14. Januar 2025
Fragen an die Bildungspolitik

Immer wieder diese Strukturdebatten

Als Mathematikdidaktiker habe ich kaum Austausch mit Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern. Aus dieser Distanz beobachtet scheint einiges, was die Bildungspolitik diskutiert, sinnvoll, es gibt gute Beispiele, wie wissenschaftliche Erkenntnisse positiv in die Praxis wirken, etwa im Startchancenprogramm, das sich der Schülerinnen und Schüler annimmt, die Gefahr laufen, abgehängt zu werden, das aber idealerweise noch mehr Schulen hätte erreichen sollen. Aber schon das Gegenstück dazu, ein entsprechend umfangreiches Programm zur Förderung von interessierten und leistungsstarken Schülerinnen und Schülern fehlt. Außerdem gibt es viele Themen, bei denen ich mich wundere, was in der Bildungspolitik passiert oder auch gerade nicht passiert. Gastautor Reinhard Oldenburg hätte da so einige Fragen.

Wenn mir ein Bildungspolitiker zuhören würde, würde ich die folgenden Fragen stellen, die sich aus meiner ganz persönlichen Perspektive ergeben.

(1) Warum wird so gerne an Strukturen und der Organisation reformiert, nicht aber an den Inhalten?

Jeder kennt die Diskussionen: G8 oder G9? Gesamtschulen oder ein gegliedertes Schulsystem? Neue Schulfächer? Ganztagsschule? Viel weniger wird über Inhalte des Unterrichts und deren Passung zu den Bedürfnissen der Lernenden diskutiert. Dabei zeigen etwa Untersuchungen zur Schulmathematik, dass die Lernenden nur einem kleinen Teil davon irgendeine Relevanz für ihr Leben zusprechen. Nach meinem Einblick ist es auch gar nicht Ziel von Lehrplankommissionen Antworten auf die Fragen zu geben, was im 21. Jahrhundert bildungswirksam ist, sondern sie wollen im Wesentlichen die alten Lehrpläne übernehmen, aber durch Entrümpelung die Anforderungen senken, damit mehr Schülerinnen und Schüler erfolgreich Prüfungen bestehen. Die stetig besser werdenden Abiturschnitte bei höherer Bildungsbeteiligung am Gymnasium zeigen, dass das funktioniert.

Die Frage, wie Mathematik mit dem Begriff der Unendlichkeit umgeht und zurechtkommt, gehört meines Erachtens in jeden Lehrplan als Option: Dafür müssen sich nicht alle interessieren, aber es ist schlimm, wenn die Beschäftigung damit per Lehrplan unmöglich gemacht wird.

 

Dies lässt leider wenig Raum, neue motivierende Fragestellungen im Unterricht zu behandeln (etwa künstliche Intelligenz), oder individuellen Interessen (etwa philosophische Dimensionen der Unterrichtsinhalte) gerecht zu werden. Ein Beispiel: Die Frage, wie Mathematik mit dem Begriff der Unendlichkeit umgeht und zurechtkommt, gehört meines Erachtens in jeden Lehrplan als Option: Dafür müssen sich nicht alle interessieren, aber es ist schlimm, wenn die Beschäftigung damit per Lehrplan unmöglich gemacht wird. Lehrpläne sollten reichhaltige Anregungen geben, aber Freiheiten lassen! Also: Warum lässt man nicht die Strukturen so wie sie sind, führt aber flexiblere, aber durchaus anspruchsvolle Lehrpläne ein?

Gastautor Reinhard Oldenburg

(2) Wieso erstickt die Bürokratie die Zusammenarbeit von Schulen und Universitäten?

Es fängt schon bei Kleinigkeiten an: Wenn man eine Lehrerfortbildung organisiert, kann man anfallende Kosten nicht über die Universität abrechnen. Wichtig aber sind die großen Hindernisse: Studien in der Schule sind in den meisten Bundesländern genehmigungspflichtig. Das ist an sich nicht verkehrt, gilt es doch zu prüfen, ob die Belange des Datenschutzes eingehalten und die Lernenden nicht als Versuchskaninchen missbraucht werden. Der Genehmigungsprozess dauert aber so lange und das Risiko einer Ablehnung ist so hoch, dass viele wichtige Fragen nicht in der Praxis untersucht werden, weil man etwa einem Doktoranden nicht zumuten kann, etwa ein Jahr lang eine Unterrichtsstudie zu planen, dann ein weiteres Jahr auf die Genehmigung zu warten und dann bei einer Ablehnung die Doktorarbeit in den Mülleimer werfen zu müssen. In kleinem Maßstab gilt das auch für Zulassungsarbeiten oder Masterarbeiten im Studium. Die Bürokratie sabotiert also die oft gehörte Forderung, im Studium Theorie und Praxis besser zu verbinden. Warum lässt man da nicht mehr Freiheit, warum können nicht Eltern und Schulen entscheiden, ob ein Forschungsprojekt an ihrer Schule durchgeführt wird?

