10. Dezember 2024
Internationaler Vergleich

So schlecht steht es bei deutschen Schülern um den Bildungsfaktor der Zukunft

Kreativität gilt als Schlüsselkompetenz in der Arbeitswelt. Erstmals hat die Pisa-Studie diese Fähigkeit nun bei 15-jährigen Schülern gemessen. Die Ergebnisse überraschen: Sie widerlegen ein weitverbreitetes Vorurteil. Und: Nicht nur zwischen den Ländern offenbaren sich große Unterschiede. Wir bringen hier einen Artikel, der in der WELT erschienen ist. Autor ist der Journalist Stephan Maas.

In Niedersachsen wurde zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai ein Kreativwettbewerb für Kitas und Schulen ausgerufen. 400 Beiträge wurden eingereicht. Motto: “Meine Rechte, Deine Rechte, unsere Rechte.” Gewinner war das Gymnasium Oedeme in Lüneburg mit einem Kurzfilm der Sekundarstufe I. Für Ober- und berufsbildende Schulen gewann das Georg-Büchner-Gymnasium aus Seelze mit einer Stahlskulptur. Und die Elisabeth-Grundschule in Osnabrück überzeugte mit einem Gebärden-Video zum Grundgesetz.

Gastautor Stephan Mass, Wirtschaftsredaktor bei der WELT

Es scheint so, dass das Thema Kreativität bei den Schulen angekommen ist. “Kreativität, Innovation und kritisches Denken werden mit fortschreitender Digitalisierung und künstlicher Intelligenz viel wichtiger als Routinefähigkeiten”, unterstreicht auch Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor, im Rahmen einer am Dienstag veröffentlichten Pisa-Studie, in der es hauptsächlich um den Vergleich der kreativen Begabungen von 15-Jährigen in den 38 OECD-Mitgliedsstaaten zuzüglich etwa Hongkong oder der Palästinensischen Autonomiegebiete geht.

Erstmals gemessen

Schleicher leitet die alle drei Jahre regelmäßig erhobenen Pisa-Studien. Zum ersten Mal habe das “Programme on International Student Assessment” (deutsch: Programm zur internationalen Schülerbewertung, kurz: Pisa) das kreative Denken gemessen. Es geht um die Fähigkeit von 15-jährigen Schülern, produktiv Ideen zu generieren, zu bewerten und zu verbessern.

“Während wir uns durch die komplexen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen des 21. Jahrhunderts bewegen, ist es für Studierende von entscheidender Bedeutung, innovativ und unternehmerisch zu sein und kritisches und kreatives Denken gezielt einzusetzen”, sagt Schleicher. In vielen Berufen, insbesondere in hochqualifizierten Bereichen, werde kreatives Denken schon heute großgeschrieben.

Die aktuelle Studie beschäftigt sich also zum ersten Mal mit Kreativität, nachdem zuvor mathematische Fähigkeiten, Lesebegabung und Naturwissenschaften abgefragt wurden. Das Ergebnis räumt mit einem lang gehegten Vorurteil auf: Asiatische Schüler müssen pauken, stumpf auswendig lernen. Das sorge vielleicht für gute Noten – siehe frühere Pisa-Studien – aber erziehe nicht zu selbstständigem Denken und Kreativität.

Singapur ganz oben im Ranking

„Im Allgemeinen gehörten leistungsstarke Systeme im Bereich kreatives Denken zu denen, die ebenfalls über dem OECD-Durchschnitt in den Pisa-Kernbereichsbewertungen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften lagen“, heißt es in der Studie. Die Ergebnisse von Pisa 2022 – aus diesem Jahr stammen die Erhebungen, die Auswertung gibt es nun zwei Jahre später – zeigten, dass Schüler in Singapur mit 41 Punkten deutlich bessere Ergebnisse im kreativen Denken erzielten als alle anderen Länder.

Elf weitere Länder – etwa Südkorea, Kanada, Australien, Neuseeland, Estland, Finnland, Dänemark oder Lettland, allesamt auch vorher schon Pisa-Musterschüler – lagen beim kreativen Denken mit 35 bis 38 Punkten über dem OECD-Durchschnitt von 33 Punkten.

So viele Punkte hat auch Deutschland – nach so manchem Pisa-Debakel der vergangenen Jahrzehnte gar nicht mal schlecht, aber passgenau zu den ebenfalls durchschnittlichen Kernbegabungen Rechnen, Lesen und Naturwissenschaft. Im Mittelfeld tummeln sich auch Länder wie Litauen, Spanien und Tschechien. Mit 32 Punkten knapp dahinter liegen Frankreich, die Niederlande und Israel. Unter dem Durchschnitt liegen Länder wie Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate (beide 28), Malaysia (25), Brasilien (23) oder Marokko (15). Schlusslicht ist Albanien mit 13 Punkten.

