Die umtriebigen Schulreformer können es nicht lassen. Statt sich entschlossen den langjährigen Baustellen unserer Volksschule zuzuwenden, unterstützt der Vorstand der Schweizer Schulleitervereinigung fragwürdige Umbaupläne des Vereins “Schule ohne Selektion”. Die Sekundarschule soll auf Abteilungen mit differenzierten Anforderungen verzichten. Mit in diesem Paket ist auch die Forderung nach einem neuen Beurteilungssystem, welches die bisherige Notengebung ersetzen soll. Wie immer bei solchen Vorhaben lassen sich weitere Akteure leichter an Bord holen, wenn grosse Schlagworte wie Chancengleichheit oder Individualisierung des Unterrichts ein Projekt heller leuchten lassen. So hat die LCH-Präsidentin durchblicken lassen, dass sie eine Oberstufe ohne Selektion als Fortschritt sehe. Auch an einigen Pädagogischen Hochschulen kann das Umbauprojekt auf eine namhafte Anhängerschaft zählen.
Zu viel Heterogenität würde die Sekundarschule schwächen

Die Ankündigungen, nur radikale Strukturreformen und ein neues System der Schülerbeurteilung würden die Schulen zukunftstauglich machen, sind ziemlich vollmundig. Neuere Studien zeigen, dass die Schulleistungen in einer nicht gegliederten Sekundarschule eher schlechter werden. Am Ende der sechsten Klasse geht die Schere beim Leistungsvermögen der Schüler bereits stark auseinander. Diese Heterogenität macht es Lehrpersonen ausserordentlich schwer, alle Schüler zu den gesteckten Zielen zu führen. In Oberstufenschulen mit Abteilungen mit unterschiedlichen Anforderungen gelingt es weit besser, jeder Schülerin und jedem Schüler Erfolgserlebnisse beim Lernen zu ermöglichen.
Statt so eine Rosskur in Angriff zu nehmen, wäre es weit besser, den Hebel dort anzusetzen, wo Reformen die grösste Wirkung auf die Schulqualität haben.
Im Kanton Zürich stehen den Sekundarschulen ein zweiteiliges und ein dreiteiliges Modell mit flexiblen Varianten bei den abteilungsübergreifenden Fächern zur Auswahl. Es gab schon mehrmals intensive Diskussionen um die Licht-und Schattenseiten der beiden Systeme, doch die Einführung einer selektionsfreien Sekundarschule war dabei nie ein ernsthaftes Thema. Statt so eine Rosskur in Angriff zu nehmen, wäre es weit besser, den Hebel dort anzusetzen, wo Reformen die grösste Wirkung auf die Schulqualität haben.
Die Diskussion um eine radikale Sekundarschulreform ist eine Flucht nach vorn
Was die Schulleitervereinigung in Kooperation mit den genannten Unterstützern fordert, lenkt von den dringend zu lösenden Aufgaben ab. Die schulischen Herausforderungen sind bestens bekannt: Der chronische Lehrermangel, die gescheiterte Integration, das ineffiziente Frühfremdsprachenkonzept, der überladene Lehrplan mit den eklatanten Schwächen im Bereich Deutsch und die zu wenig auf die Schulpraxis ausgerichtete Lehrerbildung. Aufgrund dieser unerledigten Arbeitsliste macht die angezettelte Reformdiskussion den Eindruck einer schlecht vorbereiteten Flucht nach vorn.
Liebe Schulleitervereinigung, wo sind eure konstruktiven Vorschläge, die sich in der Praxis auch umsetzen lassen? Mehr finanzielle Mittel, wie ihr sie beim Integrationsmodell gebetsmühlenartig fordert, sind nirgends in Sicht. Mit eurem dogmatischen Verharren auf der reinen Lehre der Integration aller Schüler in die Regelklassen blockiert ihr praxistaugliche Lösungen. Beim gravierenden Lehrermangel genügt es nicht, Lehrer als Manager zu bezeichnen, um die fehlenden Männer für die Primarschule zurückzugewinnen. Es braucht starke Korrekturen beim Rollenbild des Lehrers, um diesem Beruf seine volle Attraktivität zurückzugeben. Das ist eine gewaltige, aber lohnenswerte Aufgabe, welche ein Denken ohne Scheuklappen erfordert.
Ein grundsätzlich schiefes Konzept lässt sich nicht retten, indem man die vielen überforderten Kinder einfach dispensiert oder einen erhöhten Lerndruck zulässt.