(3) Wieso wundern Sie sich über den Lehrkräftemangel?

Lehrerin oder Lehrer sind beides schöne Berufe, noch dazu recht gut bezahlt und im sicheren Beamtenverhältnis. Trotzdem scheinen die Maßnahmen der Bundesländer, die von Gehaltserhöhungen bis zum Absenken der Anforderungen an die Ausbildung reichen, nicht sonderlich erfolgreich. Die Studienlage zu den Gründen für den Abbruch eines Lehramtsstudiums, oder erst recht für die Nichtaufnahme eines solchen Studiums, ist recht dünn. Oft wird die Praxisferne des Studiums, seine Theorielastigkeit als eine Erklärung angeführt, einzelne Beobachtungen weisen aber auch darauf hin, dass es Studierende gibt, die nach dem Praktikum abbrechen.

Wäre es auch nicht ein Weg, den Lehrerberuf attraktiver zu machen, wenn man den Lehrkräften mehr Autonomie bei der Auswahl von Inhalten und der Gestaltung von Unterricht zu billigen würde, wenn sie mehr disziplinarische Möglichkeiten hätten, um bei einer heterogener werdenden Schülerschaft sicherstellen zu können, dass das Unterrichtsklima lernfreundlich, ruhig und produktiv bleibt? Und insbesondere für die Mathematik scheint mir ein Problem zu sein, dass mathematisch interessierte junge Leute den immer weniger intellektuell anspruchsvollen Inhalt der Lehrpläne nicht attraktiv finden. Bei einer Tagung habe ich mal die folgende kompakte Zusammenfassung der Veränderung der Lehrerrolle in den letzten Jahrzehnten gehört: From the sage on the stage over the guide on the side to the peer at the rear. Könnte es nicht sein, dass man im Laufe dieses Prozesses die jungen Menschen für den Lehrerberuf verloren hat, die eine aktive Rolle in der Vermittlung von Wissen und Kompetenzen einnehmen wollen?

(4) Wieso verwechselt die Bildungspolitik Handeln und Denken?

Dass wir im Zeitalter der Digitalisierung angekommen sind, hat sich herumgesprochen. Es ist eine offensichtliche Notwendigkeit, die Jugendlichen mit Kompetenzen auszustatten, sodass sie die Möglichkeiten und Risiken dieser Entwicklung einschätzen und mitgestalten können. Man braucht also Bildung über Digitalisierung: Man muss darüber nachdenken, welche Auswirkungen automatisierter Aktienhandel, autonome Drohnen und KI-generierte Bilder haben. Und man sollte dies idealerweise nicht nur auf der Ebene des Benutzers tun, sondern auch Einblicke in die Funktionsweise bekommen, um die Dinge zu demystifizieren und damit urteilsfähig zu werden.

Man braucht also Bildung über Digitalisierung: Man muss darüber nachdenken, welche Auswirkungen automatisierter Aktienhandel, autonome Drohnen und KI-generierte Bilder haben.

 

Speziell im Mathematikunterricht sollte man sich klarmachen, welche Macht Berechnungen haben können, aber auch wo ihre Grenzen sind. Und man sollte dort so viel Logik lernen, dass man KI-generierte Argumentationen auf Schlüssigkeit prüfen kann. Ein Unterricht zum Denken über Digitalisierung wäre freilich nicht authentisch, wenn er nicht auch immer wieder digitale Werkzeuge einsetzen würde, damit die Jugendlichen im Sinne eines empowerment in die Lage versetzt werden, diese in ihrem Sinne zu nutzen. Aber die Bildungspolitik scheint dieses Denken über Digitalisierung zu verwechseln mit dem ständigen digitalen Handeln. Für Bildung über Digitalisierung muss man aber nicht ständig mit digitalen Medien arbeiten. Wieso glaubt man den Versprechungen der Bildungsindustrie?

(5) Wieso subventioniert man nicht schulische Leistungen?

Wir sind eine Geld-gesteuerte Gesellschaft. Keine Transformation scheint denkbar, ohne durch anreizende Subventionen motiviert zu werden. Welche finanziellen Steuerungswirkungen lenken Jugendliche? Schon im Amateurfußball werden Prämien gezahlt und die Perspektiven durch Anstrengung auf diesem Gebiet viel zu verdienen und Karriere zu machen, sind gut: Es gibt in Deutschland deutlich über 1000 Profifußballer und etwa vergleichbar viele Mathematikprofessoren, die aber deutlich schlechter bezahlt werden. Welcher Bereich motiviert also stärker?

Man kann leicht ausrechnen, dass das im Vergleich zu sonstigen Subventionen spottbillig wäre. Und warum sollten Wissenschaftler, die gesellschaftlich relevante Dinge erforschen und Technologien entwickeln nicht entsprechend bezahlt werden?

 

Warum sollten nicht Schülerinnen und Schüler für gute Leistungen in der Schule Prämien bekommen, 100 € für jede Klassenbeste, 1000 € für den besten Schulabschluss an jeder Schule. Man kann leicht ausrechnen, dass das im Vergleich zu sonstigen Subventionen spottbillig wäre. Und warum sollten Wissenschaftler, die gesellschaftlich relevante Dinge erforschen und Technologien entwickeln nicht entsprechend bezahlt werden? Während der Pandemie gab es viele Talkshowrunden, in denen renommierte Wissenschaftler/innen zusammen mit Politikern und Journalistinnen saßen – man kann annehmen, dass die Wissenschaftler dabei mit Abstand die Geringverdiener waren.

Warum nicht Anreize setzen?

Wieso sollten sich Jugendliche im Unterricht anstrengen, wenn Sport eher als Bildung der Weg zu einem besseren Leben ist? Also, warum nicht Anreize setzen? Gewiss, es wäre viel besser. Die Motivation käme intrinsische aus der Mathematik daraus, dass die Lernenden erkennen, dass die Dinge relevant für sie sind – aber dann ist man wieder bei der ersten Frage.

(6) Wieso das IQB nicht neu ausrichten?

Das Institut für Qualität im Bildungswesen (IQB) hat einen starken Einfluss in der deutschen Bildungslandschaft, insbesondere auf zentrale Prüfungen. Dort wird viel gute Arbeit geleistet, aber es fällt auch immer wieder auf, dass Aufgabenvorschläge von dort relativ weit von den Fachwissenschaften entfernt sind. Wieso beschäftigt man im IQB nicht mehr Fachwissenschaftler:innen? Dann könnte das IQB auch eine weitere wichtige Aufgabe übernehmen, nämlich Schulbücher und andere Lehrmaterialien auf ihre fachliche Richtigkeit und Schlüssigkeit zu prüfen. Da gab es in den letzten Jahren leider einige Anlässe für Kritik: Oft fehlt der rote Faden, fachliche Argumente sind unzureichend und Anwendungen an den Haaren herbeigezogen. Es ist nicht so, dass Schulbücher generell schlecht sind, aber es gibt Defizite, und die Verlage würden sicher davon profitieren, wenn sie kompetente Rückmeldungen von offizieller Seite bekämen.

 (7) Wieso Mathematik als Pflichtfach in der gymnasialen Oberstufe?

Es gibt eine ganze Reihe Gründe, Mathematik nur als Wahlpflichtfach anzubieten, und nur relativ schwache Gegenargumente. Die Freiwilligkeit würde den Lehrkräftemangel entschärfen und diejenigen Schülerinnen und Schüler, für die Mathematik nur eine Hürde darstellt, die ihnen aber keinen Gewinn im Leben verspricht, entlasten. Außerdem, und das ist meines Erachtens der wichtigste Grund, würde es ermöglichen, die interessierten Schülerinnen und Schüler auf einem Niveau zu bilden, das die Aufnahme eines MINT-Studiums ermöglicht. Angesichts des immer noch bestehenden Mangels in diesem Bereich wäre das gesellschaftspolitisch äußerst wünschenswert. Es gibt ein Gegenargument: Mathematik kann allgemeinbildend wirken, man kann logisches Argumentieren lernen, die Beziehung von idealisierten Konstrukten und der Realität reflektieren und philosophisch tiefe Einsichten gewinnen. Soweit das Argument, das allerdings ins Leere läuft, weil eben das im Unterricht nicht passiert.

Soweit die Fragen. Antworten wird es nicht geben, die wären zu unbequem.

 

Prof. Dr. Reinhard Oldenburg ist Mathematikdidaktiker und Lehrstuhlinhaber an der Universität Augsburg in Deutschland.

reinhard.oldenburg@googlemail.com

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