21. November 2024
Integration

Die wahren Gründe der Schulmisere in Basel

Die integrative Schule beelendet alle. Die Lehrerschaft erstickt in der Bürokratie und wird angefeindet. Dabei gäbe es Wege aus der Krise. Marcel Rohr, Chefredakteur bei der BAZ, formuliert sie.

Bild: Christian Beutler, Keystone-SDA

Luca Urgese und Mustafa Atici wollen Basels neuer Erziehungsdirektor werden. Mit Verve streiten die beiden Politiker im grossen BaZ-Interview über das Basler Bildungswesen. Am 7. April steht der zweite Wahlgang für die beiden Kandidaten an.

Was Mustafa Atici offenbar noch nicht verstanden hat: Die integrative Schule ist längst gescheitert. Überall macht sich Resignation breit – dafür braucht es keine weitere Analyse, wie es der SP-Mann beim Schlagabtausch mit Urgese fordert.

Was es dafür umso dringender braucht: einen nüchternen Blick auf das ganze System, das alle nur noch beelendet. Die integrative Schule ist nur die Spitze des Eisbergs.

Marcel Rohr, Chefredaktor der Basler Zeitung BaZ

Erste Erkenntnis: Man wollte zu schnell zu viel. Selbstverständlich gibt es im Unterricht Möglichkeiten, Kinder mit Defiziten in den Regelklassen zu integrieren. Beim Singen, beim Musizieren, beim Sport oder beim handwerklichen Gestalten – also bei nicht kopflastigen Fächern.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird. Es muss um das Wohl einer Mehrheit gehen, nicht um das einer Minderheit. Für neue Förderklassenmodelle liegen genug Vorschläge auf dem Tisch.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird.

 

Im Mittelpunkt einer neuen Ausrichtung muss die Lehrerschaft stehen. Hier offenbart sich das gleiche Elend wie bei der Polizei oder anderen Service-Public-Jobs: Die Beamten ersticken in der Bürokratie. Ausserdem werden sie immer stärker angefeindet. Die Respektlosigkeit kennt keine Grenzen mehr. Das sind die Zeichen einer rücksichtslosen und egoistischen Gesellschaft.

Weg mit der Bürokratie

Nur wenn die Bürokratie auf ein vernünftiges Mass reduziert wird, können sich die Lehrer wieder ihrem Kernauftrag widmen. Für alle, die es vergessen haben: Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden. Erziehungsberechtigt sind sie dann, wenn Kinder Grenzen überschreiten. Leider haben das viele Eltern vergessen. Sie meinen, mit dem Kind geben sie frühmorgens auch diese Verantwortung an die Schule ab.

Die grössten Feinde der Lehrerschaft sind die Juristen und die Versicherungen. Mit immer strengeren Vorschriften sorgen Letztgenannte dafür, dass sich die Lehrer und Lehrerinnen immer weniger trauen, etwas mit den Kindern zu unternehmen. Wer geht im Sommer noch freiwillig ins Schwimmbad? Das Risiko ist vielen zu gross.

Einer wird der nächste Basler Bildungsdirektor: Mustafa Atici/SP, links; oder Luca Urgese/FDP, rechts (Bilder: Nicole Pont/Pino Covino)

Die Juristen dagegen sind die Krücken der Eltern, um Recht durchzusetzen. Ein falsches Wort im Unterricht, eine zu schlechte Beurteilung im Zeugnis – schon steht der Anwalt im Lehrerzimmer und droht. Das sind unerträgliche Zustände, denen mit aller Kraft entgegengewirkt werden muss. Notfalls per Gesetzesänderung.

Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden.

 

Lehrerinnen als Autoritätspersonen müssen unbedingt wieder gestärkt werden, ohne dass dabei Muster aus der Steinzeit bedient werden, als noch Kopfnüsse verteilt wurden. Tatort Klassenzimmer: Aggressive Schüler, die selbst auf Primarstufe mit den Fäusten auf Ausbilder losgehen, sind im Alltag 2024 keine Seltenheit. Das sind jene Unverschämtheiten, welche die Lehrer desillusionieren und ausbrennen.

Deshalb sind Klassenassistenzen eine sinnvolle Sache. Sie stärken die Führungskraft im Schulzimmer und entlasten die Lehrer. Jedes Kind bekommt – falls gewünscht – mehr Aufmerksamkeit oder kann – falls nötig – mit vereinter Kraft in die Schranken gewiesen werden.

