Philipp Loretz - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Philipp Loretz - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Reformspektakel als Geschäftsmodell https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/ https://condorcet.ch/2024/04/reformspektakel-als-geschaeftsmodell/#comments Tue, 09 Apr 2024 06:18:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=16436

Im neuen Inform, der Verbandszeitung des Baselllandschaftlichen Lehrerinnen- und Lehrervereins, setzt sich Verbandspräsident und Condordet-Autor Philipp Loretz mit der alarmistischen Rhetorik und den Forderungen von "intrinsic" und Co. auseinander. Er kommt zu einem niederschmetternden Befund.

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«Die Schweiz ist das schlechteste Land der Welt», «ein überholtes Lernverständnis aus der industriellen Zeit erzeugt Frust und schlechte Leistung», «das Gleichschritt-Marsch-System zerstört das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen».

So tönt derzeit die medial kolportierte alarmistische Krisenbewirtschaftung von Herausforderungen im Bildungswesen. Umtriebige Bildungs«experten» und gewiefte Geschäftemacher kämpfen gar für eine «radikale Bildungsrevolution». Mit ihrem martialisch-exaltierten Wording suggerieren sie, das gegenwärtige Schulsystem lasse lediglich verantwortungslose Lernwege zu – jenseits von Würde und Eigenmotivation. Starker Tobak, der von Felix Schmutz [1] oder Carl Bossard [2] dekonstruiert wird.

Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren.

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1,Präsident des lvb: Mehr Demut, meine lieben Bildungsrevolutionäre.

Unbestritten: Auf den grassierenden Illetrismus, den überfrachteten Lehrplan 21, den quantitativen und qualitativen Lehrpersonenmangel braucht es griffige, nachhaltige Antworten. Das hat die umfassende LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungsfaktoren im Lehrberuf eindrücklich gezeigt. Im Gegensatz zur seriösen Erhebung und sorgfältigen Auswertung des LVB setzen die Reformturbos auf pseudowissenschaftliches Spiegelfechten mittels selektiv ausgewählter, tendenziöser und mitunter abenteuerlich interpretierter Studien, u.a. konzipiert von einer Tochterfirma des US- Milliardenkonzerns Marsh & McLennan Companies.

Wer profitiert? Die üblichen Verdächtigen reiben sich die Hände, allen voran VR/KI-Firmen und private Anbieter heilsversprechender Weiterbildungen, denn die grösstmögliche Individualisierung vor Bildschirmen ist Teil der Konzepte. Prominent vertreten: Bildungsmanager der Stiftung Mercator, Geschäftsleitungsmitglieder des Schulleiterverbandes Schweiz (VSLCH) und Hochschul-Exponenten, die u.a. im Beirat des Privatunternehmens «intrinsic» sitzen. Dieses baut dank der Finanzspritzen seines Netzwerks Parallelstrukturen in der Lehrerbildung weiter aus und kann die öffentlichen Schulen wegen des anhaltenden Lehrpersonenmangels ungehindert mit seinen zweifelhaften Konzepten infiltrieren.

Vor dem Hintergrund der wohl einmaligen Integrationsleistung des Schweizer Bildungssystems, der 23 Medaillen der Schweizer Berufs-Champions an den WorldSkills Competitions 2022 in Shanghai oder der rekordtiefen Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Raum lege ich den ungemein sendungsbewussten Bildungsrevolutionären ans Herz, sich etwas mehr in Demut zu üben, die «Push-To-Talk- Taste» loszulassen und stattdessen die Auswirkungen der Grossreformen der letzten 20 Jahre zuerst genau unter die Lupe zu nehmen. Bessere Französischkenntnisse dank Frühfranzösisch? Mehr Wissen und Können dank des Lehrplans 21? Höhere Sek II-Abschlussquoten dank mehr Inklusion? Bessere Lehrerbildung dank Akademisierung der Pädagogischen Hochschulen? Welche überschwänglichen Versprechungen wurden tatsächlich Realität?

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen.

Der Sturm-und-Drang-Fraktion der Schulreformer unterbreite ich folgenden Vorschlag: Erproben Sie Ihr Schulmodell doch über einen längeren Zeitraum an 10 verschiedenen Standorten in der Schweiz und lassen Sie es von unabhängigen Forschern im Vergleich zu 10 «traditionellen» Schulen mit Tests in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Biologie und Physik evaluieren. Melden Sie sich erst wieder nach Abschluss der Evaluation, anstatt einmal mehr aufs Geratewohl ein Medikament ohne Wirksamkeitsnachweis auf den Bildungsmarkt zu werfen und den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen zu unterschlagen. In der Arzneimittelforschung ist ein solches Vorgehen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Berufsverbot geahndet.

