21. November 2024
Digitalisierung im Unterricht

Tafel statt Tablet?

Die Digitalisierung in den Klassen geht zu weit, sagt Bildungsforscher Klaus Zierer: Computer machen den Unterricht nicht gleich besser. Schuldirektorin Silke Müller widerspricht: Wir müssen eher dafür sorgen, dass wir den technischen Anschluss nicht verlieren. Das Interview geführt haben die ZEIT-Journalisten Tom Hoops und Mark Schieritz.

 

DIE ZEIT: Herr Zierer, Sie haben zusammen mit anderen Bildungsforschern einen Digitalisierungsstopp in den Schulen gefordert. Warum?

Klaus Zierer: Wir haben in den letzten Jahren ungeheuer viel Geld ausgegeben, um möglichst viel Technik in die Schulen reinzubringen. Dabei wissen wir aus der empirischen Bildungsforschung, dass mehr Digitalisierung nicht unbedingt die Lösung für die Probleme im Bildungsbereich ist. Im Gegenteil: Oft schadet die Technik sogar mehr, als sie nutzt. Die Verwendung eines Tablets beispielsweise führt für sich genommen weder zu einem besseren Lese- oder Schreibprozess, noch fördert sie mathematisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen.

Silke Müller: Wir müssen zwischen Technisierung und Digitalisierung unterscheiden. Ich glaube nicht, dass Technik ein Allheilmittel ist. Aber sie ist für die Kinder und Jugendlichen ein Teil der Lebensrealität, das können wir nicht ausblenden. Wir überlegen uns an unserer Schule sehr genau, wie wir technische Hilfsmittel so einsetzen, dass sie die Erreichung der Lernziele unterstützen. Aber wir müssen die Ausstattungsfrage klären – sonst stehen Lehrerinnen und Lehrer vor der Situation, dass es in einem Klassenraum vielleicht ein Smartboard gibt und in einem anderen nicht. So kann man nicht sinnvoll arbeiten.

“In Bayern gibt es jetzt den Beschluss, dass ab der fünften Jahrgangsstufe alle Kinder mit Tablets ausgestattet werden sollen. Da setzen wir einfach den falschen Schwerpunkt.”

Klaus Zierer

 

Zierer: Dennoch erleben wir einen regelrechten Digitalisierungswahn. Dabei haben wir ganz andere Probleme. Ich spreche hier zum Beispiel von der körperlichen Verfassung der Kinder, die seit Jahren schlechter wird. Wir sehen einen Anstieg der Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen. In Bayern gibt es jetzt den Beschluss, dass ab der fünften Jahrgangsstufe alle Kinder mit Tablets ausgestattet werden sollen. Da setzen wir einfach den falschen Schwerpunkt. Man sieht das übrigens auch daran, dass einige der skandinavischen Vorreiterländer inzwischen wieder zurückrudern. In Dänemark oder Schweden gibt es jetzt Schulen, die weitgehend auf Computer verzichten.

Silke Müller, 37, ist studierte Soziologin. Sie leitet seit 2015 eine Oberschule im Kreis Oldenburg, die großen Wert auf Digitalisierung legt.

ZEIT: In Schweden wurde die Debatte durch eine Stellungnahme des Karolinska-Instituts ausgelöst. Die renommierte medizinische Forschungseinrichtung sagt darin, es sei unklar, ob die Digitalisierung positive Effekte habe. Deshalb sollten zum Beispiel wieder vermehrt gedruckte Schulbücher zum Einsatz kommen.

Müller: Als diese Stellungnahme veröffentlicht wurde, haben auch bei uns Kollegen gesagt: “Siehst du, es war doch alles falsch, was wir gemacht haben.” Aber so einfach ist es nicht. Meine Kritik ist, dass das Primat der Pädagogik gegen das Primat der Technik ausgespielt wird. Dagegen müssten wir eine Strategie entwickeln, um beides zusammenzuführen. Das wäre für mich die richtige Schlussfolgerung daraus. In der Welt da draußen spielt das Digitale eine immer wichtigere Rolle. Das können wir doch nicht einfach ignorieren.

“In den Pausen haben wir ein Smartphone-Verbot. Im Unterricht wird das Gerät nur dann eingesetzt, wenn der Lehrer darin einen Mehrwert sieht.”

Silke Müller

 

Zierer: Es gab bei den Unterzeichnern der Forderung nach einem Moratorium auch Leute, die wesentlich radikaler sind als ich. Sie sagen, die ganze Technik müsse komplett raus aus der Schule, weil sie dort nichts verloren habe. So weit würde ich nicht gehen. Schulen müssen sich mit den neuen Medien auseinandersetzen. Aber sie haben auch einen Bildungs- und Erziehungsauftrag, und das bedeutet: Man muss die Geräte auch manchmal ausschalten. Entscheidend ist doch, welches Ziel ich an der Stelle verfolge. Ich glaube, wir brauchen uns in der Schule keine Gedanken zu machen, dass die Kinder mit den neuen Technologien nicht umgehen können. Das können sie. Sogar besser als viele Erwachsene. Die entscheidende Frage muss sein: Wie nutze ich die Technik so, dass sie mir als Menschen dient?

Klaus Zierer, 48, war Grundschullehrer. Seit 2015 lehrt er Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

ZEIT: Frau Müller, wie ist das an Ihrer Schule?

Müller: Wir stellen uns diese Frage ständig. Wir haben einen schuleigenen IT-Mitarbeiter, der Zugriff auf die Geräte hat, bestimmte Apps freigeben und Bildschirme sperren kann. Somit ist auch sichergestellt, dass wir entscheiden, ob ein Kind mit seinem Tablet ins Internet geht. In den Pausen haben wir ein Smartphone-Verbot. Im Unterricht wird das Gerät nur dann eingesetzt, wenn der Lehrer darin einen Mehrwert sieht. Digitale, gleiche Endgeräte haben die Kinder ab der siebten Klasse, damit es Chancengleichheit gibt. Aus demselben Grund sind alle Klassenzimmer auch gleich ausgestattet. Und natürlich haben wir noch Tafeln, damit man darauf Notizen machen kann. Das halte ich für sehr wichtig.

Zierer: Diese Chancengerechtigkeit ist ein absoluter Mythos. Den tragen wir immer vor uns her und sagen: Die Schule muss Chancengerechtigkeit herbeiführen. Und dazu sage ich ganz einfach: Es wird nie funktionieren. Schon im Mutterleib werden entscheidende Weichen für die geistige und emotionale Entwicklung gestellt. Wenn die Kinder dann in die Schule kommen, dann sind die Unterschiede so mächtig, dass sie von keinem Schulsystem der Welt aufgearbeitet werden können.

Müller: Ich stimme Ihnen zu, dass der soziale Kontext eine wichtige Rolle spielt und dass wir in der Schule da relativ spät ansetzen. Eigentlich müsste in den Kindertagesstätten viel mehr passieren. Aber ich halte es für sehr wichtig, dass wir den Kindern das Gefühl geben: In der Zeit, die sie an der Schule verbringen, spielen die sozialen Unterschiede eben keine Rolle. Mir ist klar, das ist nicht so einfach, und wir erreichen dieses Ziel womöglich nie vollständig. Aber wir sollten darauf hinarbeiten, diese Chancengerechtigkeit im Schutzraum Schule zumindest für ein paar Stunden am Tag, so gut wie es eben möglich ist, herzustellen. Deshalb halte ich die Ausstattungsfrage für so wichtig.

“Das Einzige, was ich brauche, um zu unterrichten, ist ein Bleistiftstummel. Die Pädagogik gehört ins Zentrum.”

Hans Magnus Enzensberger

 

Zierer: Ich teile diese Zielvorstellung, aber entscheidend sind aus meiner Sicht die Lehrer. Wir wissen ebenfalls aus der Bildungsforschung, dass Kinder mit Migrationshintergrund und einem entsprechenden Namen nach dem Aufrufen häufig weniger Zeit zum Nachdenken bekommen als ein Kind aus einem bildungsnahen Milieu. Damit sich das ändert, müssen die Lehrer ein Bewusstsein dafür haben, dass es auf sie ankommt, wenn im Klassenzimmer Bildungsgerechtigkeit herrschen soll. Erst dann sollten wir darüber nachdenken, wie sich digitale Medien sinnvoll in den Unterricht integrieren lassen. Dazu fällt mir sinngemäß ein Satz von Hans Magnus Enzensberger ein: Das Einzige, was ich brauche, um zu unterrichten, ist ein Bleistiftstummel. Die Pädagogik gehört ins Zentrum.

Müller: Das bestreite ich nicht, deshalb sollten wir uns genau überlegen, wie digitale Medien im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden. Analoge Prozesse digital darzustellen, ergibt keinen Sinn. Aber die Schule beeinflusst heute in noch stärkerem Maße als vor 20 oder 30 Jahren die Lebenswelt der Kinder. Sie haben diese Community der Sozialkontakte über Snapchat, TikTok oder WhatsApp, und da gibt es natürlich Konflikte. Wir machen die Erfahrung, dass wir das sehr gut aufarbeiten können, wenn wir im Unterricht Chatverläufe zeigen und darüber sprechen.

Zierer: Dazu braucht aber nicht jeder ein eigenes Tablet. Man kann auch anhand eines Ausdrucks eines Chatverlaufs einen Gesprächskreis bilden und über Werte sprechen. Auch ohne digitale Medien lässt sich eine kommunikative Atmosphäre herstellen.

Müller: Das bleibt dann aber für die Schüler sehr abstrakt. Wenn man direkt am Handy scrollt, hat das eine andere Qualität. Die Kinder haben dann das Gefühl, dass sich jemand für ihre Lebenswelt interessiert. Das darf man nicht unterschätzen. Ich stimme Ihnen zu, Herr Zierer: Schule soll ein Schutzraum sein. Wir müssen aufpassen, dass wir uns als Schule nicht zu sehr abschirmen und den Anschluss verlieren.

ZEIT: Frau Müller, Ihre Schule gilt bundesweit als Vorreiter in Sachen Digitalisierung. Was halten Sie von einem Digitalisierungsstopp?

Müller: Ich halte davon überhaupt nichts. Das können wir uns in Zeiten von künstlicher Intelligenz nicht mehr leisten. Als ChatGPT auf den Markt kam, war eine der ersten Anfragen aus dem Fachbereich Deutsch: Sollen wir es für unser Fach verbieten? Ich habe dann gesagt: Leute, wir können nicht sagen, es gibt hier eine weltweite technologische Neuerung, die vieles verändern wird, und wir verbieten sie einfach und ändern nichts an unseren Unterrichtskonzepten.

ZEIT: Was sagen Sie stattdessen?

Müller: Wir versuchen, aktiv damit umzugehen. Kinder sind da sehr clever, aber unreflektiert. Manche Schüler erzählen mir: Frau Müller, wir mussten einen Aufsatz schreiben, und ich habe ChatGPT gesagt, es soll 20 Fehler einbauen. Alles nur, damit der Lehrer nicht merkt, dass der Text von einer KI ist. Im Moment überlegen wir, wie wir Lehrpläne und Prüfungsformate so überarbeiten, dass wir die Chancen der neuen Technologie nutzen können. Man kann zum Beispiel sagen: Stelle ChatGPT verschiedene Fragen, schaue dir die Ergebnisse an, und analysiere sie. In Zukunft kann ein Teil der Wissensvermittlung vielleicht über persönliche Avatare stattfinden, eine Art Lehr-Bots. Die Lehrer selbst könnten Zeit gewinnen für persönliche Gespräche, die Kinder im Alltag nicht mehr erfahren. Ich denke da an Fragen wie: “Was wünschst du dir eigentlich für deine Zukunft?” Oder: “Was kritisierst du gerade an dem, wie du in der Gesellschaft behandelt wirst?” Das findet viel zu selten statt.

