18. September 2024
Digitalisierung der Schule

Dänische Psychologin warnt die Schweiz: “Machen Sie es nicht so wie wir”

Dänemark verteilte iPads bei der Einschulung, um modern zu sein – jetzt sollen Verbote die “Generation von Versuchskaninchen” schützen. Eine Expertin erklärt die Kehrtwende und sieht Vorteile für die Schweiz. Das Interview erschien zuerst in der Basler Zeitung (BaZ) und wurde von der BaZ-Journalistin Nina Fargahi geführt.

Schülerinnen und Schüler des Elite-Gymnasiums in Zuoz GR dürfen ihre Mobiltelefone nur noch eingeschränkt nutzen. So will die Schule den Lernerfolg und den Austausch zwischen den Jugendlichen stärken. Die dänische Psychologin Aida Bikic hat die neuen Regeln gemacht. Im Gespräch mit dieser Redaktion zeigt sie sich beunruhigt über die Handynutzung von Kindern und Jugendlichen.

Gastautorin Nina Fargahi, Journalistin bei der BaZ

Frau Bikic, als Jugendliche waren Sie im Lyceum Alpinum im bündnerischen Zuoz, heute begleiten Sie die Schule als Psychologin und Beraterin. Warum?

Ich habe einen Teil meiner Jugend in Graubünden verbracht und bin noch immer sehr verbunden mit der Schweiz. Im August war ich auch wieder da, um mit der Schule und den Eltern in Zuoz die Vorteile eines handyfreien Internats zu besprechen.

Das Internat hat zum Schulbeginn die Handynutzung stark eingeschränkt. Die Jüngsten von der ersten bis dritten Klasse haben nur noch abends während zweier Stunden Zugang zu ihren Mobiltelefonen. Was ist der Gedanke hinter dieser Regel?

Das Gesundheitsministerium in Dänemark hat kürzlich die Empfehlung abgegeben, die Bildschirmzeit für Kinder von 5 bis 17 Jahren auf ein bis zwei Stunden pro Tag in der Freizeit einzuschränken. Fünfzehnjährige verbringen durchschnittlich vier Stunden in der Schule an Bildschirmen, zu Hause dann noch mal über fünf Stunden, meist in sozialen Netzwerken. Deshalb ist bei uns derzeit eine landesweite Debatte im Gang. Der Bildungsminister hat sich Anfang Jahr öffentlich entschuldigt und von «einer ganzen Generation digitaler Versuchskaninchen» gesprochen. Immer mehr Schulen folgen der Empfehlung des Bildungsministeriums und führen Handyverbote ein, damit sich die Konzentration und Lernfähigkeit der Schülerinnen und Schüler wieder verbessert.

“Fünfzehnjährige verbringen durchschnittlich vier Stunden in der Schule an Bildschirmen, zu Hause dann noch mal über fünf Stunden, meist in sozialen Netzwerken. Deshalb ist bei uns in Dänemark derzeit eine landesweite Debatte im Gang.”

 

Warum ist das Thema der Handynutzung in Dänemark so virulent?

Dänemark ist das meistdigitalisierte Land in Europa. Die Digitalisierung wurde sogar in den Krippen und Kindergärten eingeführt, Kinder bekamen iPads bei der Einschulung, es gibt fast keine Bücher mehr in den Klassenzimmern. Wir waren lange Zeit stolz darauf, so modern zu sein. Sogar eine Scheidung ist bei uns nur per App möglich. Die Schweiz hinkt bei der Digitalisierung hinterdrein – das kann positiv sein. Machen Sie es nicht so wie wir! 

Die Schweiz soll bei der Digitalisierung in der Schule bremsen?

Während Dänemark viel investieren muss, um in diversen Bereichen die Digitalisierung wieder einzuschränken, kann die Schweiz behutsam vorwärtsgehen und das Wissen aus anderen Ländern direkt umsetzen. In Dänemark sehen wir jetzt, was die übertriebene Digitalisierung in allen Bereichen mit unseren Kindern und Jugendlichen macht: 63 Prozent der Kinder in der 4. und 73 Prozent in der 7. Klasse verbringen lieber Zeit auf ihrem Handy als mit ihren Freunden.

“Viele Kinder schaffen es nicht mehr, sich auf eine längere Aufgabe zu konzentrieren.”

 

Mit welchen Folgen?

Die süchtig machenden Mechanismen in Games und auf Social Media sind für Kinder und Jugendliche, deren Hirn noch nicht ausgereift ist, schädlich. Sie führen zu Konzentrationsproblemen und können die kognitive Entwicklung und das Belohnungssystem beeinträchtigen. Viele Kinder schaffen es heute nicht mehr, sich auf eine längere Aufgabe oder einen Film zu konzentrieren, da sie durch die kurzen und schnellen Inhalte auf Plattformen wie Tiktok konditioniert sind.

