ganze Welt richtig sind?
So wird das Beispiel der krachend gescheiterten Reformschule in Basel von 1994 – 2012 beiseite gewischt, mit dem Argument: «Kenne ich nicht, müsste mich einlesen. Die Lehrer(innen) hatten wohl nicht die richtige Ausbildung oder verfielen in alte Muster.» Mit solcher Einschätzung diffamiert man 2000 Lehrpersonen, die diese Reform umsetzten. Mit andern Worten: Ich bin im Besitz der allgemeingültigen Wahrheit, ich weiss, wie es geht, deshalb interessiert mich wenig, was ausserhalb meiner Welt geschieht oder geschehen ist.
Resultat: Wenn um 1980 bereits über 40% eines Jahrgangs ins Gymnasium wechselten, so waren es nach der Reform von 1994 schon 1999 wieder 40%, die im 8. Schuljahr ins Gymnasium eintraten. Die ganze Orientierung war wohl für die Katz.
Tatsächlich hat Basel von der Selektion im 4. Schuljahr auf die Selektion Ende 7. Schuljahr umgestellt, weil das 4. Schuljahr als viel zu früh angesehen wurde. So hat der Schreibende die Primarschule von 1958 bis 1962 besucht und anschliessend das Gymnasium von 1962 bis 1970. Die Selektion sollte mit der flächendeckenden Reform durch eine dreijährige Orientierungsschule besser werden. Resultat: Wenn um 1980 bereits über 40% eines Jahrgangs ins Gymnasium wechselten, so waren es nach der Reform von 1994 schon 1999 wieder 40%, die im 8. Schuljahr ins Gymnasium eintraten. Die ganze Orientierung war wohl für die Katz.
Der Grund lag nicht in der Selektion an sich, sondern in der Art und Weise, wie in Basel Selektion seit je gehandhabt wird. In Basel gibt es nur Prüfungen für Kinder, deren Eltern mit dem Entscheid der Lehrpersonen nicht einverstanden sind. In der Reformschule waren es die Eltern, die das letzte Wort beim Übertrittsentscheid hatten. Die Selektion war also superhuman. Da bestand kein Grund zum Bettnässen, zur lebenslangen Depression oder zum vergleichbaren Schicksal von Verdingkindern, wie das nach den Kommentaren auf Condorcet offenbar in anderen Kantonen üblich war.

Die Kehrseite dieser humanen Selektion. Nach wissenschaftlichen Zahlen der Psychologie können ca. 15 – 25 % der Bevölkerung die gymnasialen Anforderungen in Grammatik, Mathematik, Physik, Fremdsprachen im geforderten Tempo und der nötigen Tiefe leisten, damit sie anschliessend ein Unistudium absolvieren können. Bei 40% sitzen also viele Jugendliche in Gymnasialklassen, die überfordert sind. Achtung: Gefahr des Bettnässens und der Depression wird akut!
Diese Fehlzuweisungen im 8. Schuljahr hatten eine Kaskade von Auswirkungen: Zu hohe Maturabschlussquoten führten zu Studienabbrüchen. Basler Maturanden mussten an der ETH jeweils ein Jahr Stoff nachbüffeln, bevor sie ins Studium einsteigen konnten. Abgänger der nichtgymnasialen Sekundarstufe mussten scharenweise ihre Lehren abbrechen, weil sie schulisch zu wenig konnten, deshalb ihre Fähigkeiten überschätzten und die Lehrbetriebe ihnen die Jugendlichen aus BL und SO vorzogen. Die Schuld gab man den Lehrpersonen der Reformschulen, obwohl diese über 400 Stunden Ausbildung gehabt hatten und die Schulleitungen fast despotisch darauf achteten, dass die Segnungen der modernen Pädagogik auch eingehalten wurden.
Die Frage sei erlaubt: Wann im Leben ist es am humansten, zu erfahren, wo die eigenen Fähigkeiten und wo die eigenen Grenzen liegen? Diese Erfahrung kommt bei jedem Menschen, in allen Kantonen, auch im Kanton Bern, auch in Spreitenbach (AG).
Was BS also seit Jahren in unterschiedlichen Systemen praktiziert, ist eigentlich keine echte, konsequente Selektion, sondern eine sehr humane Form von: Jeder soll es einmal im anspruchsvollen Niveau ausprobieren dürfen. Solange bis klar wird, dass er oder sie nicht mitkommt. Die Frage sei erlaubt: Wann im Leben ist es am humansten, zu erfahren, wo die eigenen Fähigkeiten und wo die eigenen Grenzen liegen? Diese Erfahrung kommt bei jedem Menschen, in allen Kantonen, auch im Kanton Bern, auch in Spreitenbach (AG). Wann ist der beste Zeitpunkt? Möglichst spät (im echten Leben: Lehre, Uni oder Beruf) oder doch im Jugendalter? Und wie verkrafte ich Enttäuschungen ohne Depression und Bettnässen und das traurige Schicksal eines Verdingkindes?
Normierung
Im Kommentar von Herrn Dettwiler stosse ich auf einen interessanten Punkt. Er prangert die Normierung an, die der Selektion zugrunde liegt. Er hat sicher Recht, wenn er damit die traditionelle Schule charakterisiert. Das muss näher ausgeführt werden.