Zierer: Ich halte ein bloßes Verbot auch nicht für zielführend. Was wir zudem brauchen, sind Regulierung und Begleitung. Wir müssen Kinder befähigen, dass sie eine solche Anwendung sinnvoll nutzen. Das bedeutet: Die Technik darf ihnen nicht das Denken abnehmen, sondern soll sie zum Nachdenken anregen. Konkret: Das Kind schreibt seine Hausaufgaben selbst, aber wenn es unsicher ist, dann lässt es sich von ChatGPT Impulse geben. Doch wir wissen auch aus der Forschung, dass das bei jüngeren Schülern nicht so gut funktioniert und da die negativen Effekte überwiegen.

Müller: Dann müssen wir aber auch über die Lehramts-Ausbildung sprechen. Was mich wirklich stört: Ich habe mit Lehrern zu tun gehabt, die kamen frisch von der Universität und hatten im Studium mit Medienpädagogik höchstens am Rande zu tun.

“Ich hielte es zum Beispiel für fatal, wenn Lehrer die Unterrichtsplanung an ChatGPT auslagern. Ich muss eine Schulstunde gedanklich durchdrungen haben, damit ich die Herausforderungen im Lernprozess verstehe.”

Klaus Zierer

 

Zierer: Da gebe ich Ihnen recht. Die Lehrerbildung muss reformiert werden. 90 Prozent der Studieninhalte sind Fachkompetenz, da spielt weder Medien- noch Schulpädagogik eine Rolle. Ich hielte es zum Beispiel für fatal, wenn Lehrer die Unterrichtsplanung an ChatGPT auslagern. Ich muss eine Schulstunde gedanklich durchdrungen haben, damit ich die Herausforderungen im Lernprozess verstehe. Ein Lehrer ist im Idealfall eine Art Regisseur im Klassenzimmer. Wenn er die Vorbereitung an eine digitale Anwendung ganz und gar auslagert, wird er zum Roboter.

ZEIT: Herr Zierer, die Bundesregierung fördert die Digitalisierung mit dem Digitalpakt. Eine erste Tranche wurde bereits ausbezahlt, im Moment streiten sich Bund und Länder über die Finanzierung der nächsten fünf Jahre. Das Bundesbildungsministerium bietet 2,5 Milliarden Euro, die Länder fordern jährlich 1,3 Milliarden Euro.

Zierer: Es gibt den schönen Spruch von John F. Kennedy: Es gibt nur eines, was auf Dauer teurer ist als Bildung, nämlich keine Bildung. Aber wir müssen wegkommen von der Idee, dass es ausreicht, einfach nur mehr Geld auszugeben. Wir sollten uns darüber unterhalten, was Schule eigentlich leisten soll, wie sie ein Begegnungsort werden kann. Eine berühmte Studie hat untersucht, wie groß die Freude der Kinder am schulischen Lernen ist. Das Ergebnis: In der ersten Jahrgangsstufe sind es 100 Prozent, dann geht es runter bis 30 Prozent in der neunten Jahrgangsstufe. Für mich ein Desaster.

Müller: Ich sehe das komplett anders. Natürlich ist das ein wichtiges Thema, dennoch muss der Digitalpakt 2 sehr schnell kommen, damit wir bei der Digitalisierung nicht den Anschluss verpassen. Ehrlicherweise bräuchte es sogar entfristete Gelder hierfür. Dabei müssen endlich auch ein paar ganz praktische Fragen beantwortet werden. Zum Beispiel was eigentlich passiert, wenn ein Gerät kaputtgeht, das der Lehrer vom Bund bekommen hat, und keine Versicherung greift. Land und Schulträger sagen dann: Wir sind nicht zuständig. Am Ende ist das Gerät kaputt und liegt in einer Ecke.

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