8. Januar 2025
Bildungskrise

Warum so viele Schulen in die falsche Richtung laufen und was sie vom Sport lernen sollten

Die deutsche Bildungsdebatte krankt daran, Leistungsorientierung und Disziplin als etwas Negatives zu sehen. Damit werden Schüler um eine wichtige Erfahrung gebracht, die im Sport eine Selbstverständlichkeit ist: Es kann Spaß bringen, sich anzustrengen. Die Politik könnte noch viel mehr vom Sport lernen. Ein Bericht der WELT-Journalistin Hannah Bethke.

Die Bildungsdebatte in Deutschland ist durch zwei wiederkehrende Muster gekennzeichnet: erstens durch düstere Diagnosen, zweitens durch eine falsche Therapie. So fallen in regelmäßig erhobenen Studien die Leistungsbilanzen der Schüler fast immer verheerend aus, in elementaren Fächern wie Deutsch oder Mathematik werden sie sogar Jahr für Jahr noch schlechter.

Die Schulen reagieren darauf in der Regel nicht mit einer Anhebung des Niveaus, sondern mit dem genauen Gegenteil: Sie senken die Anforderungen weiter. Eingebettet in eine Bildungsdiskussion, die vor allem darauf abhebt, Druck von den Lernenden zu nehmen, werden schwache Leistungen oft mit der Frage der sozialen Ungleichheit vermengt – als seien mangelnde Fertigkeiten automatisch die Folge sozialer Ungerechtigkeit.

Gastautorin Hannah Bethke, Journalistin bei der WELT

Wo ein hoher Bildungsanspruch im Schulunterricht mit Repression verwechselt wird, hat jeder es schwer, der für mehr Anstrengung, Leistungsorientierung und Wettbewerb wirbt. Doch es ließe sich eine Brücke bauen, um zu veranschaulichen, dass Anstrengung nicht eine bloße Belastung darstellt, sondern Sinn stiftet und sogar Glücksgefühle hervorruft. Solch ein innerer Prozess lässt sich nämlich sehr genau bei einer Tätigkeit beobachten, die für Zuschauer oder durch eigene Aktivitäten zu einem Massenphänomen geworden ist: beim Sport.

Sport als Vorbild, um Scheu vor Anstrengung zu verlieren

Wer im Sport erfolgreich sein will, muss hart an sich arbeiten, diszipliniert sein, Ehrgeiz mitbringen, hohe Leistungen erzielen. Die heutigen Bildungs- und Erziehungsideale weisen in die genau gegenteilige Richtung. Und trotzdem übt der Sport nach wie vor eine gewaltige Faszinationskraft aus und könnte die Gesellschaft daran erinnern, was ihr durch anerzogene Scheu vor Anstrengung verloren geht.

Fordert man von Schülern, an ihre Grenzen zu gehen, gilt das in der zeitgemäßen Pädagogik der Schonung und vorauseilenden Rücksichtnahme schnell als autoritäre Maßgabe, die man ihnen nicht zumuten dürfe.

 

Der Sportwissenschaftler Ansgar Thiel erklärt im Gespräch mit WELT, was der Sport uns lehrt: “Nur durch Üben wird man besser. Man muss bis zur Grenze seines Könnens üben, um diese Grenze irgendwann überschreiten zu können.” Das rufe natürlich Frustration hervor und bringe meist keinen Spaß. Lerne man aber systematisch, sich zu verbessern und Durchhaltevermögen zu entwickeln, ändere sich das: “Wenn man es schafft, eine Grenze zu überwinden, ist das Gefühl danach umso schöner.”

Thiel spricht damit einen zentralen Punkt an, der in Bildungsdebatten eine völlig andere Konnotation erhalten hat. Fordert man von Schülern, an ihre Grenzen zu gehen, gilt das in der zeitgemäßen Pädagogik der Schonung und vorauseilenden Rücksichtnahme schnell als autoritäre Maßgabe, die man ihnen nicht zumuten dürfe. Dabei gerät aus dem Blick, dass man sich nicht weiterentwickelt und niemals die Erfahrung machen wird, über sich hinauszuwachsen, wenn man schon aufgibt, bevor man die eigenen Grenzen ausgetestet hat.

