23. November 2024
Ausbildung des Lehrpersonals

Das Gleiche anders machen

Noch nie wurden so viele Lehrpersonen ausgebildet – und noch selten haben so zahlreiche Laien unterrichtet. Zu viele Diplomierte reduzieren ihr Pensum oder verlassen das Schulzim-mer bald nach Stellenantritt. Eine Ausbildung geht neue Wege: Sie will das Berufskönnen konsequent von der Praxis her denken. Condorcet-Autor Carl Bossard war an der Studien-gang-Vorstellung dabei.

Lehrerinnen und Lehrer wirken immer. Sie können, um ein Wort des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick zu paraphrasieren, gar nicht nicht wirken. Alles beeinflusst: Wie sie vor die Schülerinnen und Schüler hintreten, was sie ausstrahlen, welche Energie von ihnen ausgeht, wie sie ermutigen und Feedback geben. Grundlegend ist ihre Haltung. Lehrpersonen müssen nicht nur um ihre Aufgabe wissen; sie müssen sich ihrer Wirkung bewusst sein: «Teacher, know thy impact!», heisst es beim Bildungsforscher John Hattie. Hier setzt eine neue Ausbildung an: beim Wirken im pädagogischen Alltag, beim konkreten Handeln. Das Konzept denkt die Theorie von der Praxis her. Ganz so ist das Studium aufgebaut. Vom ersten bis zum letzten Tag stehen die Studierenden mit mindestens einem 40-Prozent-Pensum in der Praxis: Ausgangspunkt und Denkrichtung ihrer Berufsbildung.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Die kleinste Hochschule der Welt als Pionierin

Es ist vielleicht die kleinste Bildungsinstitution der Welt, wie sie in ihrem Selbstbeschrieb formuliert, die Hochschule für agile Bildung HfaB in Zürich.[1] Sie versteht sich als Pionierin eines neuen Bildungsdenkens – und einer neuen Art der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Initiiert und gegründet hat die HfaB der Ethiker und Hochschuldidaktiker Christof Arn, zusammen mit dem Organisationsberater Jean-Paul Munsch. Ihnen und ihrem Team schwebt ein neuartiges Studiengangmodell vor. Mit dem Prototyp wollen sie ein Zeichen setzen – für eine entwicklungsorientierte Bildung, eine Bildung, die über das aktuelle Paradigma der Kompetenzorientierung hinausgehen und den Menschen in seinen Lernprozessen stärken will. Darum der Leitbegriff einer entwicklungsorientierten Bildung.[2]

 

Denken, das Ordnen des Tuns

Ihr Modell basiert auf der konsequenten Rückbindung an den konkreten Schulalltag, ans vielfältige Berufsfeld heutiger Lehrerinnen und Lehrer, heutiger Kinder und Jugendlicher. Das ist der Anker; hier liegt der archimedische Punkt der neuen Studienidee: eingebettet sein in die Praxis, darauf die erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse beziehen und so pädagogische Kompetenzen generieren. Das verlangt der Kognitionspsychologe und Berner Hochschullehrer Hans Aebli in seinem wichtigen Werk «Denken, das Ordnen des Tuns»:[3] «Wenn sie nicht ständig an die Basis konkreten Handelns und Sehens zurückgebunden werden, beginnen die Mühlen der Zeichensysteme bald leer zu drehen.»

Sie informierten über die neue Lehrerinnen- und Lehrerbildung: Christof Arn, der Gründer, und die beiden Dozierenden Catherine Kaufmann und Christian Stalder (v.l.n.r.) (Bild: zVg

Darum übernehmen die Studierenden von Anfang an Aufgaben und Aufträge im Klassenzimmer – geleitet von der Frage: Wie baue ich als künftige Lehrerin, als angehender Lehrer mein fachliches und didaktisches Können auf? Und wie komme ich zur wichtigen Fähigkeit, Lernprozesse der Kinder wahrnehmen zu können? Auf welche Weise erschliessen sich meine Schülerinnen und Schülern neue Einsichten und Erkenntnisse, neues Können und Verstehen? Wie unterstütze und fördere ich die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Lernweg und in ihrer persönlichen Entwicklung? Und wie bildet sich das geheimnisvolle Etwas, das wir als Unterrichtskunst bezeichnen?

Der Gegenbegriff zur Theorie ist die Empirie, die reflektierte Praxis.

Praxis und Reflexion zum Junktim verbinden

Solche und ähnliche elementare Fragen und Ansprüche an die eigene Bildung stellen sich den Studierenden im pädagogischen Alltag. Die Praxis bedarf darum der Reflexion. Beide bedingen sich. Der Gegenbegriff zur Theorie ist die Empirie, die reflektierte Praxis. Sie fügen sie zu einem Junktim. Im Gespräch mit praxiserprobten Fachleuten und Bildungswissenschaftlern vertiefen die Studierenden ihre Einsichten. Der prozessintensive Studiengang braucht eine klare Struktur. Es sind die sogenannten Campustage mit Präsenzpflicht an der Hochschule. Den Rahmen bilden die verschiedenen Modulsequenzen mit den fachlichen Schwerpunkten. Verantwortlich zeichnet ein Team von rund 40 Personen.

Beim gemeinsamen Nachdenken und Analysieren der Alltagssituation bauen die angehenden Lehrpersonen ein tragfähiges Praxiswissen und solides Berufskönnen auf – ganz im Sinne des Pädagogen Hans Aebli: Das Lehren und Lernen zurückbinden «an die Basis konkreten Handelns und Sehens!» forderte er. Sein einfacher Satz wird zum anspruchsvollen Imperativ der neuen Bildungside

 Lehrerbildung als Persönlichkeitsbildung

Aus John Hatties Studien wissen wir, dass die Lehrperson den qualitativen Unterschied ausmacht – mit ihrem personalen und didaktischen Wirken im Unterricht. Das ist der Grund, warum die neue Ausbildung an der HfaB bei der Lehrperson und der Bildung der Lehrperson ansetzt: Lehrerinnenbildung als Persönlichkeitsentwicklung. Für Hattie ist klar: Im Kern geht es um das Beobachten des Lernens der Schülerinnen und Schüler. Und darum, dass die Lehrkraft ihr Handeln stets neu anpasst. Wie auch immer man das nennt – situativ, lernseitig, agil –, ist eigentlich sekundär. Auf die Haltung der Lehrpersonen kommt es an und auf das Engagement für ein lernwirksames Weiterkommen ihrer Schülerinnen und Schüler.

Neues wagen braucht einen weiten Blick: das Leitmotiv der HfaB Zürch             (Bild: Otto Kraz)

Die Promotoren der HfaB suchen nach einer wirksamen – heute würde man zeittypisch wohl von nachhaltiger – Bildung sprechen: konzentriert auf das Wesentliche und Eigentliche der Lehrerbildung, auf die menschlichen Lernprozesse und das Mitverantwortlich-Sein aller Beteiligten. Eine Bildung, die das Funktionieren und Belehren im Sinne einer Technik in den Hintergrund rückt. Eine Bildung, die auf die humane Kraft des zwischenmenschlichen Austausches und die Kraft des dialogischen Lernens baut. Achtsam aufeinander sein und aufmerksam, wahrnehmen und darüber nachdenken – und weiterdenken.

Der Prototyp braucht Partner

Weiterdenken und kreativ sein müssen auch die Verantwortlichen der HfaB. Sie stehen am Anfang ihres Experiments. Der erste Jahrgang, der Prototyp mit einem kleinen Kreis Studierender, nähert sich seinem Abschluss. Die Zwischenauswertung zeigt, was nachgebessert werden kann. Eines wird dabei deutlich: Die Kernidee trägt auch in der Realität.

Das andersartige Studium dauert sieben Semester und schliesst mit einem Bachelor ab. Das Konzept bewährt sich. Wichtig für die Promotoren dieses Studiengangs wird Kapitel zwei, die Suche nach Kooperationsmöglichkeiten. Nur so kann dieser Prototyp jenes Wirkungsfeld erhalten, das er verdient. Mögliche Partner sind Kantone oder Pädagogische Hochschulen. Auf sie kommt es an. Erst im Verbund mit anderen Institutionen erhält die Idee der Hochschule für agile Bildung ein weites Feld. Die Vorarbeit ist geleistet, die Basis gelegt. «Auf nach Ithaka!» Das sollte die Devise sein. Der akute Lehrermangel verlangt es.

[1] Hochschule für agile Bildung HfaB, Zürich: https://hfab.ch/

[2] Vgl. Christof Arn, Jean-Paul Munsch (2022), Von der Kompetenzorientierung zur Entwicklungsorientierung – ein Paradigmenwechsel, in: Walter Burk, Christian Stalder (Hrsg.), Entwicklungsorientierte Bildung – ein Paradigmenwechsel. Weinheim/Basel: Juventa Verlag, S. 129ff.

[3] Hans Aebli (1980/81), Denken: das Ordnen des Tuns. Band I: Kognitive Aspekte der Handlungstheorie. Band II: Denkprozesse. Stuttgart: Klett Verlag.

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Ein Kommentar

  1. Sehr guter Ansatz!
    Zu meiner Studienzeit zogen das Studierende selbst durch – so auch ich. Mit 20 stand ich zum ersten Mal im Klassenzimmer als stellvertretende Lehrperson.
    Von da an suchte ich mir immer ein kleines Pensum nebst der Präsenzzeit an der Uni. Ich habe sehr viel profitiert von dieser selbstverordneten Praxisausbildung ab Tag 1 meines Studiums.
    Heute ist das Studium an der PH total verschult – individuelle selbstverordnete praktische Ausbildung ist schier unmöglich: Betreutes Denken ist Programm.
    Ob das wohl besser ist?

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