 

Eindimnsionale Worthülsen

Die Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft sind gut beraten, sich von den eindimensionalen Worthülsen der Kampagnenführer nicht Sand in die Augen streuen zu lassen. Für ein funktionierendes Bildungssystem und eine erfolgreiche Integration unserer Jugend in den Arbeitsmarkt brauchen wir ganz bestimmt keine angloamerikanischen Verhältnisse mit Privatschulen für die Reichen und Restschulen für die weniger Begüterten, sondern eine starke, humanistisch wie leistungsorientiert geprägte öffentliche Volksschule für alle.

[1] Felix Schmutz, Der Vorstand des VSLCH bemüht sich um Schulrevolution
[2] Carl Bossard, Wer steuert eigentlich das Bildungsboot?
Philipp Loretz, Reformspektakel als Geschäftsmodell (publiziert in der Aprilausgabe der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB)

 

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Messer, Gabel, Löffel • Von Gewissheiten gelingenden Unterrichts – und ihrem Gegenteil https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/#comments Tue, 26 Dec 2023 12:42:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=15549

Condorcet-Autor und Präsident des Basellandschaftlichen Lehrer- und Lehrerinnenvereins ruft uns in seinem Editorial seiner Verbandszeitung noch einmal die wesentlichen Erfolgsgarantien für guten Unterricht in Erinnerung.

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April 2007: Auf die Frage, was Ex-Microsoft-Chef Steve Ballmer vom eben auf den Markt gebrachten iPhone halte, antwortete er belustigt, nie im Leben werde das iPhone einen nennenswerten Marktanteil erlangen. Keine Tastatur, ergo schlechte Mail-Maschine, horrender Preis. Tatsächlich hat Apple seit der Lancierung 2007 über 2.5 Milliarden iPhones verkauft. In der Schweiz beträgt der Marktanteil mittlerweile stolze 46 %. Steve Ballmer unterlag einer kolossalen Fehleinschätzung.

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer,  Präsident lvb, Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland
Bild: fabü

2011 kündigten die Verantwortlichen von Passepartout die Revolutionierung des Fremdsprachenerwerbs an. Doch der Zaubertrank in Gestalt der sogenannten Didaktik der Mehrsprachigkeit und der Lehrmittel «Mille feuilles» resp. «Clin d’oeil» fiel gleich in vier wissenschaftlichen Studien durch. Bei der Überprüfung der Grundkompetenzen ÜGK verfehlten 89 % der Passepartout-Kinder das erklärte Ziel im Bereich Sprechen. Nach Einführung der Lehrmittelfreiheit im Kanton Baselland 2019 sank der Marktanteil von «Clin d’oeil» auf einen Schlag in die Bedeutungslosigkeit. Die Projektleitung, die Bildungsdirektoren und die Bildungs-«Experten» aus dem Dunstkreis der Pädagogischen Hochschulen ereilte das gleiche Schicksal wie Steve Ballmer: Sie waren einem monumentalen Irrtum aufgesessen.

1884 gründete Karl Elsener die Gemeinschaft für Messerschmiede. Ob er den universellen Einsatz von Messer und Gabel als unverzichtbare Tischutensilien vorausgesagt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls existiert die Firma «Elsener Messerschmied AG» heute noch und stellt bereits in der achten Generation u.a. Messer und Gabeln her. Der «Marktanteil» der beiden «Esswerkzeuge» dürfte in der westlichen Welt den Traumwert von nahezu 100 % erreicht haben. Karl Elsener hatte also auf das richtige Pferd gesetzt.

Ich bin überzeugt, dass der Mensch auch in 100 Jahren seine Nahrung mit dem Messer zerkleinern und mit der Gabel zum Mund führen wird. Frei nach Bestseller-Autor Rolf Dobelli: «Was sich über Jahrhunderte gegen den Innovationssturm behauptet hat, wird sich wohl auch in Zukunft behaupten.»

Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben.

Verlässliche Konstanten sind auch in dem von Neomanie geprägten Bildungswesen von grosser Bedeutung. Lernen auf Beziehungsebene erfordert physische Präsenz. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf verlässliche und fähige Lehrpersonen, die sich auch in Zukunft durch die folgenden drei Hauptmerkmale auszeichnen:

Sie verfügen über pädagogisches Geschick, haben ein offenes Ohr für die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und pflegen deshalb einen altersgerechten Unterrichtsstil. Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben. Oberflächlich-aktionistische Sightseeing-Pädagogik dagegen ist ihnen ein Graus.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk.

