«Zürich und der Kolonialismus» lautet der Titel eines Lehrmittels, welches das Präsidialamt der Stadt Zürich in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich den Stadtzürcher Sekundarschulen zur Verfügung stellt. Das attraktiv gestaltete 76-seitige Schulbuch soll die Verstrickungen von Zürcher Kaufleuten in den Sklavenhandel im frühen 19. Jahrhundert aufdecken und alltäglichen Rassismus in der heutigen Zeit erkennen. Das Anliegen steht im Einklang mit dem Lehrplan, da das Ringen um Menschenrechte und mehr soziale Gerechtigkeit zu den zentralen Themen des Geschichtsunterrichts gehört.
Tendenziöses Lehrmittel für Stadtzürcher Sekundarschulen
Trotz dieser positiven Vorzeichen wird man beim Engagement der Zürcher Stadtbehörden den Eindruck nicht los, es gehe den Verfassern weniger um ein pädagogisches als um ein spezifisches politisches Anliegen. Mit dem Lernangebot wird ein sanfter Druck auf die Lehrerschaft ausgeübt, bei historischen Persönlichkeiten ausführlich auf dunkle Stellen ihrer Biografie hinzuweisen und sich verbreiteter rassistischer Symbole unserer Tage bewusst zu werden. So heisst es im Glossar des Lehrbuchs, Rassismus sei ein «institutionalisiertes System, das weisse Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt». Diese Definition trifft zwar den Kern des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert, schiebt aber auch in der Gegenwart den rassistischen Überlegenheitswahn einseitig den hellhäutigen Menschen zu. Unzulässige Geschichtsklitterung wird im Lehrbuch betrieben, wenn der Eisenbahnpionier Alfred Escher als indirekter Profiteur von Erträgen aus der Sklavenplantage seines Onkels bezeichnet wird. Gewiss war der Hauptinitiant des Gotthardbahnprojekts eine umstrittene Figur. Er hatte grosse Ziel, besass eine fast übermenschliche Schaffenskraft, war aber oft rücksichtlos im Umgang mit seinen politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten. Doch Escher mit dem Sklavenhandel in Verbindung zu bringen, ist absurd.
Wenn die Politik sich um Inhalte des Geschichtsunterrichts kümmert, darf sie den Blick aufs Ganze nicht verlieren. Macht sie dies wie der Zürcher Stadtrat, droht sie ihre pädagogische Glaubwürdigkeit zu verspielen. Jugendliche in der Sekundarschule verfügen in der Regel noch nicht über das nötige Grundwissen, um historische Persönlichkeiten souverän beurteilen zu können. Was Jugendliche in diesem Alter brauchen, ist vielmehr das Kennenlernen von Meilensteinen unserer Landesgeschichte der letzten gut 200 Jahre. Es gilt, die Umsetzung wirklich grosser Ideen im politischen Alltag mitzuverfolgen und dabei einige Kapitel ausführlich zu behandeln. Dazu zählt mit Sicherheit die aufregende Zeit rund um das Revolutionsjahr 1848. Und da spielte Alfred Escher im aufstrebenden jungen Bundesstaat eine entscheidende Rolle. Neben dem Berner Ulrich Ochsenbein und dem Winterthurer Jonas Furrer gehörte er zu den führenden Köpfen, welche in den politisch aufgeladenen Gründerjahren für eine Aufbruchstimmung sorgten.
Verfassung von 1848 als Lehrstück für konstruktive Politik
Als im Frühjahr 1848 Revolutionen in unseren Nachbarländern ausbrachen und die alte europäische Ordnung aus den Fugen geriet, tat sich für unser Land unerwartet eine Türe auf. Die Interventionsdrohung der Grossmächte verblasste, sodass in der Verfassungskommission der Tagsatzung ohne Einmischung von aussen die Idee eines modernen Schweizer Bundesstaates konkretisiert werden konnte. Es fehlte nicht an Dramatik, denn es war eine Herkulesaufgabe, in dem zwischen konservativen und liberalen Kantonen polarisierten Schweizer Staatenbund einen Ausgleich zu finden. Zum Glück gab es besonnene Persönlichkeiten auf beiden Seiten, welche die Gunst der Stunde erkannten und eine überzeugende Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen vorschlugen. Wie diese Einigung zwischen den unterschiedlichen Interessen gelang, ist ein Lehrstück konstruktiver Politik und ein Meilenstein der Schweizer Geschichte.
Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren.
Völlig zu Unrecht gilt die Grundsteinlegung der modernen Schweiz als wohl langweiligste Revolution der Weltgeschichte. Dabei bietet diese Zeit des Aufbruchs genug Stoff für anschaulichen Geschichtsunterricht mit markanten Persönlichkeiten und grossartigen Ideen.
Wie wäre es, wenn die Zürcher Stadtregierung allenfalls in Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Kantone den gut sichtbaren Spuren dieser prägenden Epoche in einem weiteren Lehrmittel nachgehen würde? Es wäre ein Zeichen, dass man gewillt ist, unserer Jugend ein wesentliches Stück unserer Schweizer Geschichte auf positive Weise zu vermitteln. Ein solches Konzept würde Kritik an Unzulänglichkeiten der damaligen Politik nicht ausklammern, schafft aber eine respektvolle Grundstimmung für die Leistungen unserer Vorfahren.
Politisch verunsicherte Lehrerinnen und Lehrer ohne inhaltlichen Auftrag
Leider muss man schon froh sein, wenn in den Sekundarschulen ein knapper Abriss über den Aufbau unseres Staatswesens vermittelt wird. Kaum jemand bestärkt die Lehrpersonen in der Überzeugung, dass sie einen wichtigen Auftrag für die staatspolitische Grundbildung unserer Jugend haben. Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt. In der Primarschule wiederum sind die Heldengeschichten aus der Sturm- und Drangzeit der Alten Eidgenossenschaft, welche im Unterricht einst patriotische Gefühle weckten, längst entzaubert worden. So wagen es die meisten Primarlehrkräfte heute gar nicht mehr, über den Tell-Mythos hinauszugehen. Das alles wäre zu verkraften, wenn man sich dafür umso mehr der neueren Geschichte zuwenden würde. Doch das geschieht höchstens noch bruchstückweise. Dabei sind die meisten Jugendlichen an unserer jüngsten Geschichte mit ihrer offensichtlichen Relevanz für die aktuelle Politik höchst interessiert.
Solange die Politik es ablehnt, ein ungeschöntes Narrativ der jüngeren Schweizer Erfolgsgeschichte mitzutragen, fehlt dem Fach der nötige Rückhalt.
Im Lehrplan wird zwar festgehalten, dass Einblicke in wichtige Epochen zum Bildungsprogramm gehören. Auch wird den geschichtlichen Erzählungen ein hoher Stellenwert zugestanden. Doch das Konzept, den Unterricht strikt auf Kompetenzziele auszurichten, erschwert eine inhaltlich kohärente Vermittlung unserer Landesgeschichte. Da der Lehrplan den Kompetenzzielen unzählige mögliche Inhalte zuordnet, ist in den Schulen der Eindruck einer grossen Beliebigkeit in der Stoffvermittlung entstanden. Man vermisst einen klaren inhaltlichen Bildungskompass für das Fach Geschichte.
Für eine Schweizer Geschichte mit verbindlichen Kernthemen
Es ist beschämend, wie wenig man sich in der Politik fragt, was denn in den Schulen im Fach Geschichte tatsächlich unterrichtet wird. Selbst die Zürcher Bildungsdirektion tappt diesbezüglich im Dunkeln, wie vor kurzem die Antwort auf eine Interpellation im Kantonsrat aufgedeckt hat. Es genügt absolut nicht, einige Themen nur zu empfehlen und zu hoffen, dass etwas geschieht. Vielmehr geht es darum, dass in der Lehrerbildung eine gründliche wissenschaftliche und didaktische Auseinandersetzung mit verbindlichen Kernthemen stattfindet. Didaktisch bedeutet hier primär, dass die im Geschichtsunterricht so zentrale Erzählkunst bei den Studierenden stärker gefördert wird und Elemente der Spannung in den Unterricht eingebaut werden. Wissenschaftlich heisst, dass geschichtliche Entwicklungslinien erkannt und unterrichtsrelevante Kenntnisse zu ausgewählten Epochen erworben werden. Diese fachdidaktische Aufwertung wäre neben der politischen Unterstützung der beste Garant, um den Lehrerinnen und Lehrern Mut für einen gehaltvollen Geschichtsunterricht zu machen.
Es braucht eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule.
Die Feiern zum Verfassungsjubiläum von 1848 mit dem Lob auf die staatspolitische Weitsicht der Gründerväter sind vorbei. Man fragt sich, was in der Bevölkerung hängenbleibt. Naiv wäre es zu glauben, schon mit einigen politischen Podien und attraktiven Museumsveranstaltungen für Jugendliche könne ein breites politisches Interesse geweckt werden. Was es vielmehr braucht, ist eine gründliche Reform des Geschichtsunterrichts in der Volksschule. Das Fach muss aus seiner Randstellung geholt und mit einem inhaltlich klaren Bildungsauftrag versehen werden. Damit kann sichergestellt werden, dass unsere moderne Landesgeschichte mit ihren politischen Verflechtungen zu einem wesentlichen Thema in den Schweizer Schulklassen wird.
Hanspeter Amstutz