Negativer Einfluss der digitalen Medien

“Die Welt der sozialen Medien suggeriert heute teilweise, dass Erfolg und Anstrengung voneinander unabhängig sind”, sagt Thiel, der Rektor der Deutschen Sporthochschule in Köln ist. Im Sport sei das anders: “Man lernt im Vergleich mit anderen, dass es eine Weile dauert, bis man besser wird. Und wenn man durchhält, erfährt man, dass der eigene Fortschritt ein positives Gefühl vermittelt, das nie entstehen würde, wenn jeder kleinste Schritt schon gelobt wird.”

Nach Einschätzung des Sportwissenschaftlers haben die digitalen Medien dabei einen negativen Einfluss. “Da werden Fähigkeiten des sozialen Miteinanders in der Realwelt bei Heranwachsenden nicht mehr nebenbei in der Alltagswelt geschult”, so Thiel. Sport könne dagegen kompensatorisch wirken und dabei helfen, Frustrationen auszuhalten: “Dort lernt man, sich mit anderen auseinanderzusetzen, Gesichter und Gesten zu lesen. Man lernt, zu kooperieren, Kompromisse zu schließen, Respekt zu zeigen, von anderen Rat einzuholen.” Das alles setzt aus Sicht des Sportwissenschaftlers eine elementare Fähigkeit voraus: die Kunst, verlieren zu können.

Der deutsche Sportwissenschaftler Ansgar Thiel: Die Kunst, verlieren zu können.

Folgt man Thiels Ausführungen, vermittelt der Sport also alles, was man auch braucht, um gut lernen zu können. Doch nicht bloß eigene Aktivität, auch das Zuschauen beim Sport offenbart essenzielle Erkenntnisse über die Bedürfnisse einer Gesellschaft. Der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette beschrieb den Sport einmal als “Bollwerk in einer Welt der zunehmenden Nichtlesbarkeit und Orientierungslosigkeit”. Auch passiv könne Sport Massen begeistern und Emotionen hervorrufen. Er hat also eine entlastende Funktion: “In der Flut der massenmedial transportierten Bilder und Informationen bemüht sich der Sport, eine Welt der Einfachheit, Nachvollziehbarkeit und Eindeutigkeit zu inszenieren.”

Die Schattenseite solcher Sportbegeisterung liegt freilich in der Gefahr, mit illegalen Mitteln Grenzen zu überschreiten, um neue Rekorde zu erzielen – sprich durch Doping, Missbrauch, Abhängigkeit von Medikamenten. Somit ist Sport nicht nur ein Vorbild für das Nachdenken über Bildung, er kann auch als negative Kontrastfolie dienen.

Keine Welt ohne Wettbewerb

Der Sport der Extreme kann destruktive Kräfte freisetzen – wenn es nur noch darum geht, noch höher, weiter, schneller zu sein, noch mehr Rekorde zu erzielen, noch mehr übermenschliche Fähigkeiten zu entwickeln. Fast scheint es auf einen seelischen Defekt der Gesellschaft hinzuweisen, wenn sie sich nie mit dem natürlichen Maß des Menschen zufriedengibt.

Die Erkenntnisse aus der Sportwelt können dabei helfen, das richtige Maß zu finden. Es ist eine Welt, die sich jeder zu eigen machen kann.

 

Thiel widerspricht allerdings diesem Eindruck, insoweit es um das Prinzip des Wettbewerbs mit legalen Mitteln geht. Wettbewerbe seien in der Natur des Menschen angelegt. Eine Welt ohne Wettbewerb gebe es nicht. Es müsse somit um die Frage gehen, wie man Wettbewerb gestalten könne, ohne andere zu schädigen. Der Drang des Menschen, andere zu überbieten, betrachtet der Sportwissenschaftler jedoch als Triebfeder in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft, die Fortschritt erzielen wolle – in der Technik, in der Wissenschaft, in der Medizin.

In der Diskussion über zu viel oder zu wenig Druck im Sport wie in der Bildung gilt es mithin, das richtige Maß an Anstrengung und Leistungsbereitschaft aufzuzeigen – und nicht etwa, überhaupt nichts mehr einzufordern, weil es Beispiele unzulässiger Repression gibt. Die Erkenntnisse aus der Sportwelt können dabei helfen, das richtige Maß zu finden. Es ist eine Welt, die sich jeder zu eigen machen kann. Denn die meisten Menschen schauen sich zumindest gerne Sport im Fernsehen an, manchen treiben auch selbst Sport.

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