Klassenassistenzen kosten Geld, doch dies darf gerade in Basel-Stadt kein Argument sein. Bildung ist der Schlüssel für eine prosperierende Zukunft und die Basis für eine Humanistenstadt wie Basel, wo Gelehrtheit eine grosse Tradition geniesst. Aber nicht nur begabte Kinder haben ein Recht auf Unterstützung, auch verhaltensauffällige. Im Kanton Aargau beklagen sich viele Experten, dass beispielsweise viel zu wenig finanzielle Ressourcen in die Logopädie fliessen.

Der hohe Ausländeranteil in Basel schafft Probleme

Immer höher wird der Anteil jener Kinder, die zu einer frühen Deutschförderung verpflichtet werden. Es hat nichts mit Rassismus zu tun, wenn man festhält: Der hohe Ausländeranteil in Basel – im Kleinbasel liegt er mittlerweile bei rund 40 Prozent – ist für die gesamte Schule nicht leistungsfördernd.

Es gibt Schulhäuser in Basel, in denen Schweizer Kinder in der Minderheit sind. Allein mit diesem Hintergrund mutet es als Witz an, dass gewisse Kreise immer noch auf Frühfranzösisch oder Frühenglisch pochen. Dieser Murks bringt niemanden weiter, er schadet vor allem jenen jungen Menschen, die schon mit Deutsch ihre liebe Mühe haben.

Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen.

 

Was bei der Migrationspolitik im ganzen westlichen Europa gilt, muss auch für die Region Basel zählen. Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen. Das ist verheerend für unser Bildungssystem.

Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen haben es noch schwieriger in einer Welt, die immer anforderungsreicher wird. Jahrelang waren die Schulnoten das Mass aller Dinge, sie dienten als Wasserwaage zur Einordnung von Leistung. Immer lauter werden nun jene Stimmen, die die Notengebung als unbefriedigend wahrnehmen.

Das Beispiel Luzern

Der Kanton Luzern geht neue Wege. Dort wird ab Sommer 2026 in allen Primarschulen das neue «Rahmenkonzept Beurteilung» umgesetzt, 2027 folgt die Oberstufe. Dann gibt es in allen 19 Schulen der Stadt Luzern keine Prüfungsnoten mehr, stattdessen Kompetenzraster, Lerntagebücher und Feedbackgespräche.

Kinder wollen nicht nur spielen, die meisten wollen sich auch messen.

Es ist zweifelhaft, ob sich dieses Konzept bewährt. Die meisten Kinder wollen sich messen. Sie lieben den Wettkampf, den direkten Vergleich. Es sind eher die Angehörigen, die ihren Nachwuchs nicht diesem Leistungsdruck aussetzen wollen. Sie fürchten die schlechte Note.

Mustafa Atici wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

 

Eine Note ist sehr oft weniger verletzend als eine persönliche Einschätzung des Lehrers, die unterschiedlich ausgelegt werden kann. Mit Noten lernen Kinder, auch mal eine Niederlage einzustecken. Es härtet sie ab auf dem weiteren Weg in die Berufswelt, die mitunter unbarmherzig ist.

Am 7. April wählt Basel seinen neuen Erziehungsdirektor, Mustafa Atici ist der grosse Favorit. Er wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

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3 Kommentare

  1. Linke ideologische Sturheit, das Nichtanerkennen von gescheiterten Reformen, das sind die Ursachen der Schulmisere, nicht die “Ökonomisierung” der Schule, die als Schlagwort immer wieder in Condorcet-Beiträgen auftaucht. Auch die immer wieder genannte erstickende Bürokratisierung ist ein typisches Symptom linker Politik.

  2. Ob man die Schulmisere so einfach auf der linken Seite des politischen Sprektrums verorten kann, bezweifle ich. Es ist wohl vielmehr eine unheilige Allianz zwischen linken und wirtschaftsliberalen Kräften, die bei den Reformen widersprüchlichen Prinzipien zum Durchbruch verhelfen. Integration, Abschaffung der Selektion und der Noten sollen der Chancengerechtigkeit dienen und wären eher linke Anliegen. Gleichzeitig werden die Outputorientierung durch Kompetenzraster, die Standardisierung und die forcierte Digitalisierung eher von neoliberal-bürgerlicher Seite eingebracht. Gemeinsames Anliegen ist die überbetonte Individualisierung auf Kosten der Einfügung in die Gemeinschaft, wobei die linke Seite von der persönlichen Entwickung her argumentiert, während die liberale Seite eher die gezielte Ausrichtung auf berufliche Vorbereitung im Auge hat. Ist es nicht so, dass alle politischen Lager ihre Wunschträume von der idealen Welt auf die Schule projizieren und die Schule dabei zur Kampfarena der beiden Lager wird?

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