Die wirklichen Verlierer der Studie sind allerdings die Jungs: „Die Ergebnisse von Pisa 2022 zeigen, dass Jungen in keinem teilnehmenden Land die Mädchen im Bereich kreatives Denken übertrafen“, so die Studie. Im Durchschnitt der OECD-Länder erzielten Mädchen fast drei Punkte mehr als Jungen – das sei ein großer Leistungsunterschied. Und in Jordanien, Finnland, den Palästinensergebieten, Saudi-Arabien, Jamaika, Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar hätten Mädchen mindestens fünf Punkte mehr als Jungen erreicht.

Diese Leistungsunterschiede ließen sich nicht allein durch die Leistungen der Mädchen in den Pisa-Kernbereichen erklären. Denn auch nach der Berücksichtigung der besseren Mathematik- und Leseleistung übertrafen Mädchen die Jungen im Bereich des kreativen Denkens immer noch deutlich.

„Die Ergebnisse von Pisa 2022 zeigen, dass Jungen in keinem teilnehmenden Land die Mädchen im Bereich kreatives Denken übertrafen.“

 

Das Ergebnis könne daran liegen, dass Jungs auf andere Weise kreativ sind als Mädchen oder das die gestellten Fragen Mädchen mehr ansprechen als Jungen, sagt Carmela Aprea, Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftspädagogik an der Universität Mannheim und Direktorin des Mannheim Institute for Financial Education (MIFE). Bei einem Test über Finanzwissen, in dem es um Zinseszins sowie Inflation und Aktienwissen ging, sei ihr ein Unterschied aufgefallen. „Frauen beantworten diese Fragen, nachdem sie die Aufgaben nachrechnen. Männer dagegen raten häufiger“, sagt Aprea.

“Sozioökonomisch begünstigte Schüler schneiden besser ab”

Eine weitere Benachteiligung lässt sich laut Schleicher am ärmeren Rand der Gesellschaft ausmachen. „Die Ergebnisse zeigen, dass sozioökonomisch begünstigte Schüler besser abschneiden als ihre benachteiligten Gleichaltrigen im kreativen Denken“, heißt es in der Studie. Hier gebe es auch eine Übereinstimmung mit den Werten der drei Pisa-Kernbereiche. Deshalb die Forderung der Pisa-Studie: Allen Schülern sollte die Möglichkeit geboten werden, ihr Potenzial auszuschöpfen, ihre Ideen auszudrücken und über den Tellerrand hinaus zu denken.

Ob diese Forderung durchsetzbar ist, daran zweifelt die Wirtschaftspädagogin Aprea. Die Lehrer hätten häufig gar nicht die Zeit, sich um die kreative Ausbildung ihrer Schüler zu kümmern, weil sie sich um zu viele andere Aufgaben zu kümmern hätten. In Baden-Württemberg hat sie eine Studie darüber organisiert: „Im Ergebnis machten Lehrkräfte ohne Leitungsfunktion drei Überstunden pro Woche. Das hört sich erst einmal nicht viel an, aber ein nicht unerheblicher Teil der Arbeitszeit entfällt auf Aufgaben, die mit dem Unterricht nichts zu tun haben, wie etwa Verwaltungstätigkeiten oder die Wartung der digitalen Infrastruktur“, sagt Aprea.

Zweitwichtigste Fähigkeit hinter analytischem Denken

Laut einem Bericht des Word Economic Forum wird kreatives Denken als zweitwichtigste Fähigkeit von Arbeitnehmern eingestuft, knapp hinter analytischem Denken, sagt Schleicher. Studien von Unternehmen wie LinkedIn und Deloitte kämen zu einem ähnlichen Ergebnis. „Heutzutage wird von den Arbeitnehmern erwartet, dass sie kontinuierlich nach Möglichkeiten suchen, neue Technologien zu nutzen und ihre Arbeitsmethoden anpassen, um wettbewerbsfähig zu bleiben“, sagt Schleicher.

„Tatsächlich zeigten die Daten, dass es für viele Schüler möglich ist, starke kreative Leistungen zu erbringen, ohne zu den Top-Performern in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften zu gehören.“

 

Bei kreativem Denken gehe es jedoch nicht nur darum, auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben. Es wirke auch als starker Anreiz für das Lernen selbst, aktiviere höhere kognitive Fähigkeiten und stimuliere emotionale Entwicklung sowie Belastbarkeit und Wohlbefinden.

Für schlechte Schüler gibt es aber auch noch eine gute Nachricht: Sie können trotzdem erfolgreiche Maler, Influencer oder Dichter werden. Die Pisa-Studie deute zwar darauf hin, dass die Leistungen im kreativen Denken und die akademischen Leistungen sich ergänzen – aber nur teilweise. Denn die Studie habe auch bestätigt, dass akademische Exzellenz keine Erfolgsvoraussetzung für herausragendes kreatives Denken sei, so Schleicher. „Tatsächlich zeigten die Daten, dass es für viele Schüler möglich ist, starke kreative Leistungen zu erbringen, ohne zu den Top-Performern in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften zu gehören.“

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