20. Dezember 2024
Politik an Schweizer Schulen

Ist unser Bildungssystem wirklich woke?

Im Gespräch mit drei Expertinnen haben wir unsere Bildungslandschaft auf ideologische Verzerrungen abgeklopft – und auf die Möglichkeiten politischer Bildung. Der Beitrag ist zuerst in den Tamedia-Medien erschienen.

Werden unsere Kinder in der Volksschule ideologisch beeinflusst? FDP-Präsident Thierry Burkart brachte jüngst im Gespräch mit dieser Redaktion den Vorwurf auf. Die Partei versucht, sich neu als Bildungspartei zu positionieren. Aber ist der Vorwurf gerechtfertigt? Wie sieht politische Bildung in der Schweiz aus?

Gastautorin Alexandra Kedves, Redaktorin Ressort Leben beim Tages-Anzeiger

Dazu befragt haben wir Schulleiterin und Gemeinderätin Yasmine Bourgeois (FDP) von der Stadtzürcher Sachkommission Schul- und Sportdepartement, Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), sowie Nationalrätin Simona Brizzi (SP), Mitglied der Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur.

Burkarts These lautet: “Heute werden in den Schulen teilweise fragwürdige Ideologien und woke Weltanschauungen verbreitet.” Die Schule selbst hat sich hingegen den Auftrag gegeben, Themen ausgewogen darzustellen. Wie Deutschland hat auch die Schweiz als Richtschnur für politische Bildung den «Beutelsbacher Konsens» von 1976. Gemäss diesem besteht ein Indoktrinationsverbot: Schülerinnen und Schüler sollen zu mündigen Bürgern herangebildet werden, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Sie sollen zudem ihre eigenen Interessen erkennen und lernen, sich konstruktiv für diese einzusetzen.

Von links: Yasmine Bourgeois, Dagmar Rösler und Simona Brizzi. (Bilder: Keystone (2), Dominique Meienberg)

Welche Haltung vertreten die Schulen?

Weiter gilt: Wird ein Thema in Politik oder Wissenschaft kontrovers diskutiert, müssen die unterschiedlichen Standpunkte im Unterricht zur Sprache kommen. Lehrpersonen dürfen ihre persönliche Perspektive einbringen, wenn sie diese als solche kennzeichnen.

Der LCH beschreibt es in seinem Positionspapier von 2024 so: “Die Schule soll parteipolitisch und religiös neutral sein, aber nicht wertneutral. Lehrpersonen und Lehrmittel sollen demokratische und humanistische Werte vermitteln.”

Für Simona Brizzi ist Burkarts Vorwurf deshalb “nicht nachvollziehbar”. Und sie betont, dass die Ziele des Lehrplans 21 fix festgelegt seien und die zugehörigen Lehrmittel einen Bewilligungsprozess durchlaufen. “Der Lehrplan enthält keine Aufträge zur Vermittlung spezifischer Haltungen und Einstellungen”, unterstreicht sie.

“Die Schule soll parteipolitisch und religiös neutral sein, aber nicht wertneutral. Lehrpersonen und Lehrmittel sollen demokratische und humanistische Werte vermitteln.”

Aus dem Positionspapier von 2024 des LCH

Schulleiterin Bourgeois kontert: “Leider höre ich immer wieder, wie an Schulen von Lehrpersonen oder externem Personal einseitige politische Statements abgegeben werden. Bei meiner Tochter wurde einmal eine externe ‘Expertin’ engagiert, die das Thema Ernährung besprach. Die Dame erklärte den Kindern tatsächlich, dass der Einkaufszettel wie ein Wahlzettel sei und auf die politische Ausrichtung hindeute.”

Manche Lehrmittel, so Bourgeois, würden im Lehrerkommentar auch darauf hinweisen, dass jüngere Kinder gut beeinflussbar seien, weshalb man gewisse Themen schon früh ansprechen solle. “Solche Lehrmittel gehören nicht in die Schulen.” Zudem kritisiert sie, dass man an Schulen “des öfteren” Aufrufe für politische Anliegen wie zur Klimademo, zum Frauenstreik oder zur 1.-Mai-Demo finde.

Sind ideologisch verzerrende Lehrmittel typisch?

Dagmar Rösler verweist auf das geltende Gebot, Lehrmittel politisch neutral zu verfassen und Schülern die Möglichkeit zu bieten, eine eigene Meinung zu entwickeln. Thierry Burkart dagegen kritisierte als Beispiel ein Schulbuch, in dem Alfred Escher als direkter Profiteur der Sklaverei bezeichnet werde.

Tatsächlich gibt es an Zürcher Sekundarschulen ein neues Lehrmittel – “Zürich und der Kolonialismus” –, das Yasmine Bourgeois als “politisch links gefärbt” betrachtet. Problematisch sei etwa dessen Umgang mit dem Begriff “Weiss”: Es würden damit Menschen bezeichnet, die das Privileg hätten, keine negativen Rassismuserfahrungen zu machen, und die andere unterdrückten. Das gebe Schülerinnen und Schülern “das Gefühl, Weisse beziehungsweise unsere Gesellschaft sei per se rassistisch. Weisse werden pauschal verurteilt.”

Allerdings: Struktureller Rassismus ist auch in der Schweiz real existent, wie 2022 in einer Grundlagenstudie für den Bund differenziert aufgearbeitet wurde.

Dass wiederum Heinrich Escher seiner Familie den Erwerb einer Kaffeeplantage mit über 80 Sklavinnen und Sklaven auf Kuba ermöglichte, die während 25 Jahren von seinem Bruder Friedrich Ludwig betrieben wurde und die Heinrich Escher danach wieder verkaufte, ist für Bourgeois kein Beleg, dass sein Vermögen durch den Plantagenbesitz und den Einsatz von Sklaven entstanden ist. Dies zu suggerieren, sei falsch.

