18. November 2024
13 Fragen zu Schule und Bildung an Prof. Mathias Binswanger*

«Das duale Bildungssystem ist eine der grössten Stärken der Schweiz»

Mit Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre, beginnen wir eine Serie von Interviews, in denen sich einflussreiche Denker und Persönlichkeiten zu ihrer Schulbiographie äussern und auf aktuelle Bildungsfragen eingehen. Verantwortlich für dieses Interview ist Claudia Wirz.

Herr Prof. Binswanger, wussten Sie schon als Primarschüler, dass Sie später einmal Professor für Ökonomie werden würden?

 Nein, ich hatte nicht das geringste Interesse an Ökonomie. Meine Interessen oszillierten zwischen Jazz, Chemie und Film.

Claudia Wirz, Journalistin, neu für den Condorcet-Blog arbeitend, führte das Interview.

Haben Sie Ihre eigene Schulzeit grundsätzlich in guter Erinnerung?

Die Primarschulzeit habe ich in guter Erinnerung, vor allem deshalb, weil die Schule für das Lernen nur eine geringe Rolle spielte. Wichtig waren die Freunde und die gemeinsamen Erlebnisse. Das einzig schlimme Fach war Zeichnen. Da fehlte mir jedes Interesse und Talent.

Hat Ihnen die Schule – mit Blick auf Ihr späteres Leben und Ihre spätere Laufbahn – das Richtige beigebracht?

Ja, sonst wäre ich ja nicht Professor geworden.  Wir lernten grundlegende Dinge wie «korrekt Schreiben», «Kopfrechnen», oder als Steinerschüler bis zur 6. Klasse auch Stricken und Häkeln. Habe ich zwar wieder verlernt, aber das Training von Kopf und Händen ist wichtig.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung unter anderem mit den Auswirkungen des Wettbewerbs. Halten Sie es grundsätzlich für richtig, dass es auch im Schulzimmer Wettbewerb gibt? Oder anders gefragt: Ist das Wettbewerbsprinzip auch Kindern zuzumuten?

 Kinder brauchen manchmal einen zusätzlichen Anreiz über Wettbewerbe, um etwas zu lernen. Aber diese Wettbewerbe sollten nicht dominieren. Das Leben in der Schule sollte nicht in erster Linie darauf ausgerichtet sein, bei irgendwelchen Prüfungen möglichst gut abzuschneiden.

Albert Einstein, war kein schlechter Schüler.

Wettbewerb in der Schule setzt voraus, dass man Bildungsleistungen misst und miteinander vergleicht. Aber kann man Bildung im jugendlichen Alter überhaupt messen? Schliesslich gibt es prominente Schulversager, die später Grossartiges geleistet haben, etwa Einstein oder Churchill.

Häufig wird später auch mit Schulversagen kokettiert und in Wirklichkeit war Einstein gar kein so schlechter Schüler. Aber tatsächlich werden gemessene Schulleistungen überbewertet. Bildungsleistungen entsprechen einem bunten Strauss unterschiedlichster Fähigkeiten. Diese lassen sich nur partiell messen.

In der Volksschule werden Schulleistungen nicht nur gemessen, es wird auch nach Leistungsniveaus selektioniert. Halten Sie das Einteilen in Leistungsniveaus in der Volksschule für sinnvoll?

Eine Einteilung in Leistungsniveaus macht bis zu einem gewissen Grad Sinn, um gute Lernumgebungen zu schaffen. Aber damit sollte man nicht zu früh beginnen. Doch irgendwann im Leben kommt eine Selektion. Die Frage ist nur, ob früher oder später.

Sowohl dauernder Notendruck als auch die völlige Abschaffung von Leistungsbewertungen sind falsch. Es geht darum, ein vernünftiges Mass zu finden. Doch fast immer wird in die eine oder andere Richtung übertrieben.

Noten, Selektion und Hausaufgaben stehen unter starkem Druck. Manche Bildungsreformer halten sie für unfair, weil sie ihrer Ansicht nach Kinder aus bildungsaffinen Haushalten bevorteilen. Sie wollen Noten und Hausaufgaben im Sinne der «integrativen Schule» abschaffen. Was halten Sie davon?

Man muss das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Sowohl dauernder Notendruck als auch die völlige Abschaffung von Leistungsbewertungen sind falsch. Es geht darum, ein vernünftiges Mass zu finden. Doch fast immer wird in die eine oder andere Richtung übertrieben.

Kann in einer Schule ohne Noten und Selektionsdruck der Leistungswille bei den Schülern und Schülerinnen überhaupt gedeihen? Vergisst man dabei nicht die guten Schüler, die zeigen wollen, was sie können?

 Die guten Schüler sind nicht das Problem. Die lernen auch ohne Schule. Es sind vor allem die «normalbegabten» Schüler, die immer wieder mal einen Anreiz brauchen, um sich anzustrengen.

Der sogenannte Nachteilsausgleich erlaubt, dass ein Schüler oder eine Schülerin in einem bestimmten Fach aufgrund einer Einschränkung nicht oder weniger streng beurteilt wird als die anderen. Es handelt sich also um eine Art Subvention. Mittlerweile hat man das Gefühl, dieses Instrument werde – wie jeder Anreiz – gezielt bewirtschaftet. Auf jeden Fall sorgt es nachweislich für viel strategischen Gedankensport unter Schülerinnen und Schülern. Führen solche Instrumente tatsächlich zu mehr Fairness in der Schule?

