Die Fakten: In der Oberstufe Wädenswil möchte man die Noten abschaffen. Farben sollen sie ersetzen.
Warum das wichtig ist: Seit Jahren wird die Schweizer Schule reformiert, seit Jahren werden die Schweizer Schüler immer schlechter. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang?
Es war einmal eine Sekundarschule in Wädenswil. Sie hatte einen guten Ruf, besonders bei uns Eltern, denn die Schülerinnen und Schüler lernten viel. Wir wohnen in Wädenswil, und drei unserer fünf Kinder gingen in diese Sekundarschule – zur allgemeinen Zufriedenheit, insofern man das von Kindern sagen kann, die natürlich, so auch unsere Kinder, der Meinung waren, sie hätten ihre Zeit auch gescheiter einsetzen können: Im Wald etwa mit der Pfadi. Oder vor dem Fernseher. Welches gesunde Kind lernt denn gerne, wenn draussen die Sonne scheint?
Die Oberstufe Wädenswil (OSW) besass einen hervorragenden Ruf, stand aber unter dem Verdacht, allzu altmodisch zu sein, was ihre Methoden und Inhalte anbelangte. Wenn man unter sich war (nicht wir, aber andere besorgte Bürger), wurde gar getuschelt, ein paar der Lehrer stünden der SVP nahe. Horribile dictu. Zu Deutsch: Uiuiui.
In der OSW wurde zum Beispiel die «Lernlandschaft» installiert, genannt «Lilo», wo Schüler machen, was sie wollen, pardon: sie lernen, wie man selbstbestimmt lernt, und dabei noch Spass empfindet, auch wenn das die meisten Erwachsenen bis ins hohe Alter nicht fertigbringen, auch die meisten Lehrer übrigens nicht.
Irgendwann wurden diese Lehrer dann Gott sei Dank pensioniert, und Wädenswil entwickelte ganz eigene Ambitionen, jedenfalls deren Politiker. Wädenswil wurde zum Standort der Moderne. Ein Paris der Bildungsstürme, ein Petrograd der permanenten Bildungsrevolution.
Kein Stein blieb auf dem anderen. Und auch die Sekundarschule Wädenswil, dieser Hort der Reaktion, wurde befreit.
In der OSW wurde zum Beispiel die «Lernlandschaft» installiert, genannt «Lilo», wo Schüler machen, was sie wollen, pardon: sie lernen, wie man selbstbestimmt lernt, und dabei noch Spass empfindet, auch wenn das die meisten Erwachsenen bis ins hohe Alter nicht fertigbringen, auch die meisten Lehrer übrigens nicht.
Lernlandschaft?
Unser jüngste Sohn Hans erlebte sie als Lernwüste, – was ihm allerdings nichts ausmachte, denn er machte einfach nichts, oder fast nichts. Während andere (meistens die Mädchen) fleissig ihre Aufgaben erledigten, konzentrierte er sich auf Videogames, die er ebenso fleissig absolvierte.
Wer intelligent ist, weicht der Mühsal aus. So ist der Mensch, so war Hans. Wir mussten ihn in einer anderen Schule unterbringen. Er lernte gar nichts mehr. Er verdurstete und verdorrte in der Lernlandschaft.
Die Revolution frass ihre Kinder.
Wenn etwas eine Revolution auszeichnet, dann der Zwang, immer weiter zu revolutionieren. Nie ist die Menschheit befreit. Nie die Oberstufe Wädenswil. Jetzt sollen die Noten aufgehoben werden. Nicht ganz, aber ein erster Schritt wird unternommen. Wir befinden uns in einer «Erprobungsphase».
