20. Dezember 2024
Ein Essay über die Erziehlehre «Levana» des deutschen Schriftstellers und Pädagogen Jean Paul Friedrich Richter (1763-1825) – Teil 2

«Denn alles Lehren ist mehr Wärmen als Säen» Teil 2

Levana ist in der römischen Mythologie die Schutzgöttin der Neugeborenen, deren Beistand angerufen wurde, wenn ein neugeborenes Kind dem Vater zu Füssen gelegt wurde, damit er durch Aufheben (levare) dasselbe als das seinige anerkenne und zur Erziehung übernehme. Die Quintessenz dieses theoretisch-pädagogischen Werkes, das in seiner skurrilen, verschnörkelten Weise nicht nur das Leben, sondern auch die Pädagogik in Dichtung verwandelt, bringt Jean Paul im Vorwort zur zweiten Auflage von 1811 mit folgenden Worten zum Ausdruck: «Leben belebt Leben, und Kinder erziehen besser zu Erziehern als alle Erzieher. Lange vor der ersten Levana waren überhaupt Kinder (d.h. also Erfahrungen) dessen Lehrer und die Bücher zuweilen die Repetenten.» * Wir bringen den Teil 2 des Essays unseres Condorcet-Autoren Georg Geiger.

«Hingegen über die Erziehung schreiben heisst beinahe über alles auf einmal schreiben» 

Im Juli 1805 begann Jean Paul mit der Arbeit an seinem pädagogisch-theoretischen Werk «Levana», das kein geschlossenes wissenschaftliches System sein sollte und dessen Eklektizismus sowohl bei den Leserinnen aus den adligen und bildungsbürgerlichen Kreisen wie beispielsweise bei Herders Witwe oder beim sonst Jean Paul gegenüber sehr reservierten Goethe  auf äusserst positive Resonanz stiess. Kurz nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches, nach der Niederlage Preussens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt gegen die Truppen Napoleons  im November 1806 beendet er das Ergänzungsblatt zur Erziehlehre. Das in einer Auflage von 2500 Exemplaren erschienene Werk zählte in dieser Zeit zu den beliebtesten Büchern Jean Pauls, so dass 1808 sogar ein «Wörterbuch zur Levana» erschien.

Condorcet-Autor Georg Geiger, pensionierter Gymnasiallehrer, Basel-Stadt

«Levana oder Erziehlehre» ist in 9 sogenannte «Bruchstücke» aufgeteilt, wobei das letzte als «Schlussstein» bezeichnet wird. In der Vorrede zur ersten Auflage von 1806 macht er gleich zu Beginn klar, von wem er sich inspirieren liess und wer ihn in seiner Pädagogik prägte: «Er hat nicht alles gelesen, was über die Erziehung geschrieben worden, sondern etwa nur eines und das andere. Rousseau’s Emil nennt er zuerst und zuletzt. Kein vorhergehendes Werk ist seinem zu vergleichen;» Pestalozzi wird dann noch namentlich als der «stärkende Rousseau des Volkes» gelobt.

Erstes Bruchstück: Der Stellenwert der Erziehung

 Im ersten Kapitel geht es um die «Wichtigkeit der Erziehung», die Jean Paul mit einer fiktiven «Antrittsrede im Johanneum-Paulinum, oder Erweis, dass Erziehung wenig wirke» beginnen lässt: «Verehrtestes Scholarchat, Rektorat, Kon- und Subrektorat, Terziat! Werteste Lehrer der untern Klassen und Kollaboratores! Ich drücke , hoff’ ich, mein Vergnügen, als letzter Lehrer in unserer Erziehanstalt angestellt zu sein, nach meinen Kräften aus, wenn ich meinen Ehrenposten mit dem Erweise antrete, dass Schulerziehung sowie Hauserziehung weder üble Folgen haben, noch andere. Bin ich so glücklich, dass ich uns allen eine ruhige Ueberzeugung von dieser Folgenlosigkeit zuführe: so trage ich vielleicht dazu bei, dass wir alle unsere schweren Aemter leicht und heiter bekleiden – ohne Aufblähen – mit einer gewissen Zuversicht, die nichts zu fürchten braucht;»

Wer aber erzieht denn nun gemäss Jean Paul wirklich? Es ist der «Volks- und Zeit-Geist», der mit dem Prinzip der Wiederholung und der «lebendigen That» erziehe.

 

Wie entlastend ist es doch, dass Jean Paul seine Erziehlehre mit einem solchen Plädoyer für heitere pädagogische Bescheidenheit beginnt! Das können wir uns auch in unserer Gegenwart zu Herzen nehmen! Wer aber erzieht denn nun gemäss Jean Paul wirklich? Es ist der «Volks- und Zeit-Geist», der mit dem Prinzip der Wiederholung und der «lebendigen That» erziehe. «Kein Volkslehrer bleibt sich so gleich, als das lehrende Volk.» Und dadurch, dass er die schulische Bildung in ein gesellschaftliches Ganzes setzt, kommt er auch zu dem Schluss, «dass wir wenig oder nichts durch Erziehung wirken.» Denn es sind viele Kräfte, die auf das Kind einwirken: «Das Schulgebäude der jungen Seele besteht nicht aus blossen Hör- und Lehrzimmern, sondern auch aus dem Schulhof, der Schlafkammer, der Gesindestube, dem Spielplatze, der Treppe und aus jedem Platze. Himmel! Welche Verwechslungen  anderer Einflüsse immer zum Vorteil und Vorurteil der Erziehung!»

Das Buch als Inbegriff des Wahren und Guten

Die Erfindung des Buchdruckes ist gemäss dem Redner für die Schule von zentraler Bedeutung: «Nun ist keiner mehr allein, ja nicht einmal eine Insel im fernsten Meer», wobei das Buch zum Inbegriff des Wahren und Guten wird: «Die Bücher stiften eine Universalrepublik, einen Völkerverein, oder eine Gesellschaft Jesu im schönern Sinne». Zwar bewirke das Buch, «dass kein Volk einen unverfälschten, mit keinen fremden Farben besprengten Blumenflor mehr ziehen» könne, aber andererseits sei «durch das ökumenische Concilium der Bücherwelt kein Geist mehr der Provinzialversammlung seines Volkes knechtisch angekettet»! Das tönt ähnlich wie die Lobeshymnen zu Beginn des Internet-Zeitalters!

Ein Hoch auf die frühkindliche Erziehung

Zum Schluss des ersten Bruchstückes erfolgt noch ein Plädoyer für die Bedeutung der frühkindlichen Erziehung: «Daher giebt man der Erziehung den Rat, im ersten Lebensjahre am meisten zu thun, weil sie hier mit halben Kräften mehr bewegt als im achten mit doppelten bei schon entfesselter Freiheit und bei der Vervielfältigung aller Verhältnisse; und wie Wirtschafter im Nebel am fruchtbarsten zu säen glauben, so fällt ja die erste Aussaat in den ersten und dicksten Nebel des Lebens.»

An dieser Stelle taucht noch eine stereotype Figur auf, die durch die ganze Erziehlehre hindurch immer wieder erwähnt wird, ohne dass auf sie auch nur an einer einzigen Stelle (!) näher eingegangen würde: es geht um «den Wilden» oder «den Neger». In der Vorrede taucht er zum ersten Mal auf, wenn dort von der «Unwissenheit der Wilden» die Rede ist, «welche Schiesspulver säeten, anstatt es zu machen». Dieser einfältig-naive Wilde wird auch im Zusammenhang mit der Bedeutung der «Sittlichkeit» in der frühkindlichen Phase nochmals erwähnt: «Der innere Mensch wird, wie der Neger, weiss geboren und vom Leben zum Schwarzen gefärbt.»

Fragwürdige rousseauistische Idealkonzeption: bei der Geburt sind wir alle rein, weiss, unschuldig – auch die Schwarzen….

Gegen jede biologische Plausibilität erzählt Jean Paul hier diesen Unsinn über die Hautfarbe bei der Geburt eines schwarzen Menschen, denn der Typus des Wilden soll seine rousseauistische Idealkonzeption des reinen Menschen von der individuellen auf die gattungsmässige Ebene der Menschheit heben und so zur Natur des Menschen erklärt werden: bei der Geburt sind wir alle rein, weiss, unschuldig, und erst der Prozess der Zivilisation färbt ab und macht uns dunkler. Es ist anzunehmen, dass Rousseau für den stereotypen, völlig unhistorischen Jean Paulschen «Wilden» die Inspirationsquelle war.

Als das «eigentlich tückische Erbe von Rousseau» bezeichnen Graeber/Wengrow aber nicht die Idee des «edlen Wilden», sondern die des «faulen Wilden».

 

Wer Interessantes zu diesem Aufklärungsstereotypus erfahren möchte, dem oder der empfehle ich das erste Kapitel «Abschied von der Kindheit der Menschheit» des englischen Archäologen David Wengrow und des vor vier Jahren verstorbenen US-amerikanischen Anthropologen David Graeber in ihrem grossartigen Werk «Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit» aus dem Jahre 2022. Die beiden Autoren machen darin klar, dass es keine «lineare Geschichte vom Naturzustand des besitzlosen, egalitären Jägers und Sammlers zum kriegerischen Bauern mit Privatbesitz» gegeben habe, wie es Alexandra Böhm in ihrer Rezension in der Basler Zeitung vom 5. Februar 2022 gut verständlich zusammenfasst.

Rousseau und die europäische Aufklärung waren für diese falsche Erzählung zentral. Obwohl Rousseau seine Ueberlegungen zum «edlen Wilden» lediglich als unhistorisches Gedankenexperiment verstand, klingt sein Narrativ als evolutionsmässige Abfolge bis in die aktuellen Werke von Yuval Noah Harari und Jared Diamond nach. Als das «eigentlich tückische Erbe von Rousseau» bezeichnen Graeber/Wengrow aber nicht die Idee des «edlen Wilden», sondern die des «faulen Wilden». In dieser Variante wird er uns auch noch in den weiteren Bruchstücken von Jean Pauls aufklärerischem Erziehungsbuch immer wieder begegnen.

Zweites Bruchstück: Ueber den «Geist und Grundsatz der Erziehung».

Es beginnt mit einer Tirade gegen egoistische Eltern und duckmäuserische Lehrer: «Viele Eltern erziehen die Kinder nur für die Eltern, nämlich zu schönen Steh-Maschinen, zu Seelen-Weckern, welche man so lange nicht auf das Rollen und Tönen stellt, als man Ruhe begehrte.» Und er doppelt heftig nach, indem er die Reduzierung von Bildung auf reine Ausbildung kritisiert: «Verwandt den Lehrmeistern, welche Maschinenmeister zu sein wünschten, sind die Erzieher nach aussen und zu Staatsbrauchbarkeit, eine Maxime, die, rein durchgeführt, nur Zöglinge oder Säuglinge gäbe, allfolgsam, knochenlos, abgerichtet, alltragend – (…) – das Staatsgebäude würde von toten Spinnmaschinen, Rechenmaschinen, Druck- und Saugwerken, Oelmühlen und Modellen zu Mühlen, Saugwerken, zu Spinnmaschinen u.s.w. bewohnt.»

Was hält er dem entgegen? Diesen wunderbar einfachen Satz: «Gleichwohl ist der Mensch früher als der Bürger und unsere Zukunft hinter der Welt und in uns grösser, als beides:» Und seine Kritik umfasst auch die Kirche: «Viel davon gilt sogar gegen die häuslichen Waisenhausprediger, welche die ganze Kinderzucht in eine Kirchenzucht und Bibelanstalt verwandeln und die frei- und frohgeborenen Kinderseelen in gebückte Kloster-Novizen.»