 Nein, diesen Ansatz halte ich für falsch. Darunter leidet das allgemeine Bildungsniveau. Die Schule sollte dafür sorgen bzw. garantieren, dass Schüler einige grundlegende Fähigkeiten beherrschen, die naturgemäss vor allem auch Fächer wie Deutsch oder Mathematik betreffen. Es geht darum, Schüler mit Schwächen nicht zu diskriminieren und sich zu überlegen, wie sie speziell gefördert werden können.

Dank des dualen Bildungssystems kann man in der Schweiz auch ohne Gymnasium eine erfolgreiche Karriere machen, wenn man will. Sollte man nicht vielmehr darauf bauen als auf eine Schulreform, die versucht, möglichst allen «gerecht» zu werden und niemanden – etwa mit einer schlechten Note – zu «verletzen»?

Das duale Bildungssystem gehört zu den grossen Stärken der Schweiz. Dieses System setzt nicht einseitig auf schulische Bildung, sondern erlaubt es auch Jugendlichen mit mehr praktischen Fähigkeiten entsprechend Karriere zu machen. Leider gefährden wir dieses System aber in der Schweiz zunehmend selbst, indem wir die Lehre abwerten und zu einer Ausbildung zweiter Klasse machen.

Der Fachkräftemangel sollte uns Hinweis genug sein, nicht mehr möglichst hohe Maturitätsquoten anzustreben, sondern stattdessen die Lehre wieder aufzuwerten und den Berufsstolz bei Lehrlingen zu pflegen.

Rund ein Viertel aller Fünfzehnjährigen in der Schweiz kann nicht gut lesen oder versteht Gelesenes nicht. Rund ein Fünftel erreicht die mathematischen Mindestanforderungen nicht, und dies, obwohl die Schweiz eines der teuersten Bildungssysteme der Welt unterhält. Was halten Sie davon?

Das ist im Ausland nicht besser und hängt auch mit dem hohen Anteil von Ausländern in der Schweizer Bevölkerung zusammen. Trotzdem sollte es uns eine Warnung sein, um wieder verstärkt darauf zu achten, dass die Schule elementare Fähigkeiten tatsächlich vermittelt.

Was sind angesichts dieser Zahlen und Ihrer Erfahrungen als Hochschullehrer und Ökonom Ihre Wünsche an die Weiterentwicklung des Schweizer Schul- und Bildungssystems?

Wir müssen das duale Bildungssystem wieder als eine der grossen Stärken des Schweizer Bildungssystems anerkennen. Der Fachkräftemangel sollte uns Hinweis genug sein, nicht mehr möglichst hohe Maturitätsquoten anzustreben, sondern stattdessen die Lehre wieder aufzuwerten und den Berufsstolz bei Lehrlingen zu pflegen. Der Schweizer Traum muss wieder leben: vom Lehrling zum CEO!

*Mathias Binswanger gehört zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Binswangers Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen. Er ist Autor der Bestseller “Die Tretmühlen des Glücks” (2006) und “Sinnlose Wettbewerbe” (2010).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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BILDUNG SCHWEIZ ist das Organ des LCH, der Dachorganisation der schweizerischen Lehrerverbände. Im Gegensatz zum Condorcet-Blog ist die Zeitschrift “Bildung Schweiz” der Digitalisierung des Unterrichts gegenüber sehr positiv eingestellt. Zumindest lassen dies die Mehrheit der Beiträge und die Auswahl der in ihr schreibenden Autorinnen und Autoren vermuten. Ein Beispiel dafür ist das “Interview” mit einer “spannenden Persönlichkeit” (Originalzitat), verbunden mit dem Versprechen, dieser auf den Zahn zu fühlen. Allerdings merkt man, dass die Eigenschaft, den Interviewpartnern auf den Zahn zu fühlen, nicht zu den Kernkompetenzen dieses Magazins gehört. Nando Stöcklin, wissenschaftlicher Mitarbeiter der PHBern im Fachbereich Digital Learning Base äussert sich euphorisch zu den Möglichkeiten digitaler Technik im Unterricht und sieht vor allem das “Spielpotential”. Im Interesse eines offenen Diskurses veröffentlichen wir diesen Beitrag und danken der Redaktion von “Bildung Schweiz” für die Erlaubnis dafür.

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2 Kommentare

  1. Der Mythos vom schlechten Schüler Einstein ist offenbar unausrottbar. Hier die Maturnoten in der Personalakte Albert Einsteins der Aargauischen Kantonsschule von 1896:
    Deutsch 5, Französisch 3, Italienisch 5, Geschichte 6, Geographie 4, Algebra 6, Geometrie 6, darstellende Geometrie 6, Physik 6, Chemie 5, Naturgeschichte 5, Kunstzeichnen 5, technisches Zeichnen 4. Sind das die Noten eines schlechten Schülers? (Quelle: Joseph Boesch, Weltgeschichte, Vierter Band, Die neueste Zeit, 1966, S. 308)

  2. Liebe Frau Wirz, lieber Herr Binswanger

    Ich danke Ihnen für das gute Interview mit dem Titel “Das duale Bildungssystem ist eine der Stärken der Schweiz”, welches im Condorcet-Bildungsblog vom 26.7.24 erschienen ist.

    Bei der letzten Frage von Frau Wirz erwähnen Sie, dass (Zitat) der Berufsstolz bei Lehrlingen vermehrt gepflegt werden soll”. Ich stimme Ihnen – insbesondere auch auf dem Hintergrund des Fachkräftemangels – vollumfänglich zu. Die Wirtschaft braucht kompetente Arbeitskräfte an der Basis.

    Ich habe dazu einen Beitrag verfasst, den ich Ihnen beide gerne zuschicke, wenn ich Ihre Mails erhalte.

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