Bekanntlich fallen gute Lehrpersonen nicht vom Himmel. Pädagogische Hochschulen, welche sich ihrer grossen Verantwortung für den Bildungserfolg in unserem Land bewusst sind, sorgen mit seriösen Assessments dafür, dass geeignete junge Menschen den Weg in den Lehrberuf finden. Die fachwissenschaftliche Ausbildung stellt sicher, dass die angehenden Lehrpersonen über ein solides und stufengerechtes Fachwissen verfügen. Dabei gilt es, Augenmass zu halten. Literatur in allen Ehren, aber Englischlehrer an der Volksschule müssen in erster Linie die englische Sprache beherrschen. Und von Sek I-Physiklehrpersonen wird nicht erwartet, dass sie Astronauten ausbilden können.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk. Eine praxisorientierte Ausbildung in Methodik und Didaktik gehört deshalb zum Pflichtprogramm. Der von manchen PH-Vertretern gebetsmühlenartig wiederholte Vorwurf der Rezepthaftigkeit greift definitiv nicht.

Erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Realitätssinn

Zugegeben: Unterrichtserfahrung ist noch keine Garantie für eine erfolgreiche Lehrtätigkeit als Fachdidaktikdozent. Mangelnde oder fehlende Unterrichtserfahrung hingegen ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein Garant für praxisferne Konzepte wie bspw. die eingangs erwähnte Mehrsprachigkeitsdidaktik oder pseudowissenschaftliche pädagogische Konzepte, die Primarschulkinder wie Erwachsene behandeln. Überzogene Selbstorganisation, inflationäre individuelle Lernarrangements oder psychometrische Kompetenzraster lassen grüssen. Nein, wir brauchen in der Lehrerbildung keine realitätsfernen Technokraten, sondern erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Herzblut und Realitätssinn.

Wie angehende Lehrpersonen zu einem tragfähigen Praxiswissen und solidem Berufskönnen befähigt werden, zeigt das neue Studienmodell der Hochschule für agile Bildung HfaB in Zürich, das Carl Bossard in seinem Artikel «Das Gleiche anders machen» [1] erfrischend beleuchtet. Prädikat: Strengstens lesenswert!

P.S.: Fast hätte ich es vergessen: Neben Messer und Gabel ist natürlich auch der Löffel fester Bestandteil des Bestecks, damit wir die Kürbissuppe auch in ferner Zukunft geniessen können. Das Auslöffeln der Suppe, die uns (notorisch rechthaberische) Bildungspropheten eingebrockt haben, überlasse ich allerdings lieber dem «Bullshit-Filter der Geschichte» (Nassim Nicholas Taleb).

[1] https://condorcet.ch/2023/11/das-gleiche-anders-machen/

Dieser Artikel ist zuerst in der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB erschienen: https://lvb.ch/lvbinform/ausgabe/2023-24-02/

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Schulische Digitalisierung bedarf der Reflexion https://condorcet.ch/2023/10/schulische-digitalisierung-bedarf-der-reflexion/ https://condorcet.ch/2023/10/schulische-digitalisierung-bedarf-der-reflexion/#comments Tue, 17 Oct 2023 09:07:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=15108

Der Präsident des LVB (Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland) mahnt in seinem Editorial der Verbandszeitschrift «lvb inform» zu einem vorsichtigeren Vorgehen in Sachen Digitalisierung der Schulstuben. Er drängt auf "evidenzbasierte Nutzungsregeln" und fordert die Bildungsbehörden sowie die Lehrkräfte auf, den Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» der UNESCO, der vor den negativen Folgen einer unreflektierten digitalen Transformation warnt, endlich ernst zu nehmen.

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Liebe Leserin, lieber Leser

Als unser ICT-begeisterter Chemielehrer Mitte der 80er Jahre behauptete, in Zukunft würde jeder Haushalt über einen Personal Computer verfügen, lachten wir über seine verrückte Prophezeiung. Und tatsächlich sollte sich unser damaliger IT-Turbo gewaltig geirrt haben: Die meisten Haushalte verfügen heutzutage nämlich nicht über einen Rechner, sondern über etliche digitale Endgeräte in Form von PCs, Laptops, Tablets und Smartphones.

Bildschirme, so weit das Auge reicht – buchstäblich!

Mit der basellandschaftlichen ICT-Schuloffensive wurde die Bildschirm-Armada weiter ausgebaut. An den Sekundarschulen gehören persönliche Tablets bereits zum Standard. Und die Gemeinden sind aufgefordert, auch Primarschulkinder mit iPads – also überdimensionierten Smartphones auszurüsten. Um die Ähnlichkeit der beiden Schiefertafeln zu kaschieren, werden die Tablets liebevoll «digitale Lernbegleiter» genannt. Härzig!

