Conradin Cramer, die integrative Schule steht in Basel-Stadt schon lange in der Kritik – nun unterlegt ein “Reporter” des Schweizer Fernsehens diese Kritik mit erschreckenden Bildern. Wie tief sitzt bei Ihnen der Schock?
Von einem Schock mag ich nicht sprechen. Der Film bestätigt aber meine Einschätzung: Wir müssen handeln. Und zwar schnell. Und deshalb haben wir ja bereits ein Massnahmenpaket auf den Weg gebracht, das wir noch dieses Jahr dem Grossen Rat vorlegen (vgl. Box 1). Damit – und das möchte ich betonen – solche Zustände nicht länger bestehen. Aber ich möchte auch sagen: Diese Klassen sind eine Ausnahme und nicht die Regel in Basler Schulhäusern.
Wenn eine erfahrene Lehrerin in die Kamera sagt, dass sie hilflos, kraftlos sei, sie so nicht mehr weitermachen könne, fragt man sich: Wieso sind solche Zustände nicht schon viel früher erkannt und behoben worden?
Weil die Anzahl Kinder, die Sondersettings benötigen, in den letzten Jahren dramatisch angestiegen ist (vgl. Box 2). Das ist tatsächlich beängstigend. Bei gewissen Klassen ist deswegen eine Grenze erreicht oder überschritten worden: Wenn Lehrpersonen nicht mehr unterrichten können, ist das ein grosses Alarmzeichen.
Hätten Sie nicht früher schärfer eingreifen müssen? Sie sind seit sechseinhalb Jahren im Amt – und man hat von aussen schon das Gefühl, dass die Probleme nicht wirklich offen diskutiert worden sind, wegen eines LDP-SP-Nichtangriffspakts.
Also ich finde schon, dass gerade über die integrative Schule sehr offen debattiert wird. Aber zur Frage: Wenn ich die Zahlen von besonderen Unterstützungsmassnahmen, die nötig sind, zwischen meinem Amtsantritt und jetzt, also innerhalb von sechseinhalb Jahren, vergleiche: Dieser Anstieg ist enorm. Den hat man nicht voraussehen können. Ich wäre gerne zwei Jahre früher dran, aber die Pandemie hat uns ausgebremst.
“Es gibt eben nicht die eine Kausalität, an der wir ansetzen und sagen können: Wenn wir das und jenes behoben haben, gehts den Kindern wieder besser.”
Die Missstände sind nicht erst seit Corona bekannt. Gibt es nun wenigstens Erkenntnisse, warum so viele Kinder ein Sondersetting – oder nicht selten sogar mehrere – benötigen?
Wir kennen gewisse Gründe, allerdings hat auch die Forschung nicht die alles erklärende Antwort. Man diagnostiziert früher – und mehr. Es gibt mehr psychische Erkrankungen in der Gesellschaft. Ebenfalls ist eine Zunahme an problematischen Familienkonstellationen erkennbar. Aber es gibt eben nicht die eine Kausalität, an der wir ansetzen und sagen können: Wenn wir das und jenes behoben haben, geht’s den Kindern wieder besser. Sehen Sie: Wir sind für alle Kinder da, die kommen – und jedes hat Anspruch auf die Förderung, die es braucht.
Ein Vorschlag, der im Film von Lehrern geäussert wird: Anstatt allein soll zu zweit in der Regelklasse unterrichtet werden. Damit müssten auch nicht so viele Kinder auf dem Gang oder draussen arbeiten. Überzeugt Sie dieser Vorschlag?
Das Doppel-Unterrichten gibt es heute schon, deshalb: ja. Und es zeigt sich, dass in schwierigen Klassen das Unterrichten allein oft nicht mehr geht – dann braucht es mehr als eine Lehrperson. Klar ist: Wir müssen mehr Ruhe in die Klassen bringen. Das ist denn auch das Ziel unseres Massnahmenpakets.
Vor 18 Monaten haben Sie im BaZ-Interview gesagt: “Es gibt kein Geläuf in den Klassen.” Im Film ist ersichtlich: Doch, das gibt es …
Auch das wollen wir mit unserem Massnahmenpaket verbessern. Wenn es zu viele Kinder mit besonderer Unterstützung gibt, entsteht diese Unruhe. Aber nochmals: Die im Film gezeigten Klassen sind Ausnahmen. Eine der Massnahmen, die wir deshalb vorschlagen, sind Lerninseln. Sie sollen die Möglichkeit bieten, unruhige Kinder vorübergehend aus der Regelklasse zu nehmen.
“Es wird neue separative Elemente geben, die die Situation stark entlasten sollen. Das sind substanzielle Eingriffe.”
Aber solche Klassen sind doch keine Einzelfälle mehr. Sie rütteln jedoch nicht an der integrativen Schule – und sagen: Das braucht einfach seine Zeit.
Ja. Dazu stehe ich auch. Ich muss jedoch betonen, dass ich innerhalb der integrativen Schule wirklich Reformbedarf sehe. Das Massnahmenpaket wird grundlegend sein. Es wird neue separative Elemente geben, die die Situation stark entlasten sollen. Das sind substanzielle Eingriffe. Aber wir möchten nicht zurück zu den Kleinklassen – weil alle Studien zeigen: Integration vor Separation ist der erfolgversprechende Weg für Kinder, die es schwer haben. Sei es wegen ihrer Herkunft und der Sprache, sei es wegen einer Beeinträchtigung.
Ihr Argument ist doch vor allem jenes: Kleinklässlern hat früher ein Stigma angehaftet. Ist es nicht umgekehrt? Wer ständig aus einer Regelklasse in ein Setting muss, spürt doch auch: Bei mir ist etwas anders …
Natürlich. Kinder merken sehr gut, was vorgeht. Aber die Lehrpersonen sind Profis – und schauen, dass sich die Schüler nicht stigmatisiert fühlen, dass Fördermassnahmen niemanden ausgrenzen. Das Problem bei den Kleinklassen ist für mich der Weg zurück in die Regelklasse, der für diese Schülerinnen und Schüler so schwierig ist. Einmal dort, immer dort. Und dann fehlen die Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Das sagt auch die Wissenschaft. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Wir sind in Basel nicht für die ausnahmslose Integration. Aber das Pendel ist wohl etwas stark in diese Richtung geschwungen. Das soll nun korrigiert werden.
Sind die Missstände überhaupt noch eine Frage des integrativen Modells – und nicht eher ein grundlegendes Problem der öffentlichen Schule?
Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das ungefiltert auf die Schulen prallt. Kinder, die sehr wenig von zu Hause mitbringen, weil sie noch nie im Wald gewesen sind, ihre Schuhe nicht selber binden und nicht auf einem Bein stehen können: Das ist Realität an Basler Schulen – und ja: Das überfordert sie zunehmend. Denn klar ist: Unsere Kernaufgabe ist eigentlich nicht die Erziehung, sondern die Bildungsvermittlung.
“Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen.”
Ist Letzteres überhaupt noch möglich?
Gewisse Bereiche muss man ganz neu denken. Es muss schon vor der Schule viel mehr passieren. Die Betreuung in den Kitas ist top, am Zentrum für Frühförderung kann Logopädie schon im Kleinkindalter helfen – und es gibt die obligatorische Deutschförderung für Dreijährige. Diese wollen wir jetzt weiter ausbauen. Das braucht auch mehr Geld, kein Zweifel.
Ist das noch realistisch? Es gibt so viele Probleme – und viele Lehrer geben nach wenigen Jahren im Beruf entnervt auf …
Wenn Lehrer nicht mehr wirksam unterrichten können, ist das ein Alarmzeichen. Aber wir haben genügend Bewerbungen von jungen Lehrern, die genau an solchen Schulen etwas bewegen wollen – und nicht in einem Dorf fernab auf dem Land.
Sie haben im Fernsehen gesagt: Änderungen brauchen eine Generation, bis sie wirken. Haben wir diese Zeit noch?
Wir sind nicht zu spät dran, aber es ist höchste Zeit für die Massnahmen, die wir vorschlagen. Aber nochmals eine Reform, die alles auf den Kopf stellt: Das sehe ich nicht als zielführend an. Das System ist an einer kritischen Grenze angekommen, aber noch immer tragfähig.
Kommentar:
Schon eine ganze Weile lang verbleibt nicht mehr einfach jeder verhaltensauffällige Schüler in einer Regelklasse: Es gibt kleine Gruppen – und ebenfalls Kleinstklassen mit nur zwei, drei Kindern. Aber dass das schon lange nicht mehr reicht: Das weiss auch Conradin Cramer. Aus Überzeugung will er nun weitere Massnahmen präsentieren, das schon auch – aber vor allem, weil es da eben auch noch die Förderklasseninitiative, die wieder deutlich mehr auf Separation setzt, gibt und die wie ein Damoklesschwert über der Politik des Erziehungsdirektors hängt. Kommt dazu: Zuletzt hat Cramer auch im Parlament mehr Widerstand erfahren müssen, hat eine Mehrheit einer Motion der FDP für Einführungsklassen – wenn ein Kind nach dem Kindergarten noch nicht reif für die Primarschule ist, soll es die 1. Klasse in zwei Jahren absolvieren dürfen – gegen seinen Willen zugestimmt. Nun also wird Cramer in diesem Jahr ein grosses Massnahmenpaket vorlegen, das den Förderklasseninitianten weit entgegenkommen soll. Ob das reichen wird, um einen Rückzug der Initiative zu erreichen, ist derzeit allerdings unsicher. (sb)
Zwischen den Schuljahren 2016/17 und 2022/23 – also ziemlich genau während der Amtszeit von Conradin Cramer – ist die Anzahl von Basler Schülern (ohne Riehen und Bettingen), die sogenannte verstärkte Massnahmen benötigen, massiv angestiegen. Waren es vor sieben Jahren noch 278 Kinder, die ein separatives Angebot in Anspruch genommen haben, waren es im letzten Schuljahr bereits 620. Zudem hat sich die Zahl der Schüler in Einstiegsgruppen – kleinere Klassen, zumeist für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse – in dieser Zeitspanne von 88 auf 199 erhöht. Der Anstieg um 95 Schüler im letzten Schuljahr, schreibt das Erziehungsdepartement (ED), «ist auf die 90 Ukraine-Flüchtlinge zurückzuführen, die ein solches Angebot besuchen, um sich Deutschkenntnisse anzueignen». Die Schülerzahlen der separativen Angebote sind in den letzten sieben Jahren von 525 auf 474 zurückgegangen. «Dies entsprechend dem gesetzlichen Auftrag (Sonderpädagogik- Konkordat), wonach Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf vermehrt in Regelklassen zu fördern sind», schreibt das ED. (sb)
Sebastian Briellmann
Regierungsrat Cramer windet sich unter den Fragen des Journalisten. Angeblich seien die bei SRF gezeigten Beispiele aus dem Schulhaus Thomas Platter “Ausnahmefälle”. Noch immer behauptet er, Studien würden belegen, dass inklusiver Unterricht der Benachteiligten besser sei als separativer, obwohl dies eine dänische Metastudie 2022 widerlegt und als Mythos entlarvt hat. Belügt sich Cramer selbst oder lässt er sich von seinen Beratern belügen? Zwei Wochen Praxis als Lehrperson würden ihn vielleicht aufwecken.
Sehr geehrter Herr Schmutz, haben Sie einen Link zur erwähnten, dänischen Metastudie? Herzlichen Dank und lieber Gruss.
Das Bild vom Pendel ist schon arg unverschämt. Schließlich hat man es genau so beschlossen und genau so umgesetzt, wie die Politik das haben wollte; und jetzt ist die Physik schuld?
Ich mag Statements von uneinsichtigen “Tätern” nicht lesen. Ein Täter ist derjenige, der etwas tut, was anderen schaden könnte. Und die von CC weiter vorangetriebene integrative Beschulung schadet. Schadet vor allem den zu Integrierenden und denjenigen, die (angeblich bereitwillig) integrieren (müssen).
Vielleicht wäre jetzt Handeln ohne grosse Politworte jetzt sinnvoller.
Und dann noch das:
Diese Wissenschaft, die all die unsinnigen Grundlagen für noch unsinnigere Reformen zur Verfügung gestellt hat, ist für mich persönlich keine Wissenschaft, da sie weder Wissen schafft noch vom Schaffen weiss.
Und wie stellt sich Herr Cramer denn vor, dass die pädagogischen Vollprofis in den Klassenzimmern Schülerinnen und Schüler ins alltägliche Sondersetting schicken, ohne dass diese sich stigmatisiert fühlen? So z. B. “Elias geht jetzt für eine Dreiviertelstunde zu Frau Spezi, weil die zwei sich besonders gut verstehen.”?
Und wenn der Basler Bildungsdirektor dann noch voller Stolz berichtet, es stünden genügend junge Lehrpersonen bereit für den schwierigen Unterricht im Stadtkanton, so komme ich nicht umhin, den nicht ausgesprochenen zweiten Teil dieses Satzes auch noch mit zu lesen, der da heissen könnte: Und damit ersetzen wir die alten, renitenten Säcke.
Suivons la route…