Bei den Frühfremdsprachen wäre es zusammen mit dem LCH eure Aufgabe, der EDK mit deutlichen Worten klarzumachen, dass man sich mit dem gewagten Mehrsprachenkonzept verrannt hat.
Ein grundsätzlich schiefes Konzept lässt sich nicht retten, indem man die vielen überforderten Kinder einfach dispensiert oder einen erhöhten Lerndruck zulässt. Jedes Weitermachen wie bisher führt zu unzähligen Verlierern, die ohne das forcierte Fremdsprachenlernen nicht entstehen würden.
Namhafte Persönlichkeiten fordern eine Korrektur der Fehlentwicklungen
In unserem Newsletter kommen namhafte Persönlichkeiten zu Wort, die in Interviews und Kommentaren die Schulentwicklung offen kritisieren. Die ganze Reihe der Schulbaustellen kommt dabei eingehend zur Sprache. Die Mutlosigkeit der Reformer, gescheiterte Projekte rechtzeitig abzubrechen, wird als Hindernis für eine Wende zum Besseren gesehen. Auslöser dieser Welle bemerkenswerter Stellungnahmen war wohl das viel beachtete Interview des Nidwaldner Bildungsdirektors Res Schmid vor knapp einem Monat. Wir haben darüber im letzten Newsletter berichtet.
Der neue Leiter des Kinderspitals Zürich, Oskar Jenni, setzt sich mit dem Frühfranzösisch auseinander. Er kritisiert die Idee des spielerischen Sprachbads (Embedding) als nicht umsetzbare Methode für das schulische Fremdsprachenlernen. Die ganze Mehrsprachendidaktik der Primarschule sei gescheitert und das Frühfranzösisch abzuschaffen.
Wie auch immer, die geäusserte Kritik an den zentralen Reformen ist so gut begründet, dass sich die Bildungspolitik die Taktik des Schönredens nicht länger leisten kann.
SVP-Nationalrat Benjamin Fischer unterstützt in seinem ganzseitigen Interview in den TA-Medien die Kritik von Res Schmid vollumfänglich. Fischer hebt hervor, dass viel zu viele Schüler nur noch ungenügend Deutsch sprechen und kaum einfache Texte verstehen können. Er ist für die Einführung von speziellen Klassen zur Deutschförderung bei eingewanderten Kindern. Auch er möchte, dass nur eine Fremdsprache in der Primarschule unterrichtet wird.
Breite Unterstützung aus der Leserschaft für die mutige Reformkritik
In den Kommentaren und Leserbriefen findet man grosse Zustimmung zu den Interviews. Nur Neuerungen, die sich bewährt haben, sollen weitergeführt werden. Aber auch eine konträre Stimme von der Spitze des Nidwaldner Lehrerverbands, welche die meisten Reformen verteidigt und den eingeschlagenen Weg weitergehen will, ist dabei. Wie auch immer, die geäusserte Kritik an den zentralen Reformen ist so gut begründet, dass sich die Bildungspolitik die Taktik des Schönredens nicht länger leisten kann.
Wenn es nur noch Baustellen hat, erkennt man die Baustellen als solche nicht mehr.
Und wenn die Bauarbeitenden fehlen, werden die Baustellen zum Dauerzustand. Etwa da sind wir jetzt. Gute Nacht Staatsschule.
„SVP-Nationalrat Benjamin Fischer unterstützt in seinem ganzseitigen Interview in den TA-Medien die Kritik von Res Schmid vollumfänglich. Fischer hebt hervor, dass viel zu viele Schüler nur noch ungenügend Deutsch sprechen und kaum einfache Texte verstehen können.
Er ist für die Einführung von speziellen Klassen zur Deutschförderung bei eingewanderten Kindern. Auch er möchte, dass nur eine Fremdsprache in der Primarschule unterrichtet wird“.
Das trifft zu: 20-25% der Schulabgänger*innen verfügen über ungenügende Kompetenzen in Lesen und Schreiben. Nicht nur eingewanderte Kinder.
Was nicht zutrifft:Es braucht keine speziellen Klassen zur Deutschförderung bei eingewanderten Kindern. Das Oberstufenzenrum Mett Bözingen in Biel konnte zeigen, dass gezielter Sprachunterricht mit den schwächsten Schüler*innen die Sprachkompetenzen massiv erhöht. Und das im Zyklus 3. Mit integrativem Unterricht, ohne verfassungswidrige Diskriminierung.
