Emcke unterbreitete den Zuhörern einen radikalen Vorschlag: Warum nicht einfach aufhören, mit Leuten zu reden, die ganz anderer Meinung sind als man selbst? So profan hat sie es natürlich nicht gesagt, schließlich ist sie eine der höchstdekorierten Autorinnen Deutschlands. Wenn Emcke spricht, schweben Engel durch den Raum.
“Wir müssen es abschaffen“
Das klang in dem Fall dann so: „Ich würde wirklich dazu aufrufen, dass niemand, der eingeladen wird in einer Rahmung, die Pro und Kontra heißt, teilnimmt. Ich würde wirklich inständig darum bitten, es muss aufhören.“ Beifall.
„Wir müssen aufhören, diese Rahmung zu bedienen. Es wird uns beständig vorgemacht, es gäbe zu allen Fragen gleichermaßen wertige, gleichermaßen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist, mit Verlaub, einfach Bullshit. Wir müssen es abschaffen.“ Beifall. „Also bitte, lassen Sie sich nicht einladen in diese Formate. Es ist wirklich eine systematische Zerstörung von vernünftigem, rationalem, differenziertem Diskurs.“
Hallo Condorcet, bei dieser Charakterisierung habt ihr meiner Meinung nach nicht richtig geurteilt. Ihr habt Emcke falsch verstanden. Die Ablehnung des Pro- und Kontra-Formats hat nichts mit Dialogverweigerung oder Diskursverweigerung zu tun. Pro- und Kontra-Debatten sind z.B. allgemein in der Wissenschaft (und folglich auch in der Bildung und Erziehung) nicht akzeptabel, sondern die Diskussion läuft darüber, was das Problem ist, welche Methoden richtig und wie die Resultate zu interpretieren sind. Dabei bleiben die Ergebnisse der Diskussion immer offen: Pro- und Kontra-Diskussionen sind im Gegensatz dazu vollkommen geschlossen: Man muss für oder gegen eine Position unter Ausschluss aller anderen sein und es kommt nicht zur Sprache, wer eigentlich das Format definiert hat: Dieser letzte Punkt ist tatsächlich hoch problematisch. In dem Sinne finden Pro- und Kontra-Diskussionen auch immer in einem weitestgehend sehr unkritischen Geiste statt, und das ist auch für die Bildung kein gutes Modell.
Herr Schorderet, Pädagogik, Soziologie, Philosophie u.a. sind keine exakten Wissenschaften wie Mathematik, Physik, Biologie. Es sind Disziplinen, die auf Interpretationen von Zuständen, Entwicklungen und Zusammenhängen beruhen und Theorien und Hypothesen aufstellen. Je nach weltanschaulichem Zugang entstehen ganz unterschiedliche Deutungen, die (gerade in der Pädagogik) schnell zu Dogmen werden. Solche Dogmen werden von ihren Vertretern gerne als “wissenschaftliche Erkenntnis” ausgegeben und führen in der Bildungspolitik oft zu Reformen, die wegen der Einseitigkeit der zugrunde liegenden Hypothesen zum Scheitern verurteilt sind. Das rechtfertigt auf jeden Fall konträre Debatten, in denen die Schwächen der Theorien aufgezeigt werden.. Debatten dieser Art sind in den exakten Wissenschaften müssig, denn bis zur Falsifizierung einer Theorie gilt diese als wahr. Bisher ist es niemandem gelungen, die Formel E = mc2 zu falsifizieren. Hingegen hat sich die Mengenlehre in der Primarschule nach einem Jahrzehnt von selbst erledigt, und dem “Schreiben nach Gehör” wird es in Bälde ebenso ergehen, obwohl beides das Lernen revolutionieren sollte. Die Verweigerung der Diskussion führt letztlich in den Totalitarismus.