Und das geht so:
- Zu Anfang des Semesters legt der Schüler selber fest, was für eine Note er erreichen will
- Eine 5 in Deutsch zum Beispiel (im Leseverstehen) oder eine 4,5 in Mathematik
Dann beginnt das Schuljahr, und es kommen viele Prüfungen auf ihn zu. Wenn der Schüler seine Arbeit zurückerhält, findet er aber keine Noten mehr, sondern der Lehrer («Lehrperson» im Revolutionsdeutsch) malt eine Farbe aufs Blatt:
- Hat der Schüler seine eigene Zielnote (etwa 6 statt 5 in Deutsch) übertroffen, dann erscheint Pink
- Hat er sie exakt erreicht, dann Grün
- Liegt er darunter, dann Orange
Damit möchte die OSW allen Schülern «Erfolgsergebnisse» ermöglichen, «indem wir uns am individuellen Lernstand» orientieren, wie es in einem vertraulichen Papier heisst, das mir vorliegt.
Triumph des Minimalismus. Ist das neuerdings eine Tugend?
«An der OSW setzen sich die Schüler:innen mit ihrem individuellen Anspruchsniveau auseinander», heisst es weiter auf Quarkdeutsch.
Mit anderen Worten:
Wer schlau ist, setzt sich eine Zielnote, die eindeutig unter seinem Potential liegt, das beschert ihm dauerhaft «Erfolgserlebnisse», (und mehr Zeit, um Videogames zu studieren)
Triumph des Minimalismus. Ist das neuerdings eine Tugend?
Gewiss, die OSW betont, dass für die «Setzung der Zielnote» die Lehrer und die Eltern miteinbezogen werden. Es wird mit dem Schüler also über dessen Noten verhandelt. Was für ein Heidenspass.
Wir Eltern müssen demnach nicht nur den Lehrer bezahlen, der seine Arbeit nicht mehr ausführt, sondern wir haben die Arbeit auch noch für ihn zu erledigen. Denn darum geht es am Ende (abgesehen von der Ideologie der Anti-Leistungsgesellschaft, dazu in einem nächsten Memo mehr):
- Der Lehrer (obwohl die meisten Lehrer das gar nicht verlangen), wird von scheinbar mühseligen Aufgaben entlastet
- Denn es ist mühselig, einem Schüler eine schlechte Nachricht in Form einer schlechten Note zu überbringen. Er mault, sie weint, die Eltern holen den Anwalt
- Stattdessen wird dem Lehrer sehr viel Bürokratie aufgebürdet, denn das Management dieses neuen «Notensystems» ist kein Vergnügen. Ich habe die entsprechenden Excel-Tabellen gesehen: Horror
«Wir sind der Überzeugung, dass die Noten häufig lernhinderlich sein können», steht in diesem Papier.
Aha. Haben wir je darüber abgestimmt? Gibt es dafür empirische Evidenz? Wer ist da «Wir»? Was an unseren Schulen derzeit unter dem Radar der Öffentlichkeit von ungewählten, aber von uns bezahlten Funktionären vorangetrieben wird, ist tatsächlich eine Revolution.
Lenin fragte 1917 schliesslich auch keinen Russen, ob er in den nächsten 74 Jahren in der Sowjetunion leben möchte.
Übrigens dürfen die Lehrer laut Papier der OSW im «Hintergrund» dann doch Noten setzen, ohne sie dem Schüler aber zu zeigen: eine 6, wenn Lernziel übertroffen, eine 5, wenn erreicht, eine 4 für «teilweise erreicht», 3, wenn «nicht erreicht»
«Im Hintergrund».
Oder um es mit William Shakespeare, einem englischen Schriftsteller, der sich nie in der Lilo aufhielt, zu sagen: «Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.»
Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Tag
Markus Somm
Einstein hat sich nicht geirrt, sondern musste einsehen, dass auch das Universum sich ausdehnt. Und zwar mit immer schnellerer Geschwindigkeit. Dennoch eilt die Dummheit der Lichtgeschwindigkeit immer voraus. Wädenswil hat es bewiesen. Den Nobelpreis für Philologie bitte 2024 nach Wädenswil.
Es war einmal ein Schulleiter, leider. Er konnte die Schule nicht leiden und auch nicht leiten. Trotzdem versuchte er es und und leitete leider deren Untergang ein mit dem Segen des bildungsbürokratischen Elfenbeinturms, der nur mit einer entsprechenden Leiter erstiegen werden kann. Leider.
Sicher ist der satirische Beitrag von Markus Somm sehr zugespitzt, aber im Kern enthält der Text viel traurige Wahrheit. In zwei Dritteln der Lernzeit an der Wädenswiler Sekundarschule wird zwar nach wie vor auf bewährte Weise unterrichtet, doch jede dritte Lektion steht für das Konzept des Selbstlernens zur Verfügung. Wenn man weiss, dass die Lehrkräfte unter der stofflichen Überfülle des aktuellen Lehrplans stöhnen, fragt man sich, wie viel wertvolle Unterrichtszeit da verloren geht. Selbstorganisierter Unterricht ist in der Regel weit weniger ergiebig als eine Stoffvermittlung mit direkter Instruktion im gemeinsamen Klassenrahmen. Viele Schüler schweifen beim Selbstlernen ab, manche langweilen sich und die Schwächeren fühlen sich oft im Stich gelassen. Nur unter sehr günstigen Vorzeichen kann selbstorganisierter Unterricht zum schulischen Erfolg ein Stück weit beitragen.
Was bleibt auf der Strecke, wenn das Selbstlernen in viel zu hoher Dosis verordnet wird? Oft trifft es die Realienfächer, die für unzählige Selbstlernexperimente verwendet werden. Statt im Geschichtsunterricht von spannenden Schilderungen ihrer Lehrerin gepackt zu werden und im lebendigen Dialog im Klassenverband die Inhalte zu vertiefen, ist meist abgeschottetes Selbstlernen beim Abarbeiten eines Fragenkatalogs angesagt. Jugendliche haben ein Recht auf schulische Höhepunkte in den Realienstunden. Doch dafür braucht es die unmittelbare Präsenz einer Lehrerin, die von ihrem Fach erfüllt ist und inhaltlich etwas zu bieten hat. Für diese Aufgabe müssen die Lehrkräfte über ein gutes Fachwissen verfügen und ihre ganze Gestaltungskraft für einen attraktiven Unterricht aufwenden. Das beansprucht die Lehrpersonen in der Regel intensiver als begleitendes Coaching in Selbstlernstunden.
Die Frage der Effizienz des Unterrichts darf nicht einfach ausgeklammert werden. Nur weil das Selbstlernen herrliche schulische Träume ermöglicht, heisst das noch lange nicht, dass diese damit auch verwirklicht werden können. Zu vieles erweist sich als Schaumschlägerei, wenn man genauer hinsieht. Eine Schule, die sich zum Ziel setzt, mit konzentriertem Lernen den Jugendlichen Leistungsfreude zu vermitteln, wird die Zahl der Selbstlernlektionen klar begrenzen und mehr Wert auf einen von der Lehrerin direkt geführten Unterricht legen. Wohl die meisten Lehrpersonen würden aufatmen, wenn ihnen statt unnötiger Selbstlernlektionen wieder mehr Wochenstunden für Geschichte und Geografie zur Verfügung ständen. Und sicher hätten die Jugendlichen nichts gegen einen gehaltvolleren Unterricht einzuwenden.
Hanspeter Amstutz nennt ein wesentliches Argument. Beifügen möchte ich einen organisatorischen Gedanken. Wenn die Schulleitung SOL im Pensum fest verankert, ist das nicht nur eine Reduktion der Unterrichtszeit, die eine Lehrperson im direkten Zusammenwirken mit den Lernenden hat, sondern auch eine inhaltliche Gängelung. Die Selbstlernphase kann nicht dann eingesetzt werden, wenn sie vielleicht tatsächlich sinnvoll wäre, sondern sie muss, unabhängig von der Stoffbehandlung, zu einem festgelegten Zeitpunkt stattfinden. Es ist diese Gängelung, die ich immer als störend und kontraproduktiv empfunden habe.