Das Lyceum Alpinum Zuoz testet in einem halbjährigen Versuch, inwiefern Schülerinnen und Schülern davon profitieren, dass die Nutzung von Smartphones eingeschränkt wird.

Eine neue Studie zeigt auch, dass Kinder vermehrt Mühe haben, ihre Gefühle zu regulieren und Impulse zu kontrollieren. Das Problem sind auch die Eltern, die dem Kind ein iPad geben, sobald es traurig oder wütend ist. So wird es von den schwierigen Gefühlen abgelenkt, statt sie zu verarbeiten. Auch Angststörungen und depressive Symptome sind mit einem hohen Konsum verbunden. Aber das Problem ist noch viel grösser.

Erzählen Sie.

Wir sehen Fälle von 13-Jährigen, die fremde Menschen in ihren “Freundeskreisen” auf Snapchat annehmen und dann ungefragt Dickpics oder Pornos erhalten. Tiktok und Instagram sind sehr schlecht reguliert, und viele extreme Inhalte finden den Weg zu den jungen Menschen, sogar zu Kindern. Der Livestream eines Suizids etwa. In der Jugendpsychiatrie in Kopenhagen gibt jeder zweite Jugendliche mit Selbstschädigungen an, auf den Social Media dazu inspiriert worden zu sein.

“Das Problem sind auch die Eltern, die dem Kind ein iPad geben, sobald es traurig oder wütend ist. So wird es von den schwierigen Gefühlen abgelenkt, statt sie zu verarbeiten.”

 

Wie soll das konkret gehen?

Ich habe das selbst schon gesehen. Da erscheint ein scheinbar harmloses Video und sagt: “Geht es dir auch so schlecht? Hast du auch manchmal Lust, dem Ganzen einfach ein Ende zu setzen?” Solche Inhalte sind für junge Menschen, die vielleicht gerade in einer Krise stecken, höchst gefährlich. Hat man erst ein solches Filmchen gesehen, empfiehlt der Algorithmus immer mehr ähnliche Videos in den nächsten Tagen.

Werden die Social Media nicht zu sehr verteufelt?

Im Gegenteil: Wir müssen ins Handeln kommen. Wir wollen digital gebildete Menschen, aber das geht nicht mit den heutigen sozialen Netzwerken. Sie schaffen Abhängigkeiten und machen mit Absicht süchtig, damit Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange hängen bleiben und möglichst viel Werbung sehen. Der oberste Arzt in den USA hat im Juni Warnhinweise für Social-Media-Plattformen gefordert und gesagt, sie sollten wie Tabak klassifiziert werden. Wenn wir die Handynutzung unserer Kinder und Jugendlichen nicht drastisch regulieren, sind die Folgen verheerend.

“Wir wollen digital gebildete Menschen, aber das geht nicht mit den heutigen sozialen Netzwerken. Sie schaffen Abhängigkeiten und machen mit Absicht süchtig, damit Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange hängen bleiben und möglichst viel Werbung sehen.”

 

Kritiker wenden ein, so werde die freie Meinungsäusserung und die Privatsphäre beschnitten.

Tiktok und Instagram führen nicht dazu, dass unsere Kinder lernen, andere Meinungen zu tolerieren und demokratische Bürgerinnen und Bürger zu sein. Im Gegenteil, denn der Algorithmus empfiehlt immer mehr gleiche Inhalte, und man endet in Echokammern mit Gleichgesinnten, was zu Radikalisierungen führen kann. Ein gutes Beispiel sind die vielen jungen Menschen, die Influencern wie Andrew Tate folgen, der frauenfeindliche Inhalte verbreitet.

Wie geht es weiter mit dem Experiment im Internat in Zuoz?

Die Massnahmen bleiben jetzt für sechs Monate in Kraft, danach wird die Wirksamkeit evaluiert und entschieden, ob die eingeschränkte Handynutzung endgültig eingeführt wird. Ich bin sicher, dass die Konzentration in den Klassen, die sozialen Kompetenzen und die Beziehungen zwischen den Schulkindern dadurch verbessert werden. Doch warten wir das Ergebnis ab.

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Ein Kommentar

  1. Schon viel zu lange wird die exzessive Handynutzung von Kindern und Jugendlichen schöngeredet. Die klaren Worte im Interview wirken wie ein Weckruf, endlich die unerfreuliche Tatsache zur Kenntnis zu nehmen und die nötigen pädagogischen Konsequenzen zu ziehen. Es ist eine pädagogische und kulturelle Katastrophe, wenn 15-Jährige täglich insgesamt neun Stunden vor Bildschirmen verbringen und ihre Freizeit vorwiegend in den mehrheitlich unsozialen Netzwerken verbringen.

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