Es braucht Lehrer und Lehrerinnen, die eine Leidenschaft fürs Lesen haben – Condorcet
Separate Klassen für Schwächere sind keine verfassungswidrige Diskriminierung!
Schön, dass es trotz integrativem Modell klappt. Mit separaten Klassen würde es jedoch viel besser funktionieren. Denn wer will schon in einer heterogenen Klasse immer wegen Lernschwäche die “rote Laterne” haben?
“Separate Klassen für Schwächere sind keine verfassungswidrige Diskriminierung!”
Art. 11 Bundesverfassung:Art. 11.: Schutz der Kinder und Jugendlichen 1 Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. Das ist das nächste grosse Forschungsprojekt: Wie erlebten Kinder die Selektion in der öffentlichen Schule? Beispiele aus dem Alltag: Die Schule liess mich schutzlos zurück; die Scham wurde ich bis zur Pensionierung nie mehr los; Ich habe Diktate zu Tode geübt; Ich genüge nicht;. Ich kann nicht mehr ich selbst sein. Unzulässige, diskriminierende und stigmatisierende Übergriffe der öffentlichen Schule auf die Psyche der Kinder.
Dass Menschen mehr oder weniger systematisch und systemimmanent traumatisiert werden, beschäftigt mich schon sehr lange im Zusammenhang beispielsweise auch mit der Schule. Denn: So wie Schulen die Bildung organisieren, gibt es viele Verliererinnen und Verlierer. Nach dem (Wirtschafts-)Motto „Konkurrenz belebt das Geschäft … und mit Verlusten muss gerechnet werden“. Rennbahnpädagogik, wo gelernt wird, um zu gewinnen, und nicht für die Bildung, kann krank machen. Mit Traumafolgen oft für das ganze Leben. Unter solchen Bedingungen ist beispielsweise ein Schulanwesenheitszwang fachlich und menschlich nicht haltbar. Immer mehr Schülerinnen und Schüler reagieren darauf mit Widerstand (in der Regel nicht bewusst sowie vom Umfeld nicht als solcher erkannt) in Form von sogenannten Verhaltensausfälligkeiten oder mit Absentismus. Das ist der psychodynamisch-soziale Aspekt. Neben Traumafolgen ist das Ganze auch mit Kostenfolgen verbunden und ökonomisch eigentlich ein Wahnsinn: immer mehr Kosten für immer weniger Bildungswirkung. Dass (und wenn) davon dafür Verantwortliche nichts wissen (wollen) und Medien nichts dazu berichten, macht es nicht wirklich besser. Und vor allem auch dann nicht, wenn versucht wird, die Situation mit sogenannter toxischer Positivität schön zu reden oder zu schreiben. Um dem Taifun der Wahrheit nicht ins Auge zu schauen, und nichts tun wollen zu müssen. Dabei sind Traumasensibilität und Traumaheilung – individuell und kollektiv – eine Gelingensbedingung für Frieden und Zufriedenheit.
Sehr geehrter Herr Amstutz
In Ihrem Artikel verweisen Sie auf neuere Studien, die zeigen, dass die Schulleistungen in einer nicht gegliederten Sekundarschule eher schlechter werden. Diese Studien sind mir nicht bekannt. Bisher kenne ich nur Untersuchungen, die belegen, dass die Selektion in der Oberstufe nicht effektiv ist. Daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie die entsprechenden Literaturangaben zitieren könnten. So könnte ich mich auf den neuesten Stand bringen.
Freundliche Grüsse
Hier wird eine solche Studie genannt:
https://www.news4teachers.de/2021/03/studie-gegliedertes-schulsystem-staerkt-die-bildungsgerechtigkeit/
Das bezieht sich auf die deutschen Bundesländer.
Vielen Dank für die Unterstützung. Auch die neusten Vergleiche zwischen den deutschen Bundesländern bei den Ergebnisse der PISA-Studie stützen die These, dass gegliederte Sekundarschulen leistungsmässig besser abschneiden als Gesamtschulen.
Aus eigener Erfahrung im Unterricht mit schwächeren Schülern weiss ich, wie sehr diese auf langsam aufbauende Lernprozesse angewiesen sind. Während das wiederholte anschauliche Erklären des Elementaren für Jugendliche mit rascher Auffassungsgabe bald einmal zum Verdruss wird, öffnet ein sorgfältiger Aufbau den Schwächeren Wege zum Erfolg. Voraussetzung ist eine intensive Lernbeziehung und eine gewisse Homogenität in den Klassen. Geht die Schere zwischen den Fähigkeiten der Schüler jedoch zu weit auseinander, werden die Lernfortschritte vieler Schüler geringer.