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer, BL und Präsident LVB. Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland: Die eindeutigen wissenschaftlichen Belege nicht länger ignorieren
Bild: fabü

Weniger härzig sind jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse, die dem übermässigen Einsatz digitaler Technologien ein bedenkliches Zeugnis ausstellen. Unter Berufung auf 89 internationale Studien warnt die UNESCO in ihrem 435 Seiten starken Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» [1] vor den Folgen einer unreflektierten digitalen Transformation. Das umfangreiche Datenmaterial weise auf einen negativen Zusammenhang zwischen intensiver ICT-Nutzung und den Leistungen der Schüler hin. Das renommierte Karolinska Institut hat die schwedische Bildungsbehörde unlängst aufgefordert, die eindeutigen wissenschaftlichen Belege nicht länger zu ignorieren. Der Einsatz digitaler Werkzeuge führe erwiesenermassen u.a. zu mehr Ablenkung, schwäche die Konzentrationsfähigkeit, behindere das Arbeitsgedächtnis und verschlechtere damit die Lernleistung markant. Pikant: Ausgerechnet Kinder mit besonderen Bedürfnissen wie z.B. ADHS treffe die Digitalisierung besonders hart. [2]

Darüber hinaus wirke sich auch das Lesen und Schreiben am Bildschirm negativ auf das Leseverständnis aus. «Der negative Effekt beträgt 36 Prozent, was etwa zwei Jahren Leseentwicklung in der Mittelstufe entspricht.» Ähnliches hatte 2019 schon die Stavanger-Erklärung ans Licht gebracht: Das Lesen von gedruckten Texten ist effektiver, vor allem wenn es darum geht, Texten Informationen bzw. Zusammenhänge zu entnehmen und sie wiederzugeben.

Zudem verweisen die schwedischen Psychologen und Neurowissenschaftler auf eine weitere Studie, die «einen positiven Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und verschiedenen Aspekten der psychischen Gesundheit (z.B. Depression, Angstzustände, […] geringes Selbstwertgefühl, Essstörungen, Schlafprobleme) und der körperlichen Gesundheit (z.B. Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit, schlechtere motorische Fähigkeiten)» beschreibt.

Sechs Jahre später sind die Baselbieter Schulen (inkl. Sekundarstufe II) noch immer meilenweit entfernt von gemeinsamen, evidenzbasierten Nutzungsregeln, die sich am Wohl der Lernenden orientieren – und nicht am Shareholder Value der IT-Giganten aus dem Silicon Valley.

Bereits 2017 mahnte der LVB, dass ein sinnvoll ausgestalteter digitaler Wandel nur gelingen kann, wenn die Elefanten im Raum – die unübersehbaren schwierigen Aspekte, die am liebsten niemand zur Sprache bringen möchte – ernst genommen werden. Sechs Jahre später sind die Baselbieter Schulen (inkl. Sekundarstufe II) noch immer meilenweit entfernt von gemeinsamen, evidenzbasierten Nutzungsregeln, die sich am Wohl der Lernenden orientieren – und nicht am Shareholder Value der IT-Giganten aus dem Silicon Valley.

Die Mindeststandards der Bildung müssen erreicht werden.

Angesichts der besorgniserregenden Faktenlage sind verbindliche Leitlinien dringend erforderlich. Die geistige und körperliche Unversehrtheit gehört ins Zentrum pädagogischer Medienkonzepte. Der Schutz der Privatsphäre muss gewährleistet sein. Es ist z.B. nicht einzusehen, warum Minderjährige nach Schulschluss und am Wochenende für Lehrpersonen erreichbar sein sollen – und umgekehrt. Weder mein Zahnarzt noch mein Gärtner stehen mir nach Ladenschluss zur Verfügung.

Der Eingriff der Schule in das digitale Erziehungskonzept der Eltern ist zu unterlassen. Die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind verbindlich zu klären. Der Einsatz von iPads in der Basis- und Unterstufe ist zu hinterfragen. Kurz: Die Schule ist aufgefordert, ihre pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und den negativen Folgen der grassierenden digitalen Vereinnahmung der Kinder und Jugendlichen entschieden entgegenzutreten.

Philipp Loretz

Präsident LVB

P.S.: Um mich vom Vorwurf der ICT-Feindlichkeit zu entlasten, noch dies: Das Magazin [3], das Sie in den Händen halten, habe ich für Sie mit InDesign gestaltet – am Bildschirm, mit Maus, Tastatur und Timer

 

Quellen:

[1] Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» der UNESCO

[2] Stellungnahme des Karolinska Instituts

[3] lvb inform, Septemberausgabe 2023

 

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Multioptional? Suboptimal! https://condorcet.ch/2023/08/multiptional-suboptimal/ https://condorcet.ch/2023/08/multiptional-suboptimal/#comments Mon, 07 Aug 2023 07:45:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=14747

Condorcet-Autor Philipp Loretz mahnt angesichts der frivolen Vielfalt in Lehrplänen und Weiterbildung für eine "Common Sense - orientierte" Bildungspolitik. Der Artikel ist zuerst im "lvb inform", dem Verbandsorgan der Lehrerorganisation des Kantons Baselland, als Editorial erschienen. Philipp Loretz ist der Verbandspräsident.

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Liebe Leserin, lieber Leser

Stellen Sie sich vor, Sie brauchen einen neuen kabellosen Kopfhörer auf der Höhe der Zeit. Der Laden um die Ecke hat lediglich einen einzigen riesigen Pilotenkopfhörer im Sortiment. Im einschlägigen Multimediamarkt hingegen erleben Sie das Gegenteil und stehen nicht weniger als 206 Modellen gegenüber. Auf welche Ausstattungsmerkmale achten Sie? Klangqualität? Tragekomfort? Akkulaufzeit? Noise Cancelling? Transparenzmodus? Wasserdicht? Faltbar? Eingebautes Mic? Ergonomie? Farbe? Bedienbarkeit? In, On oder Over Ear?

Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Präsident des lvb: Wir können es uns nicht länger leisten, dass bis zu 15% der Schülerschaft am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht in der Lage sind, einfachste Texte zu verstehen.

Angesichts dieses Options-Overkills haben Sie drei Möglichkeiten: Das Geschäft infolge der erlittenen Entscheidungslähmung mit leeren Händen zu verlassen, auf die Schnelle ein Modell zu kaufen, von dem Sie glauben, dass es Ihren Bedürfnissen am besten entspricht, oder tief in die Tasche zu greifen und zu Testzwecken gleich mehrere Kopfhörer zu erwerben. Für welche Strategie Sie sich auch entscheiden, Sie folgen stets dem Imperativ der Multioptionsgesellschaft.

Alternativlosigkeit bzw. Multioptionaliät führen auch im Bildungsbereich ins Abseits. Diese Erkenntnis hat an den Baselbieter Schulen bereits mehrfach zu richtungsweisenden Veränderungen geführt: Weg von inflationären Kompetenzbeschreibungen, hin zu überschaubaren Stoffinhalten; weg von einengenden Lehrmittelmonopolen, hin zur geleiteten Lehrmittelfreiheit; weg von flächendeckend verordneten Einheitsbrei-Fortbildungen, hin zu massgeschneiderten, individuell wählbaren Fortbildungsmodulen.

Die Strategie, den Unterricht innerhalb eines klar definierten Rahmens mit greifbaren und verbindlichen Standards weiterzuentwickeln, soll auch das Massnahmenpaket «Zukunft Volksschule» zum Erfolg führen. Zu diesem Zweck stellt der Kanton den Schulleitungen detaillierte Handreichungen zur Verfügung.

Im Rahmen der Teilautonomie bleibt es jedoch jeder Schule selbst überlassen, wie sie einzelne Teilbereiche, darunter die eminent wichtige «Leseförderung», in die lokale Schulentwicklung integriert. Nicht nur die deutlichen Ergebnisse der LVB-Mitgliederbefragung zu den Belastungen im Lehrberuf zeugen davon, dass die Schulentwicklung manchenorts aus dem Ruder gelaufen ist, sondern auch die technokratischen Orientierungsraster der PH FHNW [1], mit denen den Schulleitungen «wünschenswerte Ziele und leitende Werte» – 206 (!) an der Zahl – ans Herz gelegt werden. Schulentwicklung à discrétion, Verzettelung mit Ansage.

Zu viele Projekte, zu viele Sitzungen, zu viele Absprachen blockieren die zeitlichen und personellen Ressourcen, die für die Umsetzung des gemeinsam entwickelten 62-Millionen-Franken-Projekts dringend benötigt würden.

So ist es wohl kein Zufall, dass die Anzahl Anmeldungen für die spezifischen didaktischen Fortbildungen noch hinter den Erwartungen zurückbleibt. Zu viele Projekte, zu viele Sitzungen, zu viele Absprachen blockieren die zeitlichen und personellen Ressourcen, die für die Umsetzung des gemeinsam entwickelten 62-Millionen-Franken-Projekts dringend benötigt würden.

Damit sich das ändert, braucht es nicht nur engagierte Lehrpersonen, sondern auch umsichtige Schulleitungen, die genügend Raum und Zeit schaffen, indem sie weniger bedeutsame Prozesse zurückstellen, keine neuen Zusatz-Projekte lancieren, die schulinterne Gremiendichte reduzieren und die Bürokratie spürbar zurückfahren.

Die kantonalen Behörden ihrerseits sind aufgefordert, an geeigneter Stelle mehr Leadership zu übernehmen. Dazu gehören ein funktionierendes Controlling in Form definierter Etappenziele inkl. regelmässiger Überprüfung sowie das Einfordern einer transparenten Rechenschaftslegung.

Dafür braucht es keine multioptionalen Schulentwicklungsleitfäden, sondern eine gehörige Portion Common Sense und den Willen aller Beteiligten, fokussiert an den überschaubaren, klar definierten Strängen zu ziehen – und zwar in die gleiche Richtung.

