16. September 2024
Klassenkampf im Schulzimmer

Ist die Schule eine Chancenkillerin?

Die Schweizer Volksschule ist von vorgestern. Sie ist ungerecht, und ihre Lehrkräfte sind es auch. Sie zerstören gezielt die Chancen “sozial schwacher” Kinder. Dieses Bild malt zumindest der “Tages-Anzeiger” in einem bildungspolitischen Schwerpunkt. Die Unterdrückung und der Klassenkampf beginnen demnach schon im Kindergarten. Condorcet-Autorin Claudia Wirz setzt ein grosses Fragezeichen hinter dieses klassenkämpferische Narrativ über Bildungsgerechtigkeit in der Schweiz.

Marco Maurer, Redaktor beim “Tages-Anzeiger”, hält offenkundig nicht sehr viel von den Fähigkeiten von “weniger bildungsaffinen” Eltern. Sie schaffen es seiner Meinung nach nicht, ihre Kinder gedeihlich auf dem Weg zum Erwachsenwerden zu begleiten. So würden sie, schreibt er, ihren Kindern einen kleineren Wortschatz beibringen als bessergestellte Eltern, und sie würden ihre Kinder seltener in die Kita schicken, was der Autor als Defizit empfindet. Offenbar ist er der Meinung, dass die Kita der bessere Ort für die Erziehung ist als die eigene Familie. Maurer spricht – ganz der klassenkämpferischen Tradition verpflichtet – durchgehend in Kollektiven und nicht etwa von Individuen. Die “weniger Bildungsaffinen” sind für ihn genauso eine homogene Gruppe wie die Bessergestellten, und die Klassengrenzen sind so scharf und undurchlässig wie einst im Ständestaat.

Journalistin und Condorcet-Autorin Claudia Wirz

Gezielte Diskriminierung

Doch diese sozialkritische Auslegeordnung ist erst der Anfang des Übels, das sich Bildungsungerechtigkeit nennt. Denn die Kinder aus weniger bildungsaffinen Haushalten leiden nicht nur unter wenig talentierten Eltern, sie werden laut Maurer und seinem Autorenteam auch im Kindergarten und später von ihren Lehrerinnen und Lehrern aktiv am Fortkommen gehindert. Denn in der Schule würden die Kinder aus bildungsfernen Familien gezielt davon abgehalten, eine gymnasiale Laufbahn anzustreben, schreibt er.

Glaubt man dem “Tagi” beziehungsweise diesem publizistischen Schwerpunkt zum Thema Bildungsgerechtigkeit ist die Schweizer Volksschule mitsamt dem Lehrpersonal nicht eine Anstalt zur Wissensvermittlung, sondern eine zur Chancenvernichtung und zur Zementierung der Klassengesellschaft. Diesen Befund macht der Autor an der Gymnasialquote fest. Kommt ein Kind aus einer bildungsfernen Familie nicht ans Gymnasium, steckt für ihn Diskriminierung dahinter; einen anderen Grund kann es nicht geben.

Nur das Gymnasium zählt

Überdies sind die Berufslehre und ihre nachgelagerten Bildungsangebote für die “Tagi”-Autoren keine valable und schon gar keine ebenbürtige Alternative. Warum der Weg über die Berufsbildung nichts taugen soll, bleibt allerdings ihr Geheimnis. Das Einzige, was zählt, um Gerechtigkeit zu messen, ist die Gymnasialquote. Die meisten Kinder aus “bildungsfernen” Familien blieben, was sie seien, schreibt Maurer: Nichtakademiker. Und Nichtakademiker zu sein, ist für ihn ein Makel, ein unterdrückerisches Defizit.

Bildungssoziologe Rolf Becker: “Schule aus dem 19. Jahrhundert”

Der “Tagi” bezieht sich in seinem Bildungsschwerpunkt auf eine von vielen Studien, die die Gymnasialquote mit der sozialen Herkunft verknüpfen und daraus ein Diskriminierungsnarrativ ableiten. Ausgiebig wird der aus dem deutschen Dillingen stammende Berner Professor und Bildungssoziologe Rolf Becker zitiert, der an der Studie federführend beteiligt ist. Der Schweiz attestiert der Professor eine “Schule aus dem 19. Jahrhundert”.

Lieber sucht man vermeintliche Unterdrücker, denn das ist einfacher, und man kann die alte Leier immer wieder neu zum Klingen bringen.

 

Die Befunde und das Framing der Studie sind insofern nichts Neues. Altbacken sind auch die Rezepte, die Kommentator Marco Maurer präsentiert, um das vermeintliche Übel zu beseitigen: mehr Geld, mehr “bezahlbare” Kitas, keine Selektion – für Selektion gibt es laut Professor Becker keine wissenschaftliche Begründung – und mehr Betreuung, also all das, wofür die Schweiz mit ihrem weltweit vermutlich teuersten Schulsystem schon seit Jahrzehnten grosszügig Geld ausgibt, was aber laut dem “Tagi”-Kommentator offenbar bisher nichts gefruchtet hat, im Gegenteil. Die Ungleichheiten seien sogar noch grösser geworden.

Von Fleiss und Preis

Nun ist es tatsächlich so, dass es im Leben der allermeisten Menschen ohne Fleiss keinen Preis gibt. Er kenne keinen einzigen Unternehmer, der nur 40 Stunden pro Woche arbeite, sagte kürzlich der Astrophysiker und ehemalige Nasa-Direktor Thomas Zurbuchen an einem Anlass in Bern. Es reiche nicht, Hilfe zu bekommen; man müsse den Erfolg auch wollen. Das gilt nicht nur in Wirtschaft und Forschung, sondern auch für die Schule. Das klassenkämpferische Narrativ über Bildungsgerechtigkeit in der Schweiz lässt aber nicht einmal im Ansatz den Gedanken zu, dass Schulerfolg nicht nur mit finanziellen Ressourcen der Eltern, sondern auch und vor allem mit Fleiss, Disziplin und Lernfreude zu tun hat. Lieber sucht man vermeintliche Unterdrücker, denn das ist einfacher, und man kann die alte Leier immer wieder neu zum Klingen bringen.

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