Interesse für metaphysische Urbedürfnisse

Jean Pauls Gottesverständnis sprengt die kirchlichen Mauern und verhilft dem Individuum zu einer emanzipatorischen Freiheit: «Erinnere dich, dass du ein Mensch, erinnere dich, dass du ein Gott oder Vice-Gott bist, auch für Kinder gälte!» Das erwachte Selbstbewusstsein paart sich mit der Einbettung in die Dimension des unüberschaubaren Ganzen in einem ganz aktuellen Sinne des heutigen ökologischen Bewusstseins im Sinne eines Bruno Latour: «Je älter die Erde wird, desto leichter kann sie als Alte prophezeien und wird prophezeien. Aus der Vorwelt spricht ein Geist, eine alte Sprache, zu uns, die wir nicht verstehen würden, wenn sie uns nicht angeboren wäre. Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschaut.»

Für diesen «religiösen Sinn» im Sinne eines «metaphysischen Urbedürfnisses» (H.Pfotenhauer) interessiert sich Jean Paul auch in der Pädagogik. Und die Poesie und die Philosophie spielen dabei fast eine wichtigere Rolle als die Theologie. Sie sollen helfen, das Kind mit Widerstandskräften auszurüsten, um «der Entkräftung des Willens, der Liebe, der Religion» begegnen zu können. Die Religion  ist für ihn keine «Nationalgöttin» mehr: «Wo Religion ist, werden Menschen geliebt und Tiere und alles All. Jedes Leben ist ja ein beweglicher Tempel des Unendlichen.»

Der rechte Glaube bezieht sich nicht auf das Dogma, «sondern auf die Erblindung gegen das Ganze».

 

Wie soll das Kind in diese spirituelle Welt geführt werden? Seine Antwort: «Durch Beweise nicht.» Und nur diejenigen können Religion lehren, «als wer sie besitzt.» Und der rechte Glaube bezieht sich nicht auf das Dogma, «sondern auf die Erblindung gegen das Ganze.» Jean Paul liefert hier wichtige Hinweise für den Umgang mit dem Religiösen in der Welt der Erziehung, die auch heute noch hoch aktuell sind. Und natürlich «giebt es keinen schöneren Priester für die junge Seele, der sie vor dem Hoch-Altar der Religion gleichsam unter Tänzen und Entzückungen führe und geleite, als der Dichter ist, welcher eine sterbliche Welt einäschert, um auf ihr eine unsterbliche zu bauen».

Jean Paul war spirituell radikal

Auch Pfotenhauer würdigt diese spirituelle Radikalität von Jean Paul: «Deshalb sei dem Kind und uns als seinem Erzieher auch jede Religion  heilig wie die eigene. Selbst wer nur an das Unendliche, an das Göttliche in der Natur glaube, nicht an den Unendlichen selbst, einem personifizierten Gott, wer also wie Spinoza alles Leben für heilig und wundersam halte, habe und gebe Religion, da das Höchste immer den Höchsten spiegle. Jean Paul geht hier, um seiner liberalen, unorthodoxen Religionspädagogik willen, weit, sehr weit: Sein Freund Jacobi bezeichnet solchen Spinozismus als Atheismus, weil darin kein persönlicher Gott mehr vorkomme. Jean Paul aber ist die anthropologische Herleitung des Religiösen als einem menschlichen und somit auch kindlichen Grundbedürfnis wichtiger als philosophische Linientreue.»

Drittes Bruchstück: «Wann fängt die geistige Erziehung ihr Werk an?»

Auf diese gleich zu Beginn gestellte Frage folgt umgehend die dezidierte Antwort: «Bei dem ersten Atemzuge des Kindes, aber nicht früher.» Früher, das wäre die Zeit des Embryos in der Gebärmutter, deren Bedeutung Jean Paul mit gröbster Rhetorik kleinredet: «Himmel! Wenn der Ekel an Speisen und Menschen, die Gier nach Unnatürlichkeiten, die Furcht, die Weinerlichkeiten und Schwächlichkeiten so geistig einflössen, dass der Mutterleib die erste Adoptionsloge und Taubstummenanstalt der Geister, und die Weiblichkeit das Geschlechtskuratorium der Männer wäre: welche sieche, scheue, weiche Nachwelt fortgepflanzter Schwangerer! – Es gäbe keinen Mann mehr – jeder lebte und thränte und gelüstete und wäre nichts.»

So wie der stereotypisierte Wilde unreflektiert durch die Erziehlehre geistert, so patriarchal pauschalisierend nimmt Jean Paul grossmaulig das Wort «Weib», nicht «Frau»!, ständig in den Mund und geht von einer natürlichen, Gott gegebenen wesensmässigen Unterschiedlichkeit von «Weib» und «Mann» aus, die in allen Kapiteln immer wieder thematisiert wird. Er will unter keinen Umständen, «dass die Neun-Monate-Mutter über Geistes- und Körper-Gestalt entscheide», denn mit dem ersten Atemzug tritt der Vater in der zentralen Rolle des Erziehers auf: «Endlich kann das Kind zum Vater sagen: Bilde höher, denn ich atme.»

«Alles Erste bleibt ewig im Kinde»

Die ersten paar Lebensjahre sind in der Entwicklung des Menschen für Jean Paul entscheidend, denn: «Alles Erste bleibt ewig im Kinde» und so müsse man «beim Kinde einen ersten Abschnitt der drei ersten Jahre machen, innerhalb welcher es, aus Mangel an Kunstsprache, noch im tierischen Kloster lebt und nur hinter dem Sprachgitter der Naturzeichen mit uns zusammen kommt.» Anfangs verlange der Säugling nur Wärme: «Und was ist Wärme für das Menschenküchlein? – Freudigkeit.» Er nennt es auch Heiterkeit im Gegensatz zu Verdruss und Trübsinn und grenzt es ab von Genuss: «Wenn der Genuss eine sich selber verzehrende Rakete ist, so ist die Heiterkeit ein wiederkehrendes lichtes Gestirn, ein Zustand, der sich, ungleich dem Genusse, durch die Dauer nicht abnützt, sondern wiedergebiert.» Und hier kommt das Spiel ins Spiel: «Spiele, d.h. Thätigkeit, nicht Genüsse erhalten Kinder heiter.» Und dieses Spielen bezeichnet er als die «erste Poesie des Menschen».

«Das frühe Spiel wird ja später Ernst.»

 

Dabei dürfe die das Kind umgebende Wirklichkeit nicht zu reich sein, das schade nur der Phantasie: «Folglich umringt eure Kinder nicht, wie Fürsten-Kinder, mit einer Kleinwelt des Drechslers; reicht ihnen nicht die Eier bunt und mit Gestalten übermalt, sondern weiss;  sie werden sich aus dem Innern das bunte Gefieder schon ausbrüten.» Kinder sollten vor allem mit Kindern spielen und Kinder sollten durch Kinder geschult werden.» Das Spielen und Treiben meint er «ernst- und gehaltvoll an sich und in Beziehung auf ihre Zukunft», denn: «Das frühe Spiel wird ja später Ernst». Er plädiert dafür, dass sich die Kleinkind-Erzieher als «Freuden- und Spielmeister» verstehen. (Was würde Jean Paul wohl zu den Lernberichten in unseren heutigen Kindergärten sagen?) Er propagiert leere Spielzimmer, Spielgärten und Spielschulen vor den Lernschulen. «Das Kind tändle, singe, schaue, höre;» Dabei ist ihm das Sprechen das «schönste und reichste Spiel»! Auch lobt er in diesem Zusammenhang den Tanz und die Musik.

Tiere und Wilde hätten nie Langeweile und der Tanz könne nicht früh genug kommen.

Jean Paul setzt den Prozess der Individuation in Analogie zur Evolution der Gattung Mensch: «In der Kindheit der Völker war das Reden Singen; dies werde für die Kindheit der Einzelwesen wiederholt.» Und schon wieder taucht «der Wilde» auf , wenn er im Zusammenhang mit der Bedeutung des Spielens das Kind als «halb Tier, halb Wilder» versteht. Tiere und Wilde hätten nie Langeweile und der Tanz könne nicht früh genug kommen: «Tanz ist unter allen Bewegungen die leichteste, weil sie die engste und vielseitigste ist; daher der Jubel nicht ein Renner, sondern ein Tänzer wird; daher der träge Wilde tanzt und der müde Negersklave, um sich nach und durch Bewegung wieder zum Bewegen anzufachen;» Hier erfährt man implizit auch, dass eine der Quellen, was denn nun ein «Wilder» eigentlich für Jean Paul sein soll, wohl aus der Welt der Sklaverei stammt.

«In der Kindheit der Völker war das Reden Singen; dies werde für die Kindheit der Einzelwesen wiederholt.»

 

Das sechste Unterkapitel «Gebieten, Verbieten, Bestrafen und Weinen» beginnt mit einer klaren Abgrenzung zu seinem grossen Vorbild: «Diesen Paragraphen könnte Rousseau nicht schreiben, denn er war anderer Meinung.» Er glaubte nämlich gemäss Jean Paul, dass der Zögling sich von selbst und ohne äusseren Zwang zum Guten entschliesse, wenn er «die schlimmen oder guten Folgen seines Thuns regelmässig zu tragen habe und alle erzieherische Einwirkung, alles Belohnen und Strafen nicht als solches, sondern ebenfalls als eine natürliche, notwendige Folge seines Verhaltens sich ihm darstelle.»

Bestrafen soll nie zu einer Schandstrafe werden

Jean Paul dagegen plädiert für «entschiedene feste Strenge und Kraft ohne Nachgeben, im Wechsel mit längerer Milde und Liebe». Er ist gegen zu viel bestrafendes Reden und Belehren, stattdessen empfiehlt er das konsequente Schweigen. Das Nachzürnen lehnt er auch ab, höchstens ein «Nachleiden» sei erlaubt. Am schlimmsten ist für ihn das pauschalisierende Richten: «Was schon als Klugheits-, ja Gerechtigkeits-Regel gegen Erwachsene zu befolgen ist, dies gilt noch mehr als eine gegen Kinder, die nämlich, dass man niemals richtend ausspreche z.B.: Du bist ein Lügner, oder (gar) ein böser Mensch, anstatt zu sagen: Du hast gelogen, oder böse gehandelt.» Das Bestrafen soll nie zu einer Schandstrafe werden und der elterliche Gram wegen kindlichem Ungehorsam soll nie mit schmerzendem Spott vermischt werden.

Eine patriarchale Stereotypisierung der Geschlechterrollen, dass es fast nicht zum Aushalten ist.

Beim Thema Strafe taucht «der Wilde» öfters auf in Kombination mit einer patriarchalen Stereotypisierung der Geschlechterrollen, dass es fast nicht zum Aushalten ist. Die väterlichen Verbote werden nach Ansicht Jean Pauls aus folgenden Gründen besser erfüllt als die mütterlichen: «der erste, seine stärkere und doch weit vom Zorne entlegene Stimme, ist schon angesagt. Der zweite ist, dass der Mann meistens, wie der Krieger, immer nur Ein und folglich dasselbe Schlag- und Wurzelwort und Kaiser-Nein sagt, indes Weiber schwerlich ohne Semikolon und Kolon und nötigste Frag- und Ausrufzeichen zum Kinde sagen: Lass! (…) Der dritte Grund ist, dass der Mann das Neinwort seltener zurücknimmt.» Die Mütter würden eben leichter ins Nachstrafen geraten als die Väter, «schon weil dieses ihrer sich gern ins Kleine zerteilende Thätigkeit mehr zusagt und sie gern, nicht wie der Mann mit Stacheln den Stamm besetzen, sondern mit Stechspitzen die Blätter.»

Abgründe tun sich auf in dieser unreflektierten Begrifflichkeit!

 

Beim Bestrafen kommt eine Schattenseite des «edlen Wilden» zum Vorschein, wie sie auch dem Kinde eigen sei: «Kinder haben, wie Wilde, einen Hang zur Lüge, die sich mehr auf Vergangenheit bezieht.» Woher hat er diese Pauschalisierung wohl, dass Wilde einen Hang zur Lüge hätten? Haben nicht alle Menschen diesen Hang oder diese Anlage, kaum können sie sprechen, oder doch eher nur diese «Wilden», von denen man nie weiss, was genau darunter zu verstehen ist? Wenn er denn beim Wilden an den Sklaven denkt: ist dort nicht eher das System des ganzen Sklavenhandels eine institutionelle Lüge? Abgründe tun sich auf in dieser unreflektierten Begrifflichkeit!

Plädoyer für Abhärtung

Zum Schluss kommt Jean Paul noch auf das «Schrei-Weinen der Kinder» und auf die «physische Erziehung» zu sprechen. Das «weiche und fünfsinnliche Herz» der Weiber führe in Kombination mit ihrer «weichen, mitleidenden Mutterstimme zu nichts: «fremdes Mitleiden flösst ihm eines mit sich selber ein , und es weint fort zur Luft.» Nur beim  Weinen über Krankheit sei die «milde und mildernde Mutterstimme am rechten Ort.»

Beim Plädoyer für körperliche Abhärtung ist nicht mehr der Wilde mit dem Hang zur Lüge, sondern der stämmige wilde Krieger gefragt: «Jäger, Wilde, Aelpler, Soldaten fechten alle mit ihrer Kraft für die Vorteile der freien Luft;» Auch der Hunger dient der gesunden Abhärtung: «das Kind werde, wie der Wilde, im Schlaf und Essen öfters frei und irre gemacht; die leibliche Natur wird dann entweder geübt oder besiegt, und die geistige krönt sich in beiden Fällen.» In der Welt der «freundlichen, lobenden, nachsichtigen Weiber-Zirkeln» werde das Kind «mehr verdreht und entkräftet als in den kalten, trockenen Herren-Gelagen.»

Man hat den Eindruck, dass Jean Paul mit seiner Polemik gegen die Frauen eigentlich auch über sich selbst und seinen eigenen weiblichen Anteil daherzieht.

 

Die Männer seien von Natur aus den Frauen in diesen Belangen der Erziehung haushoch überlegen: «Da Weiber schon an sich, als geborenes Stubengeschlecht, als Hausgötter – indes wir blosse Meer- und Land- und Luftgötter sind, oder gegen jene Haustauben nur sanftwilde Feldtauben – die Wärme lieben, wie den Kaffee, und daher neben den Schleiern Erwärmhüllen suchen». Nichts gegen barfuss gehen, Luftbad und kaltes Wasserbad oder eine erfrischende Regenpartie, aber das Poltern gegen die «geistreichen Weiber» mit ihrem angeblichen Hang zur Verweichlichung wirkt mit der Zeit ermüdend.

Weiber-Schelte

Und man hat den Eindruck, dass Jean Paul mit seiner Polemik gegen die Frauen eigentlich auch über sich selbst und seinen eigenen weiblichen Anteil daherzieht, wenn er schreibt: «Da Weiber so gerne ihre Empfindungen in Worte übersetzen (aber das ist doch gerade eine Spezialität von Jean Paul selbst, oder nicht?) und durch Vielberedsamkeit mehr, als wir uns, sich von den Papageien unterscheiden, worunter die weiblichen wenig reden – daher nur männliche nach Europa kommen: – so halte man kleinen Mädchen das Vorreden zu Reden, nämlich einiges Weinen und Schreien, als Ueberfliessungen des künftigen Stromes zu gute. Ein Knabe muss seinen Schmerz trocken verdauen, ein Mädchen mag einige Tropfen nachtrinken.»

Es gibt sogar eine Stelle, wo durchschimmert, dass ihm bewusst ist, dass er mit seiner Weiber-Schelte auch als Mann mitgemeint ist: «Woher kommt diese Unart der Heilsucht den Weibern und – lassen sie uns dazusetzen – den andern Menschen, z.B. mir (mein ganzer Brief bezeug’ es) und den vorigen Menschen,  wie ein langes lateinisches Sprichwort und Eulenspiegel beweisen, dem jeder Vorbeigehende gegen sein Vexier-Zahnweh ein Mittel verschrieb?»

ENDE TEIL 2

 

(* Ich beziehe mich im Folgenden auf die von Karl Lange in der «Bibliothek Pädagogischer Klassiker» herausgegebene «Levana», die 1892 in Langensalza in einer zweiten, verbesserten Auflage erschienen ist. Der Text kann aber auch online und kostenlos beim Projekt Gutenberg gelesen werden.)

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