10. Dezember 2024

Riesen zur Schnecke machen – weite Teile der Cancel-Culture sind das Symptom einer intellektuellen Misere

Ein beträchtlicher Teil dessen, was heute unter den Auspizien politisch korrekter Woke-Kultur «nicht mehr geht», ist Opfer des genetischen Fehlschlusses. Man beschäftigt sich nicht mehr mit der Geltung eines Werkes, sondern mit dessen Urheber. Wehe, es fehlt ihm an Moral. Ein Beitrag von Eduard Kaeser.

Edouard Kaeser ist Physiker, Philosoph, Jazzmusiker und freier Publizist. Er schrieb auch im «Einspruch».

«

Es gibt eine auf Heroismus basierende Wissenschafts- und Philosophiegeschichte. Sie kuratiert ihre Helden und Legenden. Und sie hat eine Lieblingsmetapher: Wir stehen alle auf den Schultern von Riesen. Die klassische Physik steht auf den Schultern von Newton, die moderne Biologie auf den Schultern von Darwin, die aufgeklärte Philosophie auf den Schultern von Kant, und so weiter. Jede Disziplin wartet mit solchen Riesen auf. Nur weil wir deren Geisteshöhe erreicht haben, so suggeriert das Bild, können wir jetzt weiter blicken.

Weltbild aus Sicht der Weissen

Das Bild hat eine fiese Rückseite. Sie zeigt sich derzeit in der Praxis namens Cancel-Culture. An einer amerikanischen Privatschule spricht man im Physikunterricht nicht mehr von Newtons Gesetzen, sondern von den fundamentalen Gesetzen der Physik. Grund: Newton war ein weisser Mann. Und die Schule sehe es als geboten an, sagte ein Schüler, das Weltbild aus Sicht der Weissen zu dezentrieren.

Nicht nur das: Es scheint in Schwang gekommen zu sein, die Riesen als Dreckskerle zu entlarven. Nicht Newton, aber andere. Jüngst hat es den französischen Philosophenkönig Michel Foucault erwischt. Ein Artikel der britischen «Times» stellt ihn hin als Pädophilen, der es mit minderjährigen tunesischen Knaben auf dem Friedhof von Sidi Bou Saïd trieb. Ein anderes rezentes Beispiel ist Ronald Fisher, ein Pionier der modernen Statistik und Evolutionstheorie. Nach ihm ist der Fisher-Preis benannt, eine der höchsten Ehren der Disziplin. Seit 2020 trägt der Preis nicht mehr Fishers Namen. Der Wissenschafter wurde des eugenischen und rassistischen Gedankenguts «überführt».

Am Ende bleiben nur noch ein paar integre Geisteskümmerlinge übrig.

Man geht davon aus, dass der Andere ein Dreckskerl ist, und zeigt, wie sein Werk von seinem Charakter besudelt ist.

Aristoteles: Am Ende nur noch Geisteskümmerlinge

Kant und Voltaire, die Riesen der Aufklärung, erfahren heute ein Bashing aufgrund ihrer rassistischen Äusserungen. Francis Bacon, einer der ersten modernen Naturphilosophen, sprach von der «männlichen Geburt der Zeit», und er forderte die Forscher zur Bandenvergewaltigung der Natur auf. Man müsste ihn also schleunigst als Chauvinist aus der Geschichte tilgen. So gesehen kann man den Radiergummi gleich bei Aristoteles ansetzen. Er war xenophob, sexistisch, ein Verfechter der Sklaverei. Und mit dem purifizierten Blick liesse sich die gesamte europäische Geistesgeschichte nach Moralschurken durchstöbern. So dass wahrscheinlich am Ende nur noch ein paar integre Geisteskümmerlinge übrig blieben.

Genetische Fehlschlüsse

Brillante Denker können moralisch anrüchig, geradezu Ekel sein, und ihre Brillanz dient ihnen nicht selten als Lizenz zu ihrer moralischen Verderbtheit. Aber müssen wir deswegen jetzt zu einer radikalen postumen Geschichtssäuberung antreten? Soll ich jetzt «Sein und Zeit» wegwerfen, weil der Autor ein Nazisympathisant war? Soll ich Marx nicht mehr lesen, weil ihn auch Stalin, Mao oder Pol Pot lasen? Soll ich den Fisher-Test in der Statistik nicht mehr durchführen, weil Ronald Fisher ein unbelehrbarer «Volksveredler» war? Sollte man den Satz des Pythagoras vom Lehrplan streichen, wenn sich herausstellte, dass der griechische Mathematiker sich an seinen Jüngern reihenweise sexuell verging?

Soll ich Marx nicht mehr lesen, weil ihn auch Stalin, Mao oder Pol Pot lasen?

Man mag solche Fragen albern finden, aber sie sind Ausdruck des sogenannten genetischen Fehlschlusses. Man beschäftigt sich nicht mit der Geltung einer Aussage, sondern mit deren Urheber. Etwas läuft schief. Denken ist eine soziale Tätigkeit. Ein untrügliches Indiz des Denkens ist deshalb die Beobachtung, dass andere auch denken. Eine häufig angewandte und perfide, weil nicht auf ersten Blick erkennbare Form der Diskreditierung besteht darin, dass man im Denken des Anderen nur den Anderen und nicht sein Denken wahrnimmt und anspricht.

Man geht vom Axiom aus, dass der Andere falsch liegt, und erklärt, warum er falsch liegt.

Philosoph Leo Strauss: «reductio ad Hitlerum»

Im Englischen spricht man von «Bulverism». Der Begriff stammt vom Schriftsteller Clive S. Lewis, genauer von dessen fiktiver Figur Ezekiel Bulver, der als Knabe hörte, wie seine Mutter die Beweisführung seines Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte Seite, mit den Worten abschmetterte: «Du sagst das nur, weil du ein Mann bist.» In zeitgemässer «identitätspolitischer» Formulierung hiesse das: weil du männlich, weiss und alt bist.

Man geht vom Axiom aus, dass der Andere falsch liegt, und erklärt, warum er falsch liegt. Auf die Cancel-Culture bezogen: Man geht davon aus, dass der Andere ein Dreckskerl ist, und zeigt, wie seine Arbeiten von seinem Charakter besudelt sind. Der Philosoph Leo Strauss prägte den Begriff «reductio ad Hitlerum»: Man bringe eine Aussage auf irgendeine Weise in Verbindung mit Äusserungen des Führers und seiner Entourage, und schon ist sie als «faschistisch», «nazistisch» oder «antisemitisch» diffamiert – also auslöschen.

Trennung von Erkenntnis und Moral

So wie die Aufklärer einst für die Trennung von Staat und Kirche eintraten, so müsste sich heute eine neue Aufklärung für die Trennung von Erkenntnis und Moral starkmachen. Aus der Vermischung beider entsteht ein giftiges Motivationsgebräu, das leicht in Hauen und Stechen endet. Das bedeutet nicht, dass Erkenntnis nichts mit Moral zu tun hätte, es bedeutet, epistemisches und moralisches Urteil klar zu unterscheiden. Geistesgrösse bürgt nicht notwendig für moralische Grösse, und umgekehrt.

Damit entbinde ich mich bloss von der Denkarbeit, die Fehlerhaftigkeit der rassistischen Argumentation nachzuweisen.

Ich kann also den Fisher-Test umbenennen, weil er mit dem Namen eines Rassisten kontaminiert ist, aber damit entbinde ich mich bloss von der Denkarbeit, die Fehlerhaftigkeit der rassistischen Argumentation nachzuweisen. Man kann jetzt Foucault als Dreckskerl schmähen, wichtiger wäre freilich das «Schmähen» seiner Theorie der Sexualität, die den Verkehr von Erwachsenen und Minderjährigen legitimieren soll. Foucaults Behauptung etwa, ein Kind sei sexuell souverän – fähig, zu erklären, was mit ihm geschah und fähig, seine Zustimmung zu geben –, gehört in die Demontage. Und wichtiger in diesem Zusammenhang wäre ohnehin eine Kritik der nicht nur in Frankreich endemischen Kastenarroganz von Intellektuellen, die sich jenseits von Gut und Böse wähnen. Man muss ihnen nicht den moralischen, sondern den denkerischen Prozess machen.

Cancel-Culture ist eine Form von Denkflucht.