Eine Lehrmittelanalyse im Auftrag der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus stellte 2023 ihrerseits fest, dass heutiger Rassismus in den Lehrplänen nicht richtig verankert sei und, wenn überhaupt, meist historisch oder mit Blick auf andere Länder wie die USA dargestellt werde, aber kaum als Wirklichkeit im Nahbereich. Migration wiederum werde primär nach vorgefertigten Erklärungsansätzen abgehandelt, die die Migrationsforschung seit langem kritisch diskutiere. Die Lehrpersonen erhielten nur wenig Hilfestellungen zum Thema.

Dabei verlange der heterogene Hintergrund der Schülerschaft nach kenntnisreichem Umgang mit diesen Fragen, so LCH-Präsidentin Rösler. Sie wehrt sich dagegen, dass der Begriff “woke” als Schimpfwort verwendet wird, und bezieht sich, wie sie sagt, auf dessen Duden-Definition “aufmerksam und engagiert sein gegenüber rassistischer, sexistischer und sozialer Diskriminierung”. Sie ergänzt: “So gesehen, muss die Schule woke sein. Denn die Volksschule ist die letzte Klammer der Gesellschaft, wo viele verschiedene Kulturen, Religionen, soziale Schichten und Familienmodelle zusammenkommen. Nur in einer Kultur des gegenseitigen Respekts und der Toleranz kann Schule für alle funktionieren.”

Politische Bildung ab welchem Alter?

Das Positionspapier des LCH fordert eine politische Bildung ab der Primarstufe bis und mit Sek-II-Stufe, sowohl im Fachunterricht als auch fach- und klassenübergreifend. Politische Bildung und Demokratiekompetenz erlerne man schon im Kindergarten, betont Rösler. Wie man Kompromisse finde, bei Meinungsverschiedenheiten vorgehe: All dies werde früh eingeübt. Später gehe es darum, sich über ein politisch aktuelles Thema informieren, darüber in einer Gruppe diskutieren und sich eine eigene Meinung bilden zu können – und für diese auch einzustehen. “Hier kommt vielleicht wieder das ‘Woke’ ins Spiel: Niemand darf aufgrund seiner Meinung diskriminiert werden. Daran sind hoffentlich alle interessiert.”

Demokratische Prozesse sollten in partizipatorischen Projekten in der Klasse sowie auch ausserhalb der Schule erlebbar gemacht werden, heisst es im Papier. Simona Brizzi zählt als Exempel etwa Planspiele auf, Besuche des Kantonsrats oder Schuleinladungen von verschiedenen Politikerinnen.

Yasmine Bourgeois sieht es ähnlich: “Bereits im Kindergarten kann und soll kritisches Denken und Diskutieren gefördert werden. Selbstverständlich mit altersgerechten Themen.” Und ab einer bestimmten Altersstufe solle durchaus politisch diskutiert werden, “aber ohne einseitige Beeinflussung, sondern ausgewogen”. Zudem sei es “wichtig, den Kindern ein Verständnis für gesellschaftliches Engagement mit auf den Weg zu geben”.

Gehört ein Wahlrecht mit 16 Jahren dazu?

“Eher ja”, urteilt Rösler. Man müsse junge Menschen viel stärker in Entscheidungsprozesse einbinden, viel mehr partizipieren lassen, damit sie sich früh für Politik und Gesellschaft engagieren wollen. “Da kann noch viel getan werden, und hier ist nicht nur die Schule gefragt.”

Bourgeois spricht ein klares Nein. “Wer politische Rechte will, muss auch Pflichten erfüllen. Es ist nicht sinnvoll, 16-Jährige über Dinge entscheiden zu lassen, die sie selbst nicht tragen oder finanzieren müssen.”

“Die Schule braucht das Vertrauen der Gesellschaft, dass sie es ‘gut’ macht und die jungen Leute nicht infiltriert.”

Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)

 

In Pfäffikon ZH erwirkten ultrachristliche Eltern die Kündigung eines schwulen Lehrers. Greift die fundamentalchristliche Ideologie eher ins Schulgeschehen ein als die inkriminierte Wokeness-Ideologie?

Simona Brizzi sagt: “Das hätte nicht passieren dürfen. Ich bin für eine klare Trennung von Kirche und Staat.” Dagmar Rösler entdeckt in dem “tragischen Pfäffiker Fall” aber auch etwas Positives: Alle seien auf der Seite des Lehrers gewesen. “Das spricht doch wieder für die Schweizer Bevölkerung und ihre Solidarität gegenüber Minderheiten.”

Noch mehr politische Bildung: Zu viel Lernstoff?

Laut Brizzi ist der Lehrplan 21 in einem zehnjährigen Prozess entstanden und wird regelmässig überprüft und justiert. Rösler räumt ein, es sei schwierig, einmal eingeführte Fächer oder Themen zu streichen. Sie verweist aber darauf, dass politische Bildung auch ausserhalb der Schule möglich sei und Demokratieerfahrungen wie konstruktive Auseinandersetzungen in der Familie, im Jugendtreff oder unter Freunden stattfinden könnten. Diesen Ansatz unterstützt auch Bourgeois: Eltern und Erziehung spielten da eine bedeutende Rolle. Rösler erklärt allerdings nachdrücklich: “Die Schule braucht das Vertrauen der Gesellschaft, dass sie es ‘gut’ macht und die jungen Leute nicht infiltriert.”

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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2021).

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