1. Dezember 2024
Schulentwicklung

Multioptional? Suboptimal!

Condorcet-Autor Philipp Loretz mahnt angesichts der frivolen Vielfalt in Lehrplänen und Weiterbildung für eine “Common Sense – orientierte” Bildungspolitik. Der Artikel ist zuerst im “lvb inform”, dem Verbandsorgan der Lehrerorganisation des Kantons Baselland, als Editorial erschienen. Philipp Loretz ist der Verbandspräsident.

Liebe Leserin, lieber Leser

Stellen Sie sich vor, Sie brauchen einen neuen kabellosen Kopfhörer auf der Höhe der Zeit. Der Laden um die Ecke hat lediglich einen einzigen riesigen Pilotenkopfhörer im Sortiment. Im einschlägigen Multimediamarkt hingegen erleben Sie das Gegenteil und stehen nicht weniger als 206 Modellen gegenüber. Auf welche Ausstattungsmerkmale achten Sie? Klangqualität? Tragekomfort? Akkulaufzeit? Noise Cancelling? Transparenzmodus? Wasserdicht? Faltbar? Eingebautes Mic? Ergonomie? Farbe? Bedienbarkeit? In, On oder Over Ear?

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Präsident des lvb: Wir können es uns nicht länger leisten, dass bis zu 15% der Schülerschaft am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht in der Lage sind, einfachste Texte zu verstehen.

Angesichts dieses Options-Overkills haben Sie drei Möglichkeiten: Das Geschäft infolge der erlittenen Entscheidungslähmung mit leeren Händen zu verlassen, auf die Schnelle ein Modell zu kaufen, von dem Sie glauben, dass es Ihren Bedürfnissen am besten entspricht, oder tief in die Tasche zu greifen und zu Testzwecken gleich mehrere Kopfhörer zu erwerben. Für welche Strategie Sie sich auch entscheiden, Sie folgen stets dem Imperativ der Multioptionsgesellschaft.

Alternativlosigkeit bzw. Multioptionaliät führen auch im Bildungsbereich ins Abseits. Diese Erkenntnis hat an den Baselbieter Schulen bereits mehrfach zu richtungsweisenden Veränderungen geführt: Weg von inflationären Kompetenzbeschreibungen, hin zu überschaubaren Stoffinhalten; weg von einengenden Lehrmittelmonopolen, hin zur geleiteten Lehrmittelfreiheit; weg von flächendeckend verordneten Einheitsbrei-Fortbildungen, hin zu massgeschneiderten, individuell wählbaren Fortbildungsmodulen.

Die Strategie, den Unterricht innerhalb eines klar definierten Rahmens mit greifbaren und verbindlichen Standards weiterzuentwickeln, soll auch das Massnahmenpaket «Zukunft Volksschule» zum Erfolg führen. Zu diesem Zweck stellt der Kanton den Schulleitungen detaillierte Handreichungen zur Verfügung.

Im Rahmen der Teilautonomie bleibt es jedoch jeder Schule selbst überlassen, wie sie einzelne Teilbereiche, darunter die eminent wichtige «Leseförderung», in die lokale Schulentwicklung integriert. Nicht nur die deutlichen Ergebnisse der LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungen im Lehrberuf zeugen davon, dass die Schulentwicklung manchenorts aus dem Ruder gelaufen ist, sondern auch die technokratischen Orientierungsraster der PH FHNW [1], mit denen den Schulleitungen «wünschenswerte Ziele und leitende Werte» – 206 (!) an der Zahl – ans Herz gelegt werden. Schulentwicklung à discrétion, Verzettelung mit Ansage.

Zu viele Projekte, zu viele Sitzungen, zu viele Absprachen blockieren die zeitlichen und personellen Ressourcen, die für die Umsetzung des gemeinsam entwickelten 62-Millionen-Franken-Projekts dringend benötigt würden.

So ist es wohl kein Zufall, dass die Anzahl Anmeldungen für die spezifischen didaktischen Fortbildungen noch hinter den Erwartungen zurückbleibt. Zu viele Projekte, zu viele Sitzungen, zu viele Absprachen blockieren die zeitlichen und personellen Ressourcen, die für die Umsetzung des gemeinsam entwickelten 62-Millionen-Franken-Projekts dringend benötigt würden.

Damit sich das ändert, braucht es nicht nur engagierte Lehrpersonen, sondern auch umsichtige Schulleitungen, die genügend Raum und Zeit schaffen, indem sie weniger bedeutsame Prozesse zurückstellen, keine neuen Zusatz-Projekte lancieren, die schulinterne Gremiendichte reduzieren und die Bürokratie spürbar zurückfahren.

Die kantonalen Behörden ihrerseits sind aufgefordert, an geeigneter Stelle mehr Leadership zu übernehmen. Dazu gehören ein funktionierendes Controlling in Form definierter Etappenziele inkl. regelmässiger Überprüfung sowie das Einfordern einer transparenten Rechenschaftslegung.

Dafür braucht es keine multioptionalen Schulentwicklungsleitfäden, sondern eine gehörige Portion Common Sense und den Willen aller Beteiligten, fokussiert an den überschaubaren, klar definierten Strängen zu ziehen – und zwar in die gleiche Richtung.

Bei den nächsten ÜGKs (Überprüfung der Grundkompetenzen) muss der ROI (Return on Investment) insbesondere im Bereich Lesen sichtbar werden. Wir können es uns nicht länger leisten, dass bis zu 15% der Schülerschaft am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht in der Lage sind, einfachste Texte zu verstehen.

 

P.S.: Der geneigte Musikliebhaber achtet beim Kauf eines Kopfhörers in erster Linie auf das Klangbild, den Tragekomfort und die Benutzerfreundlichkeit – alles andere ist Schnickschnack.

 

[1] https://www.q2e.ch/downloads/thematische-orientierungsraster/
https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/direktionen/bildungs-kultur-und-sportdirektion/bildung/handbuch/aufsicht-und-qualitaet/downloads

lvb inform Juniausgabe 2023

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Ein Kommentar

  1. Wider Erwarten stellt Philipp Loretz die 15 % im Lesen versagenden Schulkinder ins Zentrum. Dieser Fünftel besteht seit Jahr und Tag und ruft mich, seit 60 Jahren als Primarlehrerin und Logopädin Tätige, auf die Barrikaden. Wozu habe ich wohl in den 1990er Jahren meine Dissertation zu den Erstleselehrmitteln der Deutschsprachigen Schweiz im 20. Jh. geschrieben?

    Seit Juni 2023 arbeite ich mit einem Schulkind, welches am Ende der ersten Klasse im Lesen versagt, obwohl es das A Be Ce gemäss dem Lied bestens singen kann und die Mundbilder nach Rickli gut unterscheidet. Die Mutter, ausgebildete Primarlehrerin, jetzt Physiotherapeutin, bemüht sich sehr um die Fortschritte ihres Kindes, erfolglos. . Wo liegt denn da der Hase im Pfeffer?

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