Prinzip der übelwollenden Interpretation

Cancel-Culture entpuppt sich – wie gesagt – als Symptom einer intellektuellen Misere, nämlich jener, sich nicht genauer mit dem Gedankengut hinter einem «inkriminierten» Namen zu beschäftigen. Man könnte vom Prinzip der übelwollenden Interpretation sprechen. Es versprüht das Miasma des Misstrauens, Unterstellens, Denunzierens. Eigentlich handelt es sich um magisches Denken: Indem man den Namen auslöscht, wiegt man sich im falschen Bewusstsein, das Gedankengut hinter dem Namen auch beseitigt zu haben. Cancel-Culture ist eine Form von Denkflucht.

Indem man den Namen auslöscht, wiegt man sich im falschen Bewusstsein, das Gedankengut hinter dem Namen auch beseitigt zu haben.

Wie der Erfinder des Bulverismus schrieb: «Solange der Bulverismus nicht zerschlagen ist, kann die Vernunft keine wirksame Rolle in menschlichen Angelegenheiten spielen. Jede Seite schnappt sie sich als Waffe gegen die andere, aber zwischen den Fronten gerät die Vernunft in Verruf.» Damit landen wir auf Feld eins der Aufklärung. Denn ihr ging es genau um eine nicht parteilich vereinnahmte Vernunft, die als universeller «Gerichtshof» zwischen gegnerischen Positionen vermitteln könnte. Cancel-Culture diffamiert aufklärerische Ideale: Sie zersetzt den argumentativen Streit im Schlichten von Meinungsdifferenz, wertet das Streben nach objektivem Wissen ab, verhindert eine «Dreifach-F-Diskus­sion»: frank, frei, furchtlos.

Verstockte kulturelle Heterogenität verträgt sich nicht mit einer universellen Rationalität.

Kant ahnte, dass ein «Gerichtshof der Vernunft» ein unerreichbares Ideal darstellt. Zumindest in heutigen heterogenen Gesellschaften ist das der Fall. Und so gesehen, stehen wir vor einem postkantischen Dilemma: Verstockte kulturelle Heterogenität verträgt sich nicht mit einer universellen Rationalität. Uns bleibt, fallweise zu verhindern, dass diese Unverträglichkeit gewaltförmige Züge annimmt. Denn andernfalls ist die Vernunft – so Kant – «gleichsam im Stande der Natur, und [sie] kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen als durch Krieg». Ersetzen wir «im Stande der Natur» durch «im Stande der Identitätspolitik», dann charakterisieren wir aufs Trefflichste den eklatanten geistigen Rückschritt, den die Cancel-Culture mit sich bringt.

Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig. Dieser Beitrag ist zuerst in der NZZ erschienen.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Traurige Nachricht: Haushistoriker Peter Aebersold ist unerwartet gestorben

Unser Haushistoriker, wie wir ihn respektvoll nannten, ist von uns gegangen. Peter Aebersold hat uns zahlreiche Beiträge über historische Persönlichkeiten, welche die Bildungsgeschichte geprägt haben, geschenkt. Ob Stapfer, Montesquieu, Rousseau, Locke oder Commenius, fast 40 Porträts sandte er uns. Besonders angetan war er von der Bildungsgeschichte der Helvetischen Republik. Und ja, unseren Namensgeber, Jean-Marie de Condorcet, hatte er erst durch die Gründung unseres Blogs entdeckt. Auch zu seiner Person schrieb er uns ein ergreifendes Porträt. Hans-Peter Amstutz erinnert sich an ihn. Ein ausführlicher Nachruf wird folgen.

Der Fernsehphilosoph in der NZZ …

Peter Sloterdijk bezeichnete ihn als Andre Rieu der Philosophie, der FAZ-Redaktor und Buchautor Jürgen Kaube bezichtigte ihn der intellektuellen Schlampigkeit. Aber Richard David Precht lässt sich nicht bremsen. In einem grossen Interview in der NZZam Sonntag (18.8.19) wiederholt er im Wesentlichen die Thesen, die er in seinem Buch: “Anna, die Schule und der liebe Gott” schon dargelegt hat. Die Condorcet-Redaktion fasst zusammen:

Ein Kommentar

  1. Nicht Newton, aber andere? Was ist mit Freistetters Buch “Newton – Wie ein Arschloch das Universum neu erfand”? In dieselbe Reihe gehört, auch wenn ich mit dem Urteil allein stehe, Kehlmanns unsägliches Buch über Gauss und Humboldt. Wie einfach es doch ist, mit dem moralischen Zeigefinger auf Personen und Zeitalter zu zeigen, die man nicht einmal ansatzweise versteht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert