29. April 2024
PISA-Studie 2022 veröffentlicht

Herzlich willkommen in der neuen Klassengesellschaft!

Mathias Brodkorb, bekannter SPD-Bildungspolitiker und ehemaliger Kultusminister von Brandenburg, ist ein vehementer Kritiker der Kompetenzorientierung. Er sieht sich duch die ständig sinkenden Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler bei den PISA-Studien bestätigt. Sein Kommentar ist im Cicero erschienen.

Mathias Brodkorb, ehemaliger Kultusminister in Bandenburg SPD, heute Journalist Cicero: Rückkehr in die Klassengesellschaft.
Bild: vom Autor

Eigentlich sollte mit dem deprimierenden Ergebnis der ersten PISA-Studie 2000 das Ruder herumgerissen werden. Mit zahlreichen Schulreformen unter dem Zauberwort „Kompetenzorientierung“ versprach die Politik Besserung. Die gute alte Schule sollte abgewickelt werden.

Möglichst keine zentralen Lernvorgaben mehr, keine verbindlichen Rahmenpläne, kein stumpfes Auswendiglernen. Stattdessen: Freiheit für alle und regelmäßig Leistungsüberprüfungen. Deutschland baut seit 20 Jahren an der Schule der Zukunft. Und nun? Man steht vor einem Scherbenhaufen. Um es kurz und knapp zu sagen: Bei der ersten PISA-Studie war Deutschland Mittelmaß. Auch heute erreicht es noch etwa den OECD-Durchschnitt. Aber es ist schlechter, als es jemals war.

So schlecht waren die Ergebnisse noch nie

Nach einem kurzen Bildungsaufschwung ging es wieder rasant in den Keller. Heute werden die „niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden“, erreicht. Allein der Rückgang in Mathematik und Lesen entspricht gegenüber dem Jahr 2018 einem ganzen Schuljahr.

Deutscher Bildungsverfall

Aber die Leistungen in Mathe, Deutsch und Naturwissenschaften sind nicht nur generell rückläufig. Gleichzeitig wird der Anteil leistungsschwacher Schüler größer und der Anteil leistungsstarker Schüler kleiner. Der Anteil der Schwachen beträgt in Mathematik inzwischen ganze 30 Prozent, der Anteil der Starken hat sich seit 2012 auf 9 Prozent halbiert. Für eine Volkswirtschaft, die auf dem Weltmarkt dauerhaft erfolgreich sein will, ist das nichts anderes als eine Katastrophe.

Bildungsökonom Ludger Wößmann schlägt denn auch Alarm. Allein der Leistungsrückgang in Mathematik verursache „langfristig rund 14 Billionen Euro an entgangener Wirtschaftsleistung bis zum Ende des Jahrhunderts“. Nach dem ersten PISA-Schock brauche es daher einen zweiten. Denn: So schlecht wie heute waren die Ergebnisse noch nie.

Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist explodiert

Dabei gehört gar nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass bei der nächsten Studie alles noch viel schlimmer sein dürfte. Die Gründe für den Bildungsverfall sind vielfältig:

  1. Zunächst wird die Corona-Pandemie auch jenseits eines systemischen Leistungsproblems die schlechten Ergebnisse mitverursacht haben. Aber schon vorher waren die Leistungen in den Sinkflug übergegangen. Corona taugt nicht als Ausrede.
  2. Deutschland leidet bereits seit Jahren unter Lehrermangel, vor allem in den Naturwissenschaften und in Mathematik. Und dieser Mangel wird in diesem Jahrzehnt noch weiter zunehmen und ebenfalls nicht ohne Folgen bleiben.
  3. Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren geradezu explodiert. Ob man es nun wahrhaben will oder nicht: Auch das fordert das Bildungssystem heraus. Das ist nicht nur statistisch gemeint. Ein zu hoher Migrantenanteil an vielen deutschen Schulen belastet die Unterrichtssituation und damit das mögliche Leistungsniveau aller Schüler.
  4. Und schließlich darf man es für wahrscheinlich halten, dass auch die „kompetenzorientierte Wende“ in der Pädagogik vor einem Scherbenhaufen steht. Freilich: Zugegeben wird das von seinen Erfindern selten. Eigentlich nie. Man müsste einen historischen Irrtum eingestehen.

Deutschland steht daher heute vor einer ähnlichen Situation wie im Jahr 1964. Damals warnte Georg Picht in einer Streitschrift vor der nahenden deutschen „Bildungskatastrophe“. Schon damals ging es um die Abwendung eines heraufziehenden Lehrermangels und um die Anschlussfähigkeit Deutschlands an internationale Akademikerquoten. Das Jahr 1964 hatte nur einen entscheidenden Vorteil: Die Boomer waren noch jung und standen nicht kurz vor der Pension oder Rente wie heute. Es gab noch Nachwuchskräfte.

Öffentliche Schulen haben einen immer schlechteren Ruf

Will Deutschland seine Schulen nicht endgültig an die Wand fahren, wird man also das Problem mit dem Lehrermangel ebenso lösen müssen wie die Überforderung der Schulen durch zu viele Migrationslasten. Das hört der deutsche Linke nicht gern, ist aber so.

Am Ende leiden unter all dem ohnehin nur der gewöhnliche Arbeitnehmer und die Arbeiterklasse. Rechtsanwälte, Ärzte, Professoren sowie Abgeordnete wohnen für gewöhnlich nicht in deutschen Plattenbauten. Und sie haben auch das nötige Kleingeld, um ihre Kinder notfalls auf Privatschulen schicken zu können.

Was Deutschland droht, ist daher im Grunde nichts anderes als die Rückkehr der Klassengesellschaft. Das Szenario ist vorgezeichnet: Wer es sich leisten kann, kauft seine Kinder aus den öffentlichen Schulen raus. In den Plattenbausiedlungen der Städte wird man zwar noch Lehrer finden, aber durch eine völlig unausgeglichene Schülerstruktur wird auch das nicht zu anständigen Lernergebnissen verhelfen.

Für Optimismus gibt es keinen Grund

Auf dem Lande hingegen wird der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund zwar deutlich niedriger sein, aber dafür wird es ganz an qualifizierten Lehrern fehlen. Akademiker zieht es nun einmal eher in die größeren Städte. Das ist auch bei Paukern nicht anders.

Für Optimismus gibt es daher keinen Grund. Die Zukunft wird in der Wiederkehr des 19. Jahrhunderts liegen. Die städtischen Arbeiterkinder werden unterprivilegiert sein wie damals – und die Kinder aus dem ländlichen Raum ebenso.

Eigentlich war die politische Linke einst angetreten, um Arbeiterkindern den Aufstieg zu ermöglichen und den Unterschied an Lebenschancen zwischen Stadt und Land aufzuheben. Groteskerweise dürfte nun eine maßlose Form der Weltoffenheit diese alten Zustände wiederherstellen.

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Kayla Strazza ist eine 8. Klässlerin des Oberstufenzentrums Orpund. Sie schrieb schon eine Rezension des Jugendromans “Tanz mit der Tiefseequalle”. Die talentierte Schülerin wird uns Ende Jahr in Richtung Gymnasium verlassen. Hier setzt sie sich mit dem Fernunterricht an ihrer Schule auseinander und macht am Schluss einen gewagten Vorschlag.

4 Kommentare

  1. Hat man es in Deutschland und in der Schweiz schon mal mit lernen (zu gut Deutsch “büffeln” oder “pauken”) versucht? Eine Gesellschaft, die Leistung schräg anschaut, wird es nie schaffen. Niemand kommt auf die Idee, SportlerInnen und MusikerInnen könnten ohne Üben Leistungen erzielen, doch unseren Schulkindern wird dies vermittelt. Diese Punkte vermisse ich in diesem Kommentar von Mathias Brodkorb. Es gäbe nämlich schon Lösungen. Nur müssen wir gewillt sein, Grundsätze kritisch zu hinterfragen.

  2. SPD-ex-Kultusminister Brodkorb klingt heute wie Thilo Sarrazin im Jahr 2010 in “Deutschland schafft sich ab”. Man erinnert sich dabei spontan an die Intervention von Alain Pichard im “Club”,. als er sein 4-Phasen-Modell schilderte: https://www.srf.ch/play/tv/news-clip/video/4-phasen-reduit-denken-der-linken-nach-alain-pichard-reallehrer?urn=urn:srf:video:4671c53e-0f5f-4d05-a833-4c59a4565606. Nicht nur in der Bildungspolitik, auch in anderen wichtigen Bereichen wie der Energie- und Klimapolitik sollte es langsam allen dämmern: Die ideologische Verschiebung der westlichen Gesellschaften nach links unter dem Diktat einer akademisch gebildeten urbanen Elite in den meinungsmächtigen Institutionen (Staat, Medien, Hochschulen, Kultur, Wirtschaft) ist für Entwicklungen verantwortlich, die das Gegenteil von dem produzieren, was sie zu erreichen versprachen.

    1. Der Unterschied zwischen Herrn Sarazzin und mir war, dass er sich um sein Land Sorgen machte, während ich mich um den Lernerfolg der mir anvertrauten Migrantenkinder sorgte.

  3. Ja, es gibt drei Arbeiterklassen. Jeder eine Klasse für sich. 1965 lernten alle KInder, auch aus der Arbeiterklasse einfach lesen, schreiben und rechnen. Alle zusammen.Dafür übernahmen die Lehrer:innen die Verantwortung. Die frühe Akademisierung , Demokratisierung und Individualisierung der Schüler und Schülerinnen überfordert die ganzheitlich denkenden Kinder in der Grundschule. Ständig wird heute gefragt: ” Was möchtet ihr lernen, lesen, schreiben?” Wie geht es euch? Die Aufgaben sind so merkwürdig, dass die Kinder, wir Erzieherinnen und auch Eltern aus der Arbeiterklasse sie nicht verstehen. Zerstückelte Worte, Sätze und Geschichten sollen wie ein Puzzel zusammengesetzt werden. Ein Schmetterling hat Zahlen auf den Flügeln und die Kinder sollen die passende Aufgaben finden und farbig anmalen. Mengenlehre wurde wieder eingeführt. Wahrscheinlichkeitsrechnung in der dritten Klasse. Rechenaufgaben ohne Gleichheitszeichen, dafür turnt ein Affe herum. Wir brauchen nicht mehr ,sondern anders ausgebildete Lehrer.innen, andere Unterrichtsmethoden und Material. Es kann nicht jeder studieren, Schriftgelehrter, Dichter und Denker werden.”Gott sei Dank”.
    Sonst hätten wir keine systemrelevanten Handwerker und Arbeiter mehr.
    Doch die einfachen, praktisch veranlagten KInder werden schon in den ersten Klassen abgehängt.
    Wissenschaftlich ausgebildete Lehrer: innen, ohne Ambitionen zu erziehen, verstehen die KInder aus nicht akademischen Haushalten nicht. Ihre mitleidige Kuschelpädagogik spornt die KInder nicht an.
    Kurzum: Die KInder werden immer dümmer, frecher und behinderter.
    Die Lehrer.innen werden immer schlauer, lieber und kränker.
    Da passt was nicht zusammen!

    Helga Dreyer
    Erzieherin und Tischlerin

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