Die angestrebte Lösung einer starken Individualisierung der Lernprozesse in den Gesamtschulen ist zweischneidig. Will man die guten Lernbeziehungen aufrechterhalten, fehlt das Personal und das Geld für eine Intensivbegleitung. Setzt man Jugendliche stundenlang vor Bildschirme und bietet ihnen individuell angepasste Lernsoftware, bleibt der Erfolg bei vielen Schülern aufgrund der fehlenden Lebendigkeit des Unterrichts aus. Dazu hat sich Hattie zur wichtigen Rolle der motivierenden Lehrpersonen sehr klar geäussert.
Die wiederholte Forderung nach deutlich mehr finanziellen Mitteln für aufwändige Schulmodelle ist utopisch. Als Mitinitiant einer abgelehnten Volksinitiative für kleinere Schulklassen (maximal 20 Schülerinnen und Schüler) im Kanton Zürich musste ich zur Kenntnis nehmen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Auch für die Bildungspolitik gilt, dass sie die Kunst des Möglichen ist. Das darf ruhig als Herausforderung verstanden werden. Sorgen wir deshalb dafür, dass aus den in der Schweiz grosszügig vorhandenen Mitteln das Beste geschaffen wird.
Als Präsidentin des Vereins “Volksschule ohne Selektion” (VSoS) fühle ich mich durch Herrn Amstutz geehrt: Der LCH soll wegen uns die Selektion abschaffen wollen! Es ist wohl eher so, dass die Präsidentin des LCH evidenzbasiert zu den gleichen Schlüssen gekommen ist wie der VSoS, der als kleiner Verein die Forschungsergebnisse für eine kindgerechte Volksschule in politische Forderungen ummünzt.
Am Schluss seiner klar durchdachten und stichhaltigen Ausführungen weist Hanspeter Amstutz auf eine “konträre Stimme von der Spitze des Nidwaldner Lehrerverbandes” hin. Dies als Reaktion in der NZZ auf das Interview des Bildungsdirektors Res Schmid mit ebendieser Zeitung. Um die besagte Kontroverse zu vertiefen, sind meines Erachtens folgende Erwägungen anzufügen und der Schulleitervereinigung sowie ihren umtriebigen Supportern auf den Weg zu geben:
Mit welchem Geschäftsmodell fährt die Volksschule am besten? Den Vorstellungen des Nidwaldner Erziehungsdirektors Res Schmid zu einem erfolgversprechenden Bildungssystem widersprechen die dortigen Verbände der Schulleitungen sowie der Lehrerinnen und Lehrer in weiten Teilen (NZZ vom 14.02.25). Und deren Co-Präsidentin Tanja Murer setzt noch einen drauf. Sie bringt mit einer zusätzlichen Forderung eine weitere Komponente ins Spiel, mit der die Zahl der erwachsenen Unterstützer in sämtlichen Klassenzimmern aufgestockt werden soll: Heilpädagoginnen, die nicht nur für alle Schülerinnen und Schüler, sondern auch noch für ihre Lehrkräfte da sind. Befürwortern von Kleinklassen, zu denen auch Schmid zählt, spricht sie dagegen in einer möglichst integrativ und daher für sie zeitgemäss geführten Schule jeglichen Bezug zur Realität ab.
An jedem Geschäftsmodell, sowohl privat als auch staatlich, hängt ein Preisschild – ganz abgesehen davon, welches Schulsystem das pädagogisch wertvollste ist. In Nidwalden ist das genau so, wie etwa im Aargau oder in Zürich. Murers Begehren mag wissenschaftlich belegt sein, doch Angaben zu den finanziellen Folgen ihrer Studien klammern Expertisen im Bildungssektor jeweils gerne aus. Mit entlastenden, vernünftigen und nicht zuletzt auch kostenmässig überschaubaren Schulstrukturen und der Wiedereinführung von Klein- und Förderklassen statt noch mehr Personal in der Schulstube, ist allen besser gedient als mit andauernd neuen Forderungen, die immer weiter ausufern und deshalb in vielerlei Hinsicht unrealistisch sind.
Aus den Beiträgen von Hans Joss und Ueli Keller spricht eine tiefe Enttäuschung über ihre Schulzeit, die sie mit «traumatischen Erlebnissen» verbinden. Dass sie ihre Schulzeit in schlechter Erinnerung haben, ist sehr bedauerlich. Leider verallgemeinern sie diese Erfahrungen und verkennen, welch unglaubliche Bildungsleistung die öffentliche Volksschule in den letzten beiden Jahrhunderten vollbracht hat. Dass es «Verlierer» gibt, ist bitter, aber es gibt auch Gewinner. So z.B. der Migrantensohn in meiner Klasse, der es bis zum Professor für angewandte Sprachwissenschaft am University College of London gebracht hat. Irgendwelche Traumvorstellungen von idealer Schule helfen nicht weiter, denn die negativen Eindrücke liegen oft nicht an den damaligen bildungspolitischen Gegebenheiten (Selektion oder Gesamtschule, Noten, Hausaufgaben, etc.), sondern an den menschlichen Erfahrungen mit den Lehrpersonen. Waren diese verständnisvoll, an den Kindern und Jugendlichen interessiert, ermutigend, unterstützend, aber auch fordernd, fachlich sicher und strukturiert, kreativ und ideenreich? Genauso wichtig ist die eigene Persönlichkeit: Wie motiviert ist jemand fürs Lernen? Welche Stärken und Schwächen gibt es und kann die Person diese akzeptieren und ihre Ziele entsprechend ausrichten, sogar dann, wenn eine Lehrperson nicht dem obigen Ideal entspricht? Gerade für Schwächere kann es deprimierend sein, stets Leute neben sich zu haben, die längst begriffen haben und sagen: «Ist doch einfach? Checkst du es immer noch nicht? Wohl etwas weich in der Birne?» (Originalzitat eines genervten Klassenkameraden) Dies ist nicht leicht auszuhalten, dennoch muss wohl jeder Mensch lernen, dass er auch Schwächen hat, dies jedoch den Wert seiner Person nicht mindert, sondern ihn ermutigen sollte, an den Schwächen zu arbeiten und sich auf seine Stärken zu besinnen.
Meine Schulzeit habe ich als ausserordentlich bereichernd und konstruktiv erlebt. Abgeschlossen habe ich sie mit einer Promotion an der Uni Bern. Im Anschluss daran folgte eine berufliche Laufbahn mit ausschliesslich hoch motivierten Mitarbeitenden.
Die elf Jahre dauernde Volksschule findet jeden Tag statt. Für mich eine enorme Leistung der direkten Demokratie. Wenig erfreuliche Seiten der öffentlichen Schule lernte ich kennen in meiner Funktion als langjähriger Präsident des Vereins « Lesen und Schreiben für Erwachsene» im Kanton Bern. Joss H.,Reichenbach E.: Schule hinterlässt Spuren. Novum 2021. Dabei geht es nicht nur um fehlende Kompetenzen in Lesen und Schreiben. Viel schlimmer und oft therapieresistent sind die destruktiven Selbstbilder der betroffenen Erwachsenen. Verzerrte Selbstbilder, die lebenslang nachwirken und die Lebensqualität nachweislich einschränken. Über eine Million Menschen sind betroffen (Illettrismus) in der Schweiz. Seit vielen Jahren beträgt die Anzahl Schulabgänger*innen mit ungenügenden Sprachkompetenzen 20-25%. http://www.boggsen.ch. Nach 11 Jahren Unterricht. Vor diesem Hintergrund ist die Bemerkung von Felix Schmutz «dass es Verlierer gibt ist bitter» für Betroffene inakzeptabel und zynisch. Eine Volksschule, die nach 11 Jahren Unterricht – bezahlt mit öffentlichen Geldern – Verlierende zurücklässt, darf nicht sein, muss den Betrieb umgehend partiell einstellen. Die Forderung der Bundesverfassung wird klar ignoriert: Art 11: «Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung». Ohne jedes Einschreiten des Gesetzgebers gegen Selektion, Diskriminierung und Stigmatisierung entspricht dieses Verhalten einem Angriff, auf die direkte Demokratie, einem Teilversagen der direkten Demokratie.
Danke Herr Kühnel für den Link zu der Studie die ich mit Interesse gelesen habe.
