21. November 2024
Chancengerechtigkeit

Widersprüche bei der Debatte um Chancengerechtigkeit

Die Debatte um eine chancengerechte Volksschule reisst nicht ab. Jüngst erschienen in den Schweizer Zeitungen wieder Artikel mit entsprechend reisserischen Titeln, die sich auf die Berner TREE-Studie berufen. So zum Beispiel in der Basler Zeitung: “Schulkarriere hängt vom Elternhaus ab”, “So macht man Kinder kaputt” oder “Das Schweizer Bildungssystem ist ein Chancenvernichter”. (1) Eine Entgegnung von Condorcet-Autor Felix Schmutz.

Worum geht es? Kern der Kritik ist stets die statistische Feststellung, dass Kinder aus Akademikerfamilien zu grösseren Anteilen das Gymnasium besuchen und einen UNI-Abschluss erreichen als Kinder aus nichtakademischen Familien. Ferner wird postuliert, dass 25 Prozent der Gymnasiasten und Gymnasiastinnen aus Akademikerfamilien am Gymnasium “Minderleister” seien, dort also gar nicht hingehörten, während Kinder aus nichtakademischen Familien nur zu 12 Prozent den Sprung ins Gymnasium schafften, obwohl das Potenzial fürs Gymnasium bei deutlich mehr Kindern vorhanden wäre.

Condorcet-Autor Felix Schmutz

Annahmen der Chancenkritiker

Die Deutung der Statistik, dass Chancenungerechtigkeit vorliege, ist allerdings immer sehr einseitig. Tatsächlich geht sie stets von folgenden sechs, dauernd wiederholten oder stillschweigend vorausgesetzten Annahmen aus:

  1. Das Gymnasium und die Universität bieten die besten Bildungschancen und den aussichtsreichsten Weg zu einem guten Verdienst und damit zum sozio-ökonomischen Aufstieg.
  1. Die kognitiven Fähigkeiten sind in der Bevölkerung unabhängig vom sozialen Status und den Fähigkeiten der Eltern gleichmässig gestreut.
  1. Leute mit hohem Einkommen und Vermögen erreichen für ihre Kinder einen leichteren Zugang zum Gymnasium.
  1. Das duale Bildungssystem (Gymnasium für die Akademikerkinder, Berufs- und Attestlehre für die Nichtakademikerkinder) bestärkt nur die Ungerechtigkeit des Systems.
  1. Grund für die ungerechten Chancen ist die Selektion zum Ende der 6. Primarklasse. Die dort gestellten Weichen verunmöglichen den späteren Aufstieg ins Gymnasium. Die Zahl von 14’000 Kindern, deren Potenzial nicht ausgeschöpft werde, wird inzwischen gehandelt, obwohl völlig aus der Luft gegriffen.
  1. Kinder aus Nichtakademikerfamilien werden vom Besuch des Gymnasiums abgeschreckt, zumindest dazu nicht ermutigt.

Denkfehler 1: Der soziale Aufstieg

 Marcus Diem Meier zitiert in seinem Artikel “Wie in der Schweiz der Aufstieg gelingt” von 2020 eine Studie der Hochschule St.Gallen, die berichtet, dass mit dem Ausbau der tertiären Bildung (Fachhochschulen) die soziale Mobilität deutlich zugenommen habe. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, auch Skandinavien, schneidet die Schweiz punkto Aufstiegschancen gegenüber den Eltern statistisch klar am besten ab. Die Behauptung, das duale Bildungssystem verstärke die Ungerechtigkeit, ist damit als irrelevant und tendenziös entlarvt. (2)

Denkfehler 2: Die kognitiven Fähigkeiten

Bei den kognitiven Fähigkeiten spielt die Vererbung die entscheidende Rolle, nicht etwa das Einkommen oder das Vermögen. Dass Intelligenz eine Funktion des sozio-ökonomischen Status sei, ist durch zahlreiche Familien-, Geschwister- und Zwillingsstudien widerlegt. Die von den Chancenkritikern erwähnten Statistiken erheben die kognitiven Fähigkeiten der Eltern und der Kinder meist nicht, beziehungsweise nur indirekt aus Abschlüssen, Schulnoten und anderen Bildungsfaktoren. Aussagen darüber bleiben deshalb spekulativ.

Dass Intelligenz eine Funktion des sozio-ökonomischen Status sei, ist durch zahlreiche Familien-, Geschwister- und Zwillingsstudien widerlegt.

 

Wenn festgestellt wird, dass einige Kinder in tieferen Niveaus Mathematikaufgaben besser lösten als einige Kinder in höheren Niveaus, ist die Schlussfolgerung der Fehlzuweisung voreilig, denn in allen Niveaus gibt es in einzelnen Fächern eine breite Streuung der Fähigkeiten. Von Einzelerfolgen auf die allgemeine Leistungsfähigkeit in allen Fächern zu schliessen, ist deshalb unzulässig. Unberücksichtigt bleiben auch nicht-kognitive Faktoren wie Fleiss, Motivation, Durchhaltevermögen, etc. (3)

Denkfehler 3: Die Selektion

Der Widerspruch der Verfechter einer Schule ohne Selektion liegt darin, dass einerseits (zu Recht) moniert wird, dass minderbegabte Akademikerkinder im Gymnasium sitzen und viele begabte Nichtakademikerkinder den Weg ins Gymnasium nicht finden. Damit berufen sich die Kritiker auf ein konsequent meritokratisches Prinzip, nach dem die kognitiven Fähigkeiten entscheiden sollen, welcher Bildungsweg einem Kind zusteht. Anderseits wird die Abschaffung genau des wirklich objektiven, vom sozialen Status unabhängigen Instrumentes gefordert, das die Zuteilung in die geeignete Schulkarriere ermöglichen würde, nämlich diejenige der Selektion! Wer wirklich will, dass nur die Geeigneten an Gymnasium und Universität landen, müsste konsequenterweise eine bessere Selektion fordern und nicht deren Abschaffung.

Klar ist: Wenn es stimmt, dass Akademikereltern auch minderbegabten Kindern den Eintritt ins Gymnasium durch private Hilfe ermöglichen können, werden sie das auch tun, wenn die Selektion wegfällt. Gleichzeitig werden auch Minderleister aus Nichtakademikerkreisen leichteren Zugang zum Gymnasium finden. Dies wird zu einer Aufblähung der Gymnasien und zu einer gigantischen Niveausenkung der gymnasialen Bildung führen, wie dies Deutschland und Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten erfahren haben. Die Maturität wird dann die Studierfähigkeit nicht mehr garantieren können.

Wer wirklich will, dass nur die Geeigneten an Gymnasium und Universität landen, müsste konsequenterweise eine bessere Selektion fordern und nicht deren Abschaffung.

 

Die Entlastung der Gymnasien von Ungeeigneten könnte nur durch eine rigorose Verbesserung der Selektion erreicht werden, indem die tatsächlichen allgemeinen kognitiven Fähigkeiten durch geeichte Tests erhoben würden. Nur so könnte eine meritokratisch abgesicherte Zuteilung garantiert werden, welche die Kritiker des jetzigen Verfahrens vorgeben zu wünschen.

Denkfehler 4: Prestige

Gegen die Vorstellung, dass das Gymnasium für Akademikerkinder den grössten Bildungserfolg und den besten sozio-ökonomischen Statuserhalt garantiere, dass andererseits der gymnasiale Weg für Nichtakademikerkinder nicht zu empfehlen oder zu teuer sei, ist schwer anzukommen. Die Kritiker der Volksschule haben letztlich kein Rezept gegen diese Vorurteile. Im Gegenteil: Sie befeuern sie durch die Interpretation ihrer Statistiken, bei denen das Gymnasium als das erstrebenswerteste Ziel fungiert.

Die von der Berner TREE-Studie erhobenen Daten und deren Verbreitung in populistischer Aufmachung befeuern letztlich nur die alten Vorurteile.

 

Forderungen nach Abschaffung der Selektion oder der Noten oder nach altersdurchmischten und integrativen Schulmodellen tangieren das soziale Prestigedenken nicht wirklich. Wenn es nicht gelingt, die Bildungsmodelle des Gymnasiums und der Berufslehre als gleichberechtigte Chancen glaubhaft darzustellen und die schulischen Zuteilungen sinnvoll einzufädeln, wird sich durch die vorgeschlagenen Massnahmen kaum Wesentliches ändern. Die von der Berner TREE-Studie erhobenen Daten und deren Verbreitung in populistischer Aufmachung befeuern letztlich nur die alten Vorurteile.

 

(1) Dominik Balmer, Svenson Cornehls, Mathias Lutz, Schulkarriere hängt vom Elternhaus ab, Basler Zeitung, 13.08.2024

     Marco Maurer, Das Schweizer Bildungssystem ist ein Chancenvernichter, Basler Zeitung, 13.08.2024

     Nina Fargahi, «So macht man die Kinder kaputt» – wenn für Akademikereltern nur das Gymi zählt,   Basler Zeitung, 15.08.2024

(2) Marcus Diem Meier, Wie in der Schweiz der Aufstieg gelingt, Basler Zeitung, 18.08.2020

(3) Dazu ausführliche Daten in: Gary N. Marks, Education, Social Background and Cognitive Ability, Oxford 2014.

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Ein Kommentar

  1. Zu ergänzen wäre noch, dass gerade durch selbstorganisiertes Lernen, die Vernachlässigung der Grundlagenfächer und die Marginalisierung des Lehrers zum Coach ebenfalls dazu führen dürfte, dass Kinder aus weniger gebildeten Familien weniger gut zurechtkommen. Auch dürfte ihnen die nötige Unterstützung und Hilfe der Eltern fehlen.

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