Die traditionelle Schule, auch die harmonisierte Schule seit 2006 und die Schule mit den Kompetenzlehrplänen, beruht auf folgendem Prinzip: Die Norm, nach der sich Schule ausrichtet, wird von den Wissenschaften vorgegeben. Die Gesetze der Mathematik (Rechnungsverfahren, geometrische Figuren, algebraische Gleichungen, Prozentrechnung, etc.) sind erforscht und stehen fest. Der Unterricht richtet sich didaktisch nach diesen Gesetzen aus. Die Kinder und Jugendlichen müssen sich diese Gesetze oder Normen aneignen, denn von Natur aus bringen sie diese Kenntnisse nicht mit. Dasselbe gilt natürlich für die Rechtschreibung, die Physik, die Biologie, die Geschichte, etc.
Was von der Schule bisher erwartet wurde, war die Anpassungsleistung der Schüler(innen), diese wissenschaftlich definierten Normen zu lernen und anzuwenden. Unterricht war eine Kompensation: Nicht Gekanntes sollte mit im Unterricht erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten kompensiert werden. Universitäten, Lehrbetriebe erwarten von der Schule, diese kompensatorische Aufgabe zu erfüllen. Überprüft wird dieser in Lehrplänen definierte, angestrebte und kanonisierte Bildungsstand mit kantonalen und überkantonalen Vergleichstests (Stellwerk in der Ostschweiz), mit PISA in den OECD-Ländern.
Dass Kinder hier auch überfahren, unmenschlich gefühllos behandelt wurden, wenn Lehrpersonen sich psychologisch falsch verhielten oder das System die Kinder überfuhr, soll in keiner Weise abgestritten werden.
Die traditionelle Schule versuchte, die Jugendlichen nach Fähigkeiten in Gruppen einzuteilen, um sie ihren Möglichkeiten gemäss an diesen Bildungsstand heranzuführen: Realschule, Sekundarschule, Sonder- und Kleinklassen, Gymnasien.
Was die Herren Dettwiler, Stalder, Joss und viele andere nun aber wollen, ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel, da diese Anlehnung an eine Norm zwangsweise in die Persönlichkeit des Kindes eingreift, indem es das Kind mit kognitiven Anforderungen, neuen Perspektiven, Schwierigkeiten und auch Enttäuschungen konfrontiert, mit denen es fertig werden muss. Sie haben Recht, auf diese Probleme hinzuweisen. Dass Kinder hier auch überfahren, unmenschlich gefühllos behandelt wurden, wenn Lehrpersonen sich psychologisch falsch verhielten oder das System die Kinder überfuhr, soll in keiner Weise abgestritten werden.

Was den Herren als Alternative vorschwebt, um Kindern die Härte der Normierung zu ersparen, ist eine Schule, die ihren Unterricht nicht nach den fachlichen Gesetzen ausrichtet, d.h. keinen Bildungsstand als Norm vorgibt, sondern umgekehrt den Bildungsstand an den Jugendlichen ausrichtet. Die Norm ist nicht mehr fachlich vorgegeben, sondern das Kind bildet die Norm, wonach sich das schulische Programm zu richten hat. Diese Befreiung von einer Fremdnorm führt zum Paradigma der emanzipatorischen Schule. Kinder und Jugendliche arbeiten nach wie vor an schulischen Stoffen, aber ein Bildungsstand wird nicht mehr als obligatorisch zu erreichendes Ziel vorgegeben. Deshalb machen auch Noten keinen Sinn mehr.
Das hat natürlich Folgen für die abnehmenden Institutionen: Lehrbetriebe und Universitäten können nicht mehr Aufnahmebedingungen definieren. Hürden müssen beseitigt werden, individuelle Bedingungen für die unterschiedlichen Kenntnisse und Fähigkeiten geschaffen werden. Sonst verlagern sich Bettnässen und Depressionen auf die 16 bis 20-Jährigen.
Letztlich zielt die emanzipatorische Schule auf eine neue Gesellschaft, die alle Hürden beseitigt und – vielleicht in Zukunft mit digitalen Hilfsmitteln und künstlicher Intelligenz– uns die Mühe von Anpassungsleistungen erspart, so dass allen alle Wege offenstehen. Mit anderen Worten: Ein objektiver Bildungsstand wird vereinbar mit der individuell begrenzten Leistungsmöglichkeit. Brave new world!
Kürzlich in einem Vortrag fiel das Wort “Diesseitsreligion”. Im Zusammenhang mit der ganzen woken Entwicklung der letzten Jahre trifft dieser Begriff m. E. den Nagel auf den Kopf. Es geht um die selbstproklamierte Ernennung zum Gutmenschen bei Befolgung all der modernen Trends, Dos und Don’ts. Dann kann man aus sicherer Warte getrost (hinter vorgehaltener Hand) auf die anderen zeigen und sich vor allem doch für ach so entwickelt halten. Schön.
Lieber Felix Schmutz,
wenn wir davon ausgehen, dass jedes Kind einzigartig ist, aber sich die Kinder in den verschiedenen Kantonen oder Gemeinden nicht so stark unterscheiden, dass dies die erheblichen Unterschiede in der Anzahl der Klassen mit Grundansprüchen erklären könnte – wie z.B. im Kanton Luzern mit nur 16%, im Wallis mit 44% und im Kanton Bern mit 34% –, dann erwarte ich von einer erfahrenen Lehrperson eine pädagogische Erklärung für diese Diskrepanz. Die Schulhoheit der Kantone allein reicht hier nicht aus. Wären diese Unterschiede folgenlos für die Kinder, könnte man sie vielleicht übersehen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Schülerinnen und Schüler mit „nur Grundanforderungen“ werden stigmatisiert und haben schlechtere Chancen auf weiterführende Schulen oder anspruchsvollere Lehrstellen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind zwölf Jahre alt – voller Träume und Tatendrang – und Ihre Lehrperson sagt Ihnen: „Für dich reicht es leider nur für die Grundanforderungen.“ Wie würden Sie sich fühlen? Jedes Jahr erleben tausende Kinder in unserem Bildungssystem genau das – mit gravierenden Folgen.
Die Etiketten „nur Grundanforderungen“ mögen neutral klingen, doch für Kinder bedeuten sie oft: „Ich bin dumm. Ich habe versagt. Ich kann nichts.“ Dieses Gefühl untergräbt ihr Selbstwertgefühl und raubt ihnen die Motivation. Oft wird versucht, dies zu relativieren: „Aber das macht ja nichts. Wenn du dich anstrengst, kannst du aufsteigen. Und auch mit den Grundanforderungen stehen dir alle beruflichen Wege offen – unser System ist durchlässig.“ Doch diese Aussage hält nur, wenn die Eltern die Kinder unterstützen können oder die finanziellen Mittel haben, sie in eine Privatschule zu schicken. Viele Kinder ziehen sich zurück; manche geben ganz auf. Selbst jene wenigen, die es später schaffen, aufzusteigen oder beruflich erfolgreich zu sein, tragen oft eine seelische Narbe davon – eine Narbe, die sie ein Leben lang begleitet.
Das System ist nicht nur hart – es ist auch unzuverlässig. Nur etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler werden tatsächlich korrekt eingeteilt; bei allen anderen entscheiden Faktoren wie Wohnort, Elternhaus, Klassenzusammensetzung oder die Lehrperson über ihre Zukunftschancen. Diese willkürliche Etikettierung ist nicht nur ungerecht – sie ist auch pädagogisch falsch.
Zum Glück gibt es innovative Schulen wie in Spreitenbach oder Knonau, die zeigen, dass es auch anders geht. Ansätze wie das Churer Modell oder Mosaik-Sekundarschulen setzen auf individuelle Förderung statt auf starre Selektion – mit Erfolg! Ein Schulleiter einer solchen Schule in Bern erzählte mir sogar, dass er trotz Lehrpersonenmangels keine Schwierigkeiten hat, motivierte Lehrkräfte zu finden. Das zeigt: Es gibt engagierte Lehrpersonen, die bereit sind, neue Wege zu gehen – nicht aus Ideologie, sondern aus Überzeugung.
Selektion ist kein pädagogisches Prinzip – sie stammt aus einer Zeit, als Bildung dazu diente, gesellschaftliche Stände zu bewahren. Doch wir leben im 21. Jahrhundert! Unsere Kinder sind keine Erbsen, die man aussortieren kann nach dem Motto „Das Gute ins Kröpfchen, das Schlechte ins Töpfchen“. Sie verdienen ein Bildungssystem, das sie fördert statt sie auszusortieren.
Ihr Verständnis und Ihre Kinderliebe in Ehren. Wohl jede Person, die an der Volksschule unterrichtet, will Kinder und Jugendliche fördern und sie nicht “etikettieren” und “stigmatisieren”, sie pädagogisch ungerecht behandeln. Was Sie tun, ist genau das, was Sie anprangern: Sie verallgemeinern, indem Sie die Lehrpersonen als unfähige Monster stigmatisieren und etikettieren. Sie leisten sich unglaubliche und berufsschädigende Unterstellungen. Sie malen ein Bild von Schule, das in keiner Weise gerechtfertigt ist. Warum? 1. Die Struktur wird in Ihrer Argumentation überbewertet: Ob drei- oder viergliedrige Sekundarstufe oder Gesamtschule. In jedem System können Sie etikettieren und stigmatisieren. Die Frage ist, wie Sie mit den unterschiedlichen Leistungsvermögen umgehen. Irgendeine Art von Sonderbetreuung haben Sie in jedem System. 2. Sie entwerfen von Jugendlichen ein unrealistisches Menschenbild von zarten Pflänzchen, die in der ersten Frostnacht eingehen. Würden Sie mit Jugendlichen arbeiten, wüssten Sie, was Mobbing und Stigmatisierung heisst. Jugendliche merken sehr wohl, wer von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Sie hören dann Sprüche wie: “Der M. hat gar nichts in der Birne.” Sie vergessen, dass Klassenzimmer ein soziales Gefüge darstellen. Da gibt es unten und oben, und das ist oft viel schlimmer als eine schlechte Note. 3. Es ist eine Tatsache, dass es nicht nur Begabungsunterschiede, sondern auch Unterschiede in der – wie die Psychologen sagen – Anstrengungsbereitschaft gibt. Das war zur Zeit der Schulreform in Basel in jedem Evaluationsbericht zu lesen: Die Anstrengungsbereitschaft sinke bei allen – auch bei den Begabten – und verhindere bessere Leistungen. 4. Die Motivation, die Begabung und die Leistungsbereitschaft entscheiden über den Schulerfolg und die Berufsaussichten. Da ist die Frage: An welchem Punkt stellen Sie die Weichen? Eher früher, eher später? Meine Erfahrung: Am bittersten war es immer, wenn Jugendlichen vorgegaukelt wurde, sie könnten alles erreichen, und sie dann mit 16 oder 17 merkten: “Hoppla, ich erfülle die Voraussetzungen ja überhaupt nicht.” Viel wichtiger wäre es, sich ein realistisches Selbstbild anzueignen, das erfolgversprechende Aussichten hat. Die Möglichkeiten, via Brückenangebote, Berufsmatur, Fachhochschule, Passerelle, höhere Fachschule etc. aufzusteigen, sind intakt und werden von vielen ergriffen. Die diesbezüglichen Kurse haben grossen Zulauf von Jungen, die halt erst später den Knopf aufmachen oder sich neue Ziele setzen. Dass dies ohne Privatschule und reiche Eltern möglich ist, kann ich mit vielen Beispielen belegen. Hier malen Sie einfach zu schwarz, weil Sie im missionarischen Eifer die Realitätsebene verlassen.
Lieber Herr Schmutz
Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung. Es ist mir bewusst, dass unsere Weltbilder zu unterschiedlich sind, um Ihrer Argumentation folgen zu können.
Ich teile Ihre Ansicht, dass die Selektion einen Platz in unserem Bildungssystem hat. Allerdings bin ich überzeugt, dass sie erst am Ende der Volksschule stattfinden sollte und von den weiterführenden Schulen oder Lehrbetrieben durchgeführt werden müsste. Diese wissen am besten, welche Kompetenzen und Kenntnisse für ihre Anforderungen entscheidend sind.
In der Volksschule übernehmen die Lehrpersonen derzeit mehrere Rollen: Sie bestimmen, welche Inhalte für die Selektion relevant sind, überprüfen den Lernstoff und sind zu einem guten Teil auch verantwortlich was die Schülerinnen und Schüler tatsächlich lernen. Damit vereinen sie die Aufgaben von Trainer, Regelbehörde und Richter in einer Person. Die Volksschule soll unsere Kinder jedoch auch auf die Demokratie vorbereiten – und in einer Demokratie ist es selbstverständlich, dass Legislative, Exekutive und Judikative getrennt sind.
Die Volksschule ist das Herzstück unserer Gesellschaft. Nur wenn sie gerecht gestaltet ist, kann auch unsere Gesellschaft gerecht sein. Glücklicherweise gibt es bereits viele Schulen, Schulleitungen und Lehrpersonen, die das, was Sie als Utopie betrachten, erfolgreich in die Realität umgesetzt haben – und es werden immer mehr.
Ich danke Ihnen für die anregenden Diskussionen. Sie haben mir geholfen, meine Argumente für eine gerechte Volksschule weiter zu schärfen.
Freundliche Grüsse
Hanspeter Stalder
Sehr geehrter Herr Stalder, diese wohlwollenden Zeilen kann ich zurückgeben. Auch Ihre Überlegungen haben einiges für sich und fordern auch uns, über Gewissheiten nachzudenken. Sie haben mit Ihrem Text einen – meiner Meinung nach – hochstehenden Diskurs ausgelöst, der zwar hart in der Sache, aber immer respektvoll geführt wurde. Ihr Beitrag macht unserem Blog, der sich als Diskursblog sieht, alle Ehre.
Geehrter Herr Schmutz
Sie zitieren mich mehrmals direkt oder indirekt in Ihrem Kommentar. Mir ist aufgefallen, dass Sie das recht ungenau tun und meinem Kommentar eine Emotionalität zuschreiben, die er nicht hat und nicht haben soll. Ich “prangere” nirgends Normierung an, sondern weise auf eine systembedingte Normorientierung hin. Falls Sie dazu argumentieren möchten nur zu.
Wenn ich schreibe: Ich kenne die Verhältnisse in BS oder BL nicht, dann weise ich transparent auf mein Unwissen hin. Wenn ich dazu mutmasse, setze ich meine persönlichen Erfahrungen in und mit der Institution ein, fühle mich aber nicht im Besitz irgendeiner Wahrheit oder einer überlegenen Moral. Ich würde aber wünschen, dass wir Fachleute in einem respektvollen sachlichen Ton diskutieren. Sie verwenden selbst aber emotionale Zuschreibungen. Sollten Sie sich von einer Stelle in meinem Kommentar verletzt gefühlt haben, würde mir das leid tun.
Ihre Bilanz, ich würde mit meinem Kommentar über 2000 Lehpersonen beleidigen, hat mich sehr betroffen gemacht. Ich bin mir einen solchen Ton unter Fachleuten nicht gewohnt.
Nun gut, ich möchte aber auf nur den folgenden Abschnitt in Ihrem Artikel näher eingehen:
“Was den Herren als Alternative vorschwebt, um Kindern die Härte der Normierung zu ersparen, ist eine Schule, die ihren Unterricht nicht nach den fachlichen Gesetzen ausrichtet, d.h. keinen Bildungsstand als Norm vorgibt, sondern umgekehrt den Bildungsstand an den Jugendlichen ausrichtet. Die Norm ist nicht mehr fachlich vorgegeben, sondern das Kind bildet die Norm, wonach sich das schulische Programm zu richten hat. Diese Befreiung von einer Fremdnorm führt zum Paradigma der emanzipatorischen Schule. Kinder und Jugendliche arbeiten nach wie vor an schulischen Stoffen, aber ein Bildungsstand wird nicht mehr als obligatorisch zu erreichendes Ziel vorgegeben. Deshalb machen auch Noten keinen Sinn mehr.”
In diesem Abschnitt agieren Sie wieder mit mehreren Zuschreibungen oder (mutwilligen?) Interpretationen, denen ich entgegnen muss:
Mir schwebt in keiner Weise vor, was Sie mir unterstellen. Ich selber führe meinen Unterricht gezielt ausgerichtet auf sichtbare fachliche Kompetenzen, die sich an den Lehrplan halten. Die Aussagekraft über den Lernstand mittels der Aufgabenqualität haben in meinem Unterricht einen hohen Stellenwert, ebenso das Erreichen der erwarteten Basiskompetenzen für möglichst alle Schüler und Schülerinnen und dazu ein Angebot für alle erweiterten Kompetenzstufen. Die “Fremdnorm”, wie Sie das selber bezeichnen (ich würde eher von Sachnorm sprechen), ergibt sich durch die Aufgabe. Sie soll herausfordern und anregen, aber nicht überfordern. An der Aufgabe zeigt sich schliesslich die Kompetenz. Im Leben gibt es tatsächlich Normen, die Gültigkeit haben müssen, dann solche, die einem Vorteile verschaffen, wenn man sie kennt, aber das hat hiermit nichts zu tun. Vielmehr geht es darum, dass ich etwas kann und gleichzeitig weiss, was ich noch nicht kann. Erst dann kann ich auch entscheiden, was und wie ich weiter lernen soll. Das ist im Klettern so und beim Autofahren ebenfalls. Das ist so, wenn ich mich in Berlin bei einem Tourismusanbieter mit einem B2 in Französisch bewerbe oder mit meinen GTZ/IT/CAD Kenntnissen bei einem Architekturbüro. Schliesslich braucht unsere Demokratie mündige Bürger- und Bürgerinnen, die Argumente lesen und verstehen können. Mit der Normorientierung meine ich, dass es Settings gibt, die eine normative Sicht auf die Schüler- und Schülerinnen fördern und die systembedingt zu lehrpersonenzentriert ist. Man lernt für den Wertmasstab der Lehrperson und nicht für die Erringung der Sache selbst. Das Selektionssetting fördert diese Tendenz bei allen Beteiligten, also bei den Kindern, ihren Eltern und der Lehrperson. Normorientiertes Verhalten überwiegt dann vor der Sachorientierung. Sie werfen mir also so ziemlich das Gegenteil von dem vor, was ich denke und lebe. Dazu empfehle ich Ihnen übrigens das Buch “Schulkummer” von Daniel Pennac. Eine wirklich inspirierende Ferienlektüre.
Der Abschnitt endet mit “deshalb machen Noten auch keinen Sinn mehr”. Sie meinen das in Bezug auf Ihre (unzutreffende) Zuschreibung. Das Gegenteil ist meiner Meinung nach richtig. Eine Sachorientierung (wie beispielsweise das europäische Sprachportfolio) machen Noten eigentlich hinfällig. Genauso wenig macht eine Note Sinn, wenn Sie den Gipfel des Matterhorns erreicht haben. Dieser Erfolg steht für sich selber. Wenn Sie mit Ihren Kenntnissen die Stelle in Berlin erhalten haben, interessiert sich niemand mehr für ein Franznote, sondern für Ihre Kompetenzen (B2) im Umgang mit französischen Kunden. Im Architekturbüro ist eine hohe Note im Technischen- oder Bildnerischen Gestalten an ebenso hohe Erwartungen geknüpft. Besser man bewirbt sich mit einem aussagekräftigen Portfolio. DESHALB machen Noten tatächlich keinen Sinn mehr. Das ist aber eine andere Diskussion.
Ich bitte Sie jetzt nur um eines: Lesen Sie meine Antwort aufmerksam und interpretieren Sie nicht vorschnell mit Ihrem Konzept meine Aussagen. Statt mir Meinungen und Haltungen zu unterstellen, stellen Sie mir lieber Fragen. Auf sachliche Argumente gehe ich auch gerne ein.
Mit freundlichen Grüssen
Emanuel Dettwiler Reist
Lieber Herr Dettwiler
Besten Dank für die ausführliche Antwort auf meinen Artikel!
Sie haben sich grosse Mühe gegeben, Ihre Ansichten noch genauer darzustellen, mich dabei gleichzeitig moralisch zu senkeln, indem Sie mir falsche Zuschreibungen vorwerfen.
Lassen wir das Moralische (Es bessert die Argumente nicht auf!) beiseite und konzentrieren wir uns auf die Sache, wie Sie ja selbst vorschlagen.
1. Ich unterstelle Ihnen gar nichts, sondern beziehe mich auf Ihre Meinung, Selektion sei unangebracht, schädlich, ungerechtfertigt – wie auch immer. Dieser Meinung sind Sie noch immer. Ich nicht.
2. In Ihren jetzigen Ausführungen betonen Sie, dass Sie sehr wohl fachliche Kriterien auf die Arbeit Ihrer Schüler(innen) anwenden. Damit aber müssen Sie logischerweise Folgendes machen:
a) Sie müssen beurteilen, ob und wie gut Ihre Schützlinge eine Aufgabe gelöst haben.
b) Sie müssen den weiteren Unterricht für die Betreffenden darauf ausrichten.
c) Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie beurteilen die Kompetenz Ihrer Schüler(innen) anhand der gelösten Aufgaben, wobei ich Kompetenz im psychologischen Sinne von E. Weinert als Potenzial verstehe. Das würde ich mir als Nicht-Psychologen nie zutrauen, sondern eher von Wissen und Fähigkeiten sprechen, die ich anhand der gelösten Aufgaben beurteilen kann.
Mit anderen Worten: Sie beurteilen oder bewerten die Arbeit Ihrer Schüler(innen), ob mit Noten oder Blümchen oder Kommentaren sei dahingestellt. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Sie als (hoffentlich) ausgebildete Fachperson sind der Schiedsrichter und entscheiden, wer die Aufgabe wie gut gelöst hat. Das ist der Ausgangspunkt für Selektion, auch wenn Ihnen das Wort des Teufels erscheint. Wenn Sie fachliche Kenntnis (Ich vermeide Ihr Lieblingswort Kompetenz) als Richtschnur haben, beurteilen Sie die Leistung danach und ziehen daraus Konsequenzen.
3. Jetzt kommt Ihre Behauptung:
«Mit der Normorientierung meine ich, dass es Settings gibt, die eine normative Sicht auf die Schüler- und Schülerinnen fördern und die systembedingt zu lehrpersonenzentriert ist. Man lernt für den Wertmasstab der Lehrperson und nicht für die Erringung der Sache selbst. Das Selektionssetting fördert diese Tendenz bei allen Beteiligten, also bei den Kindern, ihren Eltern und der Lehrperson. Normorientiertes Verhalten überwiegt dann vor der Sachorientierung.»
Jetzt verwickeln Sie sich in einen Widerspruch. Abgesehen davon, dass diese Aussage sehr verallgemeinernd und schwammig ist, sprechen Sie Lehrpersonen plötzlich die Fähigkeit ab, neutral zu entscheiden, wie eine Aufgabe gelöst wurde. Wie können Sie behaupten, es sei systembedingt und lehrpersonenzentriert, wenn der Jugendliche die Aufgabe falsch gelöst hat? Was hat fachliche Norm (die Gesetze der Mathematik, die deutsche Grammatik, etc.) mit dem «Wertmassstab» der Lehrperson zu tun. Entweder gibt es fachliche Kompetenz unabhängig von Settings und persönlichen Wertmassstäben oder nicht. Selektion ist die Folge von fachlicher Leistung, die fachliche Leistung ist nicht Folge der Selektion!
Die zitierte Stelle zeigt klar auf, dass Sie Selektion aus ideologischen und nicht aus sachlichen Gründen ablehnen, obwohl ich sachliche Einwände gegen die Selektion selbstverständlich anerkenne: Fehlurteile der Primarschule, ein schlechter Prüfungstag, sprachlicher Rückstand aufgrund von Migration, ungünstige soziale Voraussetzungen, psychische Beeinträchtigungen, Teilleistungsschwächen, etc.
Freundliche Grüsse, Felix Schmutz
Geehrter Herr Schmutz
Sie wollten sich auf die Sache konzentrieren und Moralisches sein lassen. Ich denke nicht, dass Ihr erster Absatz, diese Prämisse einhält:
“Sie haben sich grosse Mühe gegeben, Ihre Ansichten noch genauer darzustellen…”,
Ja, das habe ich. Ich tat dies, weil Sie mich in Ihrer Antwort ungewöhnlich stark angegriffen haben (2000 LP diffamieren), nachdem sie mich ungenau bis falsch zitiert haben und mir unzutreffende Aussagen unterstellten. Das tun Sie leider in diesem Antworttext wiederum.
“mich dabei gleichzeitig moralisch zu senkeln, indem Sie mir falsche Zuschreibungen vorwerfen.”
Ja, ich werfe Ihnen nicht faktenbasierte Zuschreibungen vor und dagegen wehre ich mich. Ich bitte Sie meine Zeilen genau zu lesen. Ich denke, das haben Sie bis jetzt vermissen lassen. Bedenken Sie, dass ich Sie damit einen Blick in mein Denken und meine Arbeit werfen lasse. Das könnte eigentlich eine gute Ausgangslage für eine sachliche Diskussion sein. Wenn Sie sich aber moralisch gesenkelt fühlen ist das Ihr Problem. Ich bin keine moralische Instanz.
Deshalb gebe ich ich Ihnen auch diese rhetorische “Umarmung” zurück:
“Lassen wir das Moralische (Es bessert die Argumente nicht auf!) beiseite…”
Ich habe nirgends von “Moral” gesprochen oder eine solche herbeigezogen. Das liegt mir nämlich gar nicht. Nicht “wir” müssen also das “Moralische lassen”, sondern einzig Sie selbst.
“…und konzentrieren wir uns auf die Sache, wie Sie ja selbst vorschlagen.”
Was wir unter sachlich verstehen, geht offenbar auseinander. Vielmehr scheint es mir, dass es Ihnen weniger um die Sache geht, als um eine Art rhetorisches Duell. Dafür bin ich eigentlich weniger zu haben. Ich bemühe mich nun trotzdem möglichst sachlich auf Ihre Argumente einzugehen. Dazu aber noch diese Vorbemerkung:
Erinnern Sie sich, wie Sie mich in Ihrem Artikel abkanzeln, nichts von der Welt verstehen zu wollen: “….deshalb interessiert mich wenig, was ausserhalb meiner Welt geschieht oder geschehen ist”? Ich habe Sie mehrfach eingeladen mir Fragen zu stellen, nicht rhetorische, sondern mit der echten Neugier an Klärung. Es stellt sich mir jetzt die Frage, ob Sie an meiner Sicht und an meiner Arbeit wirklich interessiert sind und sie verstehen wollen.
Immer Ihre Prämisse “Sachlichkeit” vor Augen, lese ich zu einem meiner Abschnitte, den Sie diesmal immerhin im Wortlaut zitieren, folgendes:
“Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie beurteilen die Kompetenz Ihrer Schüler(innen) anhand der gelösten Aufgaben, wobei ich Kompetenz im psychologischen Sinne von E. Weinert als Potenzial verstehe.”
Sie dürfen natürlich den Begriff auf Ihre Weise definieren und verstehen. Ich muss ihn aber nicht nach dieser Definition verwenden. Sie haken dann gewitzt nach und ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie mich damit leicht von oben herab blossstellen wollen:
“Das würde ich mir als Nicht-Psychologen nie zutrauen, sondern eher von Wissen und Fähigkeiten sprechen, die ich anhand der gelösten Aufgaben beurteilen kann.”
Zur Begrifflichkeit: Sollten wir auf Augenhöhe diskutieren wollen, müssten wir unsere Definitionen natürlich klären. Mit einer solchen Frage zum Beispiel:
“Wie definieren Sie den Kompetenzbegriff”? Stattdessen verulken Sie ihn als meinen “Lieblingsbegriff”. Sie sehen, unsere Vorstellung von Sachlichkeit geht ziemlich auseinander.
So hätte ich die Frage beantwortet: Ich definiere “Kompetenz” ganz einfach, mit “Können”. Ich habe Sie schon in einer früheren Antwort auf die Taxonomie hingewiesen. An der Performanz kann ich und der Schüler / die Schülerin dieses Können erkennen. Je besser und aussagekräftiger die Aufgabe, desto klarer. Mit Ihrem Verständnis von “Wissen und Fähigkeiten” kann ich aber gut leben, das kommt meiner Idee an sich schon gut nahe.
Zu einem nächsten Zitat:
“Sie beurteilen oder bewerten die Arbeit Ihrer Schüler(innen), ob mit Noten oder Blümchen oder Kommentaren sei dahingestellt. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Sie als (hoffentlich) ausgebildete Fachperson sind der Schiedsrichter und entscheiden, wer die Aufgabe wie gut gelöst hat…”
Hier fällt mir das “als (hoffentlich) ausgebildeter…” auf. Sprechen Sie mir hier meine 40 jährige Erfahrung gerade ab? Sind solche Klammerbemerkungen nötig mit Blick auf Ihre Prämisse: “konzentieren wir uns auf die Sache”?
Zur restlichen Zuschreibung gibt es nur zu sagen, dass ich weder Blümchen, noch Noten benutze, auch keine Buchstabenreihenfolge. Kommentare sind lernbegleitend aber sehr wichtig, ob mündlich oder schriftlich. Ich versuche hier jedoch alles Wertende zu vermeiden. Wenn Sie etwas dazu näher interessieren sollte, fragen Sie einfach.
Erklären Sie mir aber im Gegenzug Ihre “Schiedsrichter”-Idee. Ich kenne diese Rolle in meinem Unterrichtskonzept nicht.
Als Fachperson lege ich sehr viel Wert auf lernförderliche Aufträge und Aufgaben, die aussagekräftig genug sind, um daraus möglichst eine inhaltlich abgestützte Beurteilung zu generieren, die über das Wissen und die Fähigkeiten, sprich “das momentane Können”, Auskunft gibt. Ich empfinde das besser, als wertende Skalen oder skalierte Wertungen.
Immer noch zur Prämisse “konzentieren wir uns auf die Sache” lese ich nun:
“Jetzt verwickeln Sie sich in einen Widerspruch”.
Hier behaupten Sie einen “Widerspruch”. Ich halte mich zwar nicht für unwidersprüchlich, Sie aber generieren diesen Widerspruch offenbar aus einer Interpretation meiner Aussagen. Auch hier hätten Sie einfach (gutmeinend) nachfragen können. Ich weiss immer noch nicht, welchen Widerspruch Sie eigentlich meinen. Vielleicht präzisieren Sie diesen Widerspruch noch, dann kann ich darauf eingehen.
Weiter geht es dann schon etwas harscher:
“Abgesehen davon, dass diese Aussage sehr verallgemeinernd und schwammig ist”.
Sie hätten auch formulieren können: “…, dass ich diese Aussage als verallgemeinernd und schwammig empfinde”. Das hätte ich als subjektive Wahrnehmung akzeptieren müssen. Sie bevorzugen aber offenbar einen objektivierend abwertenden Tonfall. Warum? Differenzieren Sie bitte, was “verallgemeinernd” ist, dann kann ich darauf eingehen.
“… sprechen Sie Lehrpersonen plötzlich die Fähigkeit ab, neutral zu entscheiden, wie eine Aufgabe gelöst wurde.”
Was meinen Sie mit “plötzlich”? Falls das “plötzlich” eine inhatliche Bedeutung haben sollte, bitte ich Sie um eine nähere Erklärung.
Die Fähigkeit “neutral” etwas “zu entscheiden” spreche ich auch mir grundsätzlich ab, deshalb tue ich auch viel um Subjektives zu vermeiden. Darum versuche ich aussagekräftige Aufgaben zu stellen und beurteile nach offenen nachvollziehbaren Kriterien. Diese Neutralität respektive Sachorientierung gilt es immer wieder anzustreben aber auch kritisch zu hinterfragen. Die Forschung zur Beurteilung gibt dazu genug eindeutige Hinweise.
“Wie können Sie behaupten, es sei systembedingt und lehrpersonenzentriert, wenn der Jugendliche die Aufgabe falsch gelöst hat?”
Das behaupte ich an keiner Stelle. Beides hat miteinander nichts zu tun. Bitte zitieren Sie eine solche Stelle genau, falls es sie gibt. Ich kann nicht einmal verstehen, wie Sie zu einer solchen Interpretation kommen.
Ich meine wertende Begriffe, die sich global auf Wertungen stützen, die nicht direkt inhaltlich abgebildet sind (sehr gut, gut, genügend etc.) und die deshalb keine Aussagen zu den tatsächlichen Fähigkeiten machen, sondern nur zur Einordnung dieser Leistung durch die Lehrperson. Zudem erwähne ich nur, dass diese Tendenz besteht und dass die frühe Selektion dies fördert. Hier rede ich aus über 15 jähriger Erfahrung an der Selektionsschnittstelle Prim / Sek1 des Kantons Bern.
Was hat fachliche Norm (die Gesetze der Mathematik, die deutsche Grammatik, etc.) mit dem «Wertmassstab» der Lehrperson zu tun. (?)
Das ist wohl eine rhetorische Frage. Trotzdem bemühe ich mich gerne um eine Antwort: Es gibt meines Wissens keine absoluten oder allgemeingültigen Wertmasstäbe, welches Wissen in welcher Form, in welcher Tiefe und zu welchem Zeitpunkt objektiv von den Lernenden erwartet werden kann. Die Fähigkeitsbeschreibungen im europäischen Sprachportfolio sind die genauste und absoluteste Form, die ich kenne. Deshalb finde ich sie auch sehr sinnvoll.
In einer Schule kann man über einen geeigneten Lehrplan und in Zusammenarbeit von Schnittstellen zur weiteren Ausbildung zu gemeinsamen Leistungserwartungen kommen.
Man kann diese auch eichen wie mit dem Stellwerktest. National helfen auch landesweite empirische Vergleiche. Im Detail hat man aber immer eine Schulklasse vor sich und je objektiver und transparenter man die Leistungserwartung vermitteln kann, desto besser.
Daran arbeite ich auch intensiv.
“Entweder gibt es fachliche Kompetenz unabhängig von Settings und persönlichen Wertmassstäben oder nicht.”
Da haben Sie grundsätzlich recht. Der Teufel liegt hierbei im Detail. Sie können zwar sagen: Schüler X klettert in 7 Sekunden die Stange hoch. Schon bei der Einschätzung respektive “Wertung” dieser Leistung erhalten Sie unterschiedliche Antworten und stehen vor Fragen, die von LP unterschiedlich beantwortet werden. Ich gehe davon aus, dass Sie die breit untersuchten Verzerrungsmuster kennen und ev. auch die Literatur dazu.
“Selektion ist die Folge von fachlicher Leistung, die fachliche Leistung ist nicht Folge der Selektion!”
Was wollen Sie damit sagen? Ich kann höchst annähernd formulieren: Selektion sollte nach dem Prinzip von fachlicher Leistung und fachlichem Potenzial vorgenommen werden und das meritokratische Prinzip sollte in der Schule allumfassend gelten. Beides ist leider, jedenfalls gemäss der empirischen Forschung und meiner langjährigen Erfahrung, klar widerlegt. Immerhin beruht die prognostische Beurteilung im Kanton Bern auf einer kriterienbasierten Empfehlung mit Prüfungsangebot, andere Kantone sind da restriktiver.
An dieser Art Selektion habe ich auch nichts auszusetzen. Sie ist ja auch nicht Gegenstand der diskutierten Initiative.
Dann kommen Sie zu Ihrem abschliessenden Verdikt:
“Die zitierte Stelle zeigt klar auf, dass Sie Selektion aus ideologischen und nicht aus sachlichen Gründen ablehnen,”
Ich weiss nicht, welche Art Ideologie Sie meinen. Ich weiss auch nicht, was an diesem Abschnitt bzw. irgendeiner zitierten Stelle ideologisch sein soll. Ich sehe Ihren Vorwurf als völlig aus der Luft gegriffen. Erklären Sie mir diese Ideologie und wo genau sie in meinem Text zum Ausdruck kommt.
In der Praxis und beim Entstehen meiner Ideen, Konzepte und Umsetzungen sehe ich mich vielmehr als Pragmatiker. Der zitierte Abschnitt bezieht sich nicht bloss auf das Verhalten der LP, sondern sieht das Dreieck Eltern-LP(Schule) und Kind systemisch. Dort beobachte ich in erster Linie, was funktioniert und was nicht funktioniert. Wenn Sie mir Ideologie vorwerfen wollen, dann machen Sie das bitte präzis und einigermassen nachvollziehbar.
Ich lehne die Selektion zu diesem frühen Zeitpunkt ab, weil empirisch breit erwiesen ist, dass man sie nicht gerecht gestalten kann und die Kollateralschäden zu gross und der Nutzen zu klein ist. Sie stärkt die soziale Segmentierung und bindet Ressourcen am falschen Ort. Ich kann Ihnen natürlich nicht verbieten solches als ideologisch zu betrachten, wobei ich immer noch nicht weiss welche Ideologie Sie meinen. Ich sehe die Selektion persönlich aber von der pragmatischen Seite her als problematisch an. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich durch meine langjährige Erfahrung und durch meine Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Hintergrund, weiss vovon ich rede, bin aber nicht im Besitz irgendwelcher absoluter Wahrheiten.
Bitte führen Sie dieses Gespräch nur weiter, wenn Sie an der Sache selbst interessiert sind. Die Art und Weise, wie Sie mit meinen Kommentaren/Antworten bis jetzt umgegangen sind, erachte ich als nicht sehr respektvoll. Vielleicht haben wir von einem solchen Gespräch eine differente Vorstellung, dann beenden wir es besser und ich überlasse Ihnen gerne den Punktsieg.
Bedenken Sie dabei, dass ich auf Ihren Artikel antworte, weil sie mich darin namentlich erwähnt haben. Zudem bin ich an sachlichen Diskussionen an sich sehr interessiert. Das verlangt aber von beiden Partnern eine gewisse Offenheit und Neugier. Und bevor Sie das von sich behaupten: Stellen Sie mir bitte eine echte, ernst gemeinte – nicht rhetorische – Frage oder gehen Sie auf meine Fragen ein, die ich Ihnen aus echter Neugier gestellt habe.
Freundliche Grüsse
Emanuel Dettwiler Reist