Die soziologischen Modelle dahinter sind für mich als Nicht-Soziologen jedoch schwer verständlich. Befremdlich fand ich insbesondere, dass in der untersuchten Kohorte 44 % der Daten ausgeschlossen wurden. Allerdings ist dies manchmal aufgrund der Datenstruktur nicht vermeidbar. Wenn ich im Kapitel «Zusammenfassung und Bewertung» die Bedingungen für eine erfolgreiche Homogenisierung der schulischen Leistungen lese, scheint mir eine gerechte Einteilung zur Vermeidung von Fehlplatzierungen bei der Selektion eine grosse Herausforderung – wenn nicht gar unmöglich.
Wie dem auch sei: Ich beziehe mich stets auf Studien aus der Schweiz, da länderübergreifende Vergleiche aufgrund unterschiedlicher Schulsysteme schwierig sind. Zudem sind Längsschnittstudien in der Regel aussagekräftiger als Querschnittstudien. Ein gutes Beispiel dafür ist die Schweizer TREE-Studie («Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben») der Universität Bern (https://www.tree.unibe.ch/). Sehr empfehlenswert dazu ist die Dissertation von Thomas Meyer: «Wie das Schweizer Bildungssystem Bildungs- und Lebenschancen strukturiert. Empirische Befunde aus der Längsschnittstudie TREE», Bern 2018.
Weiterhin haben die empirischen Untersuchungen im Buch von Winfried Kronig «Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolges» (Haupt Verlag, 2007) nach wie vor ihre Gültigkeit. Dass die Schule scheinbar zufällig immer wieder dieselbe Anzahl Schülerinnen und Schüler mit Grundansprüchen bzw. erweiterten Ansprüchen hervorbringt, beschreibt Daniel Hofstetter in seinem Buch «Die schulische Selektion als soziale Praxis» (Belz Verlag, 2017) sehr anschaulich.
Bereits 1995 stellte die Pädagogische Kommission der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) die Fragwürdigkeit der Trennung in Leistungszüge fest. Selbst in einer vierzügigen Sekundarstufe I sind Überschneidungen zwischen dem tiefsten und höchsten Zug nicht zu vermeiden. An dieser Aussage hat sich bis heute nichts geändert.
Was mich immer wieder irritiert, ist die Tatsache, dass beispielsweise im Kanton Bern nur zwei Sprachfächer und Mathematik entscheidend für die Einteilung in Leistungszüge sind. Würde man konsequent vorgehen, müsste man diese Homogenisierung eigentlich in allen Fächern durchführen (wenn denn eine gerechte Einteilung möglich wäre).
Andererseits existieren bereits heute im Kanton Bern Oberstufen-Modelle, die bei gleichem Lehrplan und gleichen Ressourcen in gemischte Klassen unterrichten: Im Modell 3b werden Schülerinnen und Schüler in gemischten Stammklassen unterrichtet und nur in Deutsch, Französisch und Mathematik nach Leistungszügen getrennt (29 %). Im Modell 4 werden alle Fächer in gemischten Klassen unterrichtet (12 %), und an Mosaiksekundarschulen findet der Unterricht sogar jahrgangsgemischt statt (an sechs Standorten). Das bedeutet, dass im Kanton Bern bereits über 40 % der Sekundarstufe I ganz oder mehrheitlich in gemischten Klassen unterrichtet werden. Zählt man zusätzlich noch Eingangsstufe und Mittelstufe dazu, so findet an über 80 % aller Schulen im Kanton Bern Unterricht in gemischten Klassen statt.
Warum dies nicht an sämtlichen Oberstufen möglich sein sollte, kann ich nicht nachvollziehen. Die grösste Heterogenität besteht aus meiner Sicht ohnehin beim Schuleintritt in der Eingangsstufe: Einige Kinder haben grosse Schwierigkeiten mit der Unterrichtssprache und kennen noch keinen einzigen Buchstaben, während andere bereits den Stoff der ersten Klasse beherrschen. Ich habe grössten Respekt vor der pädagogischen Leistung, welche Lehrpersonen unter diesen Bedingungen tagtäglich erbringen.
Dass es je nach Wohnort bzw. Schulkreis grosse Unterschiede bezüglich Anzahl Klassen mit Grundansprüchen gibt, zeigt deutlich: Die Einteilung hat wenig mit tatsächlicher Leistung oder pädagogischen Kriterien zu tun; vielmehr handelt es sich um gesellschaftliche Normen oder Traditionen (die Selektion wurde im 19. Jahrhundert eingeführt), welche regional unterschiedlich umgesetzt werden.