Bei den nächsten ÜGKs (Überprüfung der Grundkompetenzen) muss der ROI (Return on Investment) insbesondere im Bereich Lesen sichtbar werden. Wir können es uns nicht länger leisten, dass bis zu 15% der Schülerschaft am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht in der Lage sind, einfachste Texte zu verstehen.

 

P.S.: Der geneigte Musikliebhaber achtet beim Kauf eines Kopfhörers in erster Linie auf das Klangbild, den Tragekomfort und die Benutzerfreundlichkeit – alles andere ist Schnickschnack.

 

[1] https://www.q2e.ch/downloads/thematische-orientierungsraster/
https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/direktionen/bildungs-kultur-und-sportdirektion/bildung/handbuch/aufsicht-und-qualitaet/downloads

lvb inform Juniausgabe 2023

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https://condorcet.ch/2023/08/multiptional-suboptimal/feed/ 1
Probieren geht über Studieren https://condorcet.ch/2023/01/probieren-geht-ueber-studieren/ https://condorcet.ch/2023/01/probieren-geht-ueber-studieren/#respond Mon, 30 Jan 2023 05:58:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=13009

Der Condorcet-Autor Philipp Loretz ist auch Präsident des lvb. In der neusten Ausgabe des lvb-Bulletins werden im Detail die Ergebnisse einer Umfrage ausgewertet, welche der Verband in seinem Kanton durchführte (Der Condorcet-Blog berichtete darüber). Wir veröffentlichen hier das Editorial der ausserordentlich lesenswerten Broschüre.

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Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Präsident des lvb: In einer Wellnesswoche zum Arzt.

Auf die Frage, wie man herausfinden könne, ob man für den Lehrberuf geeignet sei, sagte ein Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung freimütig: «Probieren geht über Studieren». Für dieses geflügelte Wort hege ich durchaus Sympathie. Ohne diese Haltung hätte ich weder laufen noch tanzen gelernt. Die neue IKEA-Kommode baute ich allerdings erst nach sorgfältiger Konsultation der Anleitung zusammen. Und im Unterschied zum Do-it-yourself-Möbelbau stellt Unterrichten ein weitaus komplexeres Unterfangen dar, das profunde Fachkenntnisse, pädagogisches Knowhow, ein reichhaltiges Methodenrepertoire u.v.m. erfordert.

Was sich angehende Lehrpersonen in einem drei- bis fünfjährigen Studium aneignen, lässt sich in Zeiten des Lehrpersonenmangels scheinbar auf fünftägige Crashkurse komprimieren – so geschehen letzten Sommer im Kanton Zürich. Ganz wohl ist es den Verantwortlichen beim Schwingen des Zauberstabes dann aber doch nicht. In Form von Mentoraten werden nicht diplomierten Einsteiger erfahrene Berufsleute zur Seite gestellt. Im besten Fall wird dieses Engagement entschädigt, im schlechtesten Fall unter «Teamarbeit» im Rahmen sogenannter Schulentwicklung verbucht.

Um zu verhindern, dass Studienabgänger den Lehrberuf vorzeitig verlassen, werden landauf, landab auch für diplomierte Berufseinsteiger Mentorate eingeführt resp. ausgebaut. Der Betrachter reibt sich verwundert die Augen: Mentorate für Quereinsteiger ohne pädagogischen Hintergrund, Mentorate für Studienabgänger mit pädagogischer Ausbildung.

Ursula Renold: Sollte das Experiment mit den Notfalllösungen allerdings von Erfolg gekrönt sein, dann muss die Wirkung der Akademisierung im Feld – im Schulzimmer – hinterfragt werden.

Dieser Widerspruch blieb auch den Medien nicht verborgen. So warf der Moderator der SRF-Sendung «Eco Talk» vom 29.8.22 die provokative Frage auf, ob man denn auf die zu akademische Ausbildung an den PHs nicht einfach verzichten könnte. Ursula Renold, Bildungsökonomin an der ETH, warnte vor voreiligen Rückschlüssen. Sollte das Experiment mit den Notfalllösungen allerdings von Erfolg gekrönt sein, dann müsse die Wirkung der Akademisierung im Feld – also im Schulzimmer – hinterfragt werden.

Mit dieser Forderung liegt Renold goldrichtig, denn die Lehrerbildung steckt tatsächlich in der Krise. Crashkurse zu Dumpingpreisen auf der einen, praxisferne, technokratische Ausbildungen auf der anderen Seite. Es ist deshalb höchste Zeit, Wege aus dieser doppelten Sackgasse zu finden.

In der aktuellen Notlage gilt es, engagierte Quereinsteiger mit einem Flair für Pädagogik zu gewinnen, die spätestens zwei Jahre nach dem Quereinstieg bedarfsgerechte Nachqualifikationen in Angriff nehmen. Gleichzeitig sei der PH FHNW wärmstens ans Herz gelegt, im wahrsten Sinne des Wortes über die Bücher zu gehen und dafür zu sorgen, dass angehende Lehrpersonen im fachdidaktischen Bereich von praxiserprobten, erfolgreichen Pädagogen mit Herzblut in die Kunst des Lehrens eingeführt werden. Die PH-Direktion wäre ferner gut beraten, sich vom Verlegenheitsmantra, Berufserfahrung sei schwer zu quantifizieren, zu verabschieden.

Wie weit soll die Forschung gehen in der Lehrerausbildung gehen?

Das kantonale Projektteam «Lehrpersonenmangel» unter Beteiligung des LVB ist bestrebt, drohende zürcherische Zustände mit Hilfe eines vielfältigen Massnahmenpakets abzuwenden. Wie die Attraktivität des Lehrberufs aus Sicht des LVB nachhaltig gesteigert werden kann, legt Roger von  Wartburg in seiner Auswertung der LVB-Mitgliederbefragung «Belastungsfaktoren im Lehrberuf» dar. [Die Condorcet-Leserinnen und Leser können diese hier (08_LVB-Mitgliederbefragung-Belastungsfaktoren-im-Lehrberuf_lvb-inform_22-23-02 ) öffnen.]

Sollte der Lehrberuf trotz aller Appelle schweizweit weiterhin an Anziehungskraft verlieren, werden Ihnen, liebe Mitglieder, wohl bald schon zahlreiche Türen offenstehen. Schliesslich dürften vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels auch andere gebeutelte Branchen kreative Angebote lancieren. Falls Sie also demnächst auf verlockende Ausbildungs-Dumping-Inserate wie «Maschineningenieur in 5 Tagen», «Werde Polymechanikerin, ein Wochenende genügt!» oder «Jetzt: in der Wellnesswoche zum Hausarzt» stossen sollten, dann nutzen Sie Ihre Ausstiegschancen unbesorgt, denn Sie wissen ja: Probieren geht über Studieren!

Philipp Loretz Präsident LVB

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https://condorcet.ch/2023/01/probieren-geht-ueber-studieren/feed/ 0
Checks im Realitätscheck – Problemanalyse des LVB nach 5 Jahren Erfahrung https://condorcet.ch/2021/07/checks-im-realitaetscheck-problemanalyse-des-lvb-nach-5-jahren-erfahrung/ https://condorcet.ch/2021/07/checks-im-realitaetscheck-problemanalyse-des-lvb-nach-5-jahren-erfahrung/#respond Sat, 10 Jul 2021 14:33:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=8859

Grassierendes Teaching to the test, anhaltende IT-Pannen, mangelnde Transparenz, fragwürdige Datenerhebung, praxisferne Korrektoren/-innen und fehlerbehaftete Profilabgleiche: Wie aussagekräftig sind standardisierte Leistungschecks des Instituts für Bildungsevaluation (IBE) der Universität Zürich wirklich? Der Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland (LVB) hat das IBE um eine Stellungnahme gebeten.

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2021).

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Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Vorstandsmitglied des lvb: Viele offene Fragen

Seit mittlerweile 5 Jahren werden an den Primar- und Sekundarschulen des Bildungsraums Nordwestschweiz flächendeckend standardisierte Leistungschecks durchgeführt. Für die Umsetzung verantwortlich ist das Institut für Bildungsevaluation (IBE) der Universität Zürich. Aufgrund der vielfältigen Kritik nach der ersten Durchführung interviewte der LVB bereits 2017 IBE-Geschäftsleiter Urs Moser [1] . Auch als Folge des Insistierens seitens LVB erfährt die Thematik aktuell neue Dynamik. Das Baselbieter Amt für Volksschulen (AVS) hat sich an Urs Moser gewandt zwecks Austausch über Rückmeldungen aus der Berufspraxis. Ein erster Diskussionstermin unter Beteiligung von Lehrpersonen- und Schulleitungsvertretungen wurde vereinbart. Der LVB hat in diesem Kontext die folgenden Anliegen und Forderungen eingereicht:

Teaching to the test

Eine vom IBE 2021 veröffentlichte Grafik zur Nutzung von «Mindsteps» im Kanton Basel-Landschaft nach Schulstufen zeigt, dass die Anzahl «Mindsteps»-Aufgabenserien pro Tag unmittelbar vor der Durchführung der Checks insbesondere auf Stufe Sek I massiv in die Höhe schnellen.

  • Der LVB beobachtet diese Entwicklung mit Sorge und möchte wissen, wie das IBE gedenkt, dieser Form des Teachings to the test entgegenzuwirken.

Mindsteps

Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass sich der Einsatz von «Mindsteps» über die Jahre vergleichsweise rasch abnützt. Schülerinnen und Schüler beschreiben die Aufgabenserien als monoton. Auf Stufe Sek I dürfte das Instrument primär zur Vorbereitung auf die Checks und weniger als Förderinstrument eingesetzt werden (s. oben erwähnte Grafik).

  • Der LVB möchte wissen, warum das Check-Vorbereitungsinstrument «Mindsteps» weiter ausgebaut und beworben wird – dem grassierenden Teaching to the test zum Trotz.

IT-Pannen

Seit Einführung der Checks reisst die technische Pannenserie bei den Durchführungen nicht ab. Schülerinnen und Schüler, welche die Checks motiviert angegangen haben, reagieren frustriert: Das Einzige, was während der Checks laufe, sei die Zeit – so ein Vorwurf von Lernenden.

  • Der LVB möchte wissen, ab wann mit einem reibungslos funktionierenden System gerechnet werden kann. Aus Sicht der Betroffenen stellt sich die Frage, ob die Testresultate die tatsächliche Leistung widerspiegeln – und nicht etwa die Leistung eines fehlerhaften IT-Systems.
Unklare Kompetenzstufen

Zuordnung der Kompetenzstufen

Laut IBE werden die kompetenzorientierten Aufgaben resp. deren Zuteilung zu den zahlreichen Kompetenzstufen von Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern der PH FHNW ausgearbeitet resp. vorgenommen. Lehrpersonen kritisieren, von aussen sei nicht ersichtlich, aufgrund welcher Kriterien die Zuordnung der zahlreichen Kompetenzstufen vorgenommen werde.

  • Der LVB bittet um Klärung anhand konkreter Beispiele aus allen Fachbereichen. Ferner möchte der LVB wissen, ob bei der Erweiterung und Pflege des kompetenzorientierten Aufgabenuniversums auch Praktikerinnen und Praktiker miteinbezogen werden.

Computer Adaptive Tests

Laut IBE lösen die Lernenden individuell unterschiedliche Aufgaben. Rückmeldungen aus der Praxis monieren, dass die Aufgabeninhalte (insbesondere in den Bereichen Lesen und Hören in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch) für ganze Klassen identisch gewesen seien. Einzig die Reihenfolge der Aufgaben sei unterschiedlich gewesen.

  • Der LVB bittet das IBE um Klärung.

Gemäss IBE soll sich der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben dem Leistungspotenzial des einzelnen Schülers resp. der einzelnen Schülerin anpassen. Rückmeldungen aus der Praxis lassen bezüglich Wirkungsweise und Zweckmässigkeit Zweifel aufkommen.

  • Der LVB bittet das IBE, die Funktionsweise der adaptiven Aufgaben anhand konkreter Beispiele aus allen Fachbereichen zu erläutern. Ist es beispielsweise möglich, dass Lernende im Fach Mathematik zu anspruchsvollen (Joker-)Aufgaben vorstossen können, auch wenn sie relativ einfache Aufgaben nicht lösen konnten?
Dr. Urs Moser, Leiter des Instituts für Bildungsevaluation: Berechtigte Fragen

Mangelnde inhaltliche Passung

Bereits 2017 wurden mangelnde inhaltliche Passungen kritisiert. Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass es beim Check P5 auch im Schuljahr 20/21 zu mangelnden inhaltlichen Passungen gekommen ist, namentlich im Fach NMG. Wieder wurden Lernenden Fragen zu Themen gestellt, denen sie zum Zeitpunkt der Durchführung des P5 im Unterricht noch nicht begegnet waren.

  • Im Sinne der Fairness und der Validität möchte der LVB wissen, wie das IBE das Problem der mangelnden inhaltlichen Passungen zu beheben gedenkt.

Lehrmittelspezifische Terminologie

Die Morphologie ist ein Teilbereich der Linguistik, der normalerweise in einem Sprachstudium behandelt wird. In den gängigen Wörterbüchern und Fremdsprachengrammatiken wurden und werden die gut verständlichen Begriffe Vorsilbe, Wortstamm und Endung (oder, in Analogie zu den Fremdsprachen, die Termini Präfix und Suffix) verwendet. Mit der Einführung der Checks wurde die Kenntnis des Begriffs Morphem auf einmal vorausgesetzt. Für den LVB ist nicht nachvollziehbar, warum Lernende der Volksschule mit Termini aus der Linguistik der Tertiärstufe bedacht werden.

  • Der LVB ist interessiert zu erfahren, warum Checks und Mindsteps dieser Herangehensweise an die Wortbildung so viel Gewicht beimessen und warum die ausschliesslich im Lehrmittel «Die Sprachstarken» gebräuchliche Terminologie so prominent und ausgiebig eingeübt wird.

Bewