8. Dezember 2025
Notendebatte - Kompetenzraster

Die Kompetenzraster der Wunschprosa-Phantasten: Lernziel – Engel

Die Notendebatte hat uns im Griff. Den Anfang machte das Eltern-Magazin “Fritz und Fränzi”, dann kam die Vereinigung der Schulleiterinnen und Schulleiter, gefolgt von der Mercator-Stiftung und schliesslich noch die famose Rahel Tschopp, eine Mischung aus Mutter Theresa der Pädagogik und Trudi Gerster. Sie alle wollen die Noten ersetzen. Mit was? Condorcet-Autor Alain Pichard hat es herausgefunden.

Schon während den Lehrplandiskussionen vor 10 Jahren machten die ersten Kompetenzraster die Runde. Den Anfang machte ein 7-seitiger Beobachtungsbogen,  mit dem Kindergartenkinder in St. Gallen vermessen werden sollten. Unvergessen das Beobachtungsmerkmal: “Kann Papier schneiden, ohne die Zunge herauszustrecken”. Das hatte meine Kinder zu einem Lachanfall veranlasst, weil  ihrem Vater dieses Behinderungsmerkmal gelegentlich immer noch unterlief.

Alain Pichard, Condorcet-Redaktion, Grossrat, Mitglied der Bildungskommission im Kanton Bern.

Dann folgte die Sache mit den überfachlichen Kompetenzen. Auf einer Skala von 1 – 10 sollten in Zeugnissen plötzlich Verhalten und Charakterfragen beurteilt werden, wie “kann sich situationsgemäss ausdrücken” oder “kann mit Vielfalt umgehen”. Ein Ansinnen, das aufgrund eines medialen Shitstorms in der Schublade der Freiwilligkeit verschwand.

Seit einigen Wochen hat nun eine Notendebatte eingesetzt. Losgelöst wurde sie vom Verband der Schulleiter und Schulleiterinnen der Schweiz und dankbar von einer Vielzahl von eifrigen Bildungsreformern aufgenommen, die unsere Schule von Grund auf erneuern wollen. Sie sprechen den Noten jegliche Signifikanz ab. Sie seien ungerecht, ungenau, diskriminierend, willkürlich, unpädagogisch, unwissenschaftlich, fremdenfeindlich. Gefragt sei eine umfassende und nicht eine diskriminierende, sondern eine fördernde Beurteilung. Auf die Frage, was denn die Alternative sei, kommt von den Notenverächtern selten etwas Klares. Tortenkleberli und Rüebli können es ja auch nicht richten. Von der Mercator-Stiftung, ein ganz eifriger Alternativbeurteiler, sind uns aber ausgeklügelte Beurteilungsunterlagen zugänglich gemacht worden [1]. Und damit wären wir wieder bei den guten alten Kompetenzrastern. Als Beispiel sei hier ein Bogen aufgeschaltet, der sich mit einem Lernziel zusammenfassen lässt: Wie werde ich ein Engel.

Jetzt aber “zeige ich Mitgfühl und Verständnis” und schliesse diesen Beitrag.

[1] https://www.zebis.ch/unterrichtsmaterial/kriterienraster-ueberfachliche-kompetenzen

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Die Welt ist (k)eine Scheibe, Pixel sind kein Pigment oder: Über die Rückbesinnung auf die sinnliche Welt (aisthesis) zur Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit in der Realwelt

„Medien strukturieren unsere Wirklichkeitserfahrung.“[1] Von der Schrift über Gutenbergs Buchdruck bis zu Web&App verändern (anfangs immer) „neue“ Medien kommunikative und soziale Strukturen. Aktuell sind für viele Menschen mobile Endgeräte, Web und Apps das „Fenster zur Welt“ – allerdings um den Preis des permanenten Rückkanals für personalisierte Daten[2]. Aus einer technischen Infrastruktur zur Datenübertragung, Kommunikation und Kriegsführung (!) wird ein Kontroll- und Steuerungsinstrument für die Zivilgesellschaft.[3] Weder der „unbeschränkte Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild“ noch die „orwellianische Staatsüberwachung“ wie in China[4] sind eine Option für Europa, schon gar nicht für Bildungseinrichtungen. Doch der dominante, vor allem manipulative Einfluss medialer, meist audiovisueller Kommunikation per Web ist als Teil heutiger Lebenswirklichkeit ein notwendiges Thema im Unterricht. Dabei sind Gestaltungsfächer ideal dafür geeignet, übergreifende Bildungsziele wie (Medien-)Mündigkeit, Reflexionsvermögen und Selbstverantwortung zu vermitteln, weil durch die Analyse medialer Artefakte und eigene Gestaltungspraxis der Wechsel von einer passiven Konsumhaltung in den aktiven, diskursiven und emanzipierenden Gestaltungsmodus gelingt.

4 Kommentare

  1. Statt Noten also Kreuzchen (jeder nur eins). Ich mach meins immer in der Mitte, wenn mir jemand mit so einer Liste kommt.

  2. Mit der Betonung der überfachlichen Komptenzen will man in erster Linie verdecken, dass die fachlichen erschreckend abnehmen, aber diese sind ja auch nicht wichtig für die Zukunft. Gemäss Tschopp könnnen sich Schüler mittels überfachlichen Kompetenzen mehr Rechte erkaufen (Lernzeit, Lernort): Das heisst, wer nett, angepasst und fleissig ist, bekommt mehr Lerngelegenheiten? Das wäre unglaublich; verdeckter Drill, Erziehung zur Anpassung statt zur Mündigkeit, Reiz-Reaktion statt Bildung etc. Ich stelle nicht nur in dieser Debatte fest, dass grosse Wörter verwendet werden, die nicht verstanden oder sinnlos sind, was ja noch nichts machen würde, dass sich dahinter aber eine Art von Bildungs- und Erziehungsverständnis liegen kann, das uns, würden die tatsächlich bedeutsamen Begriffe verwendet, erschrecken würde. Das ist es, was mir am meisten Sorgen macht.

  3. Abgesehen von der Weltfremdheit solcher Kompetenzraster offenbaren diese Kriterien eine überraschend spiessige, biedermeiersche und althergebrachte Vorstellung von Jugenderziehung. Etwas merkwürdig für die selbsternannten Bildungsrvolutionäre.
    P.S. Lernziel – Engel… ein treffender Titel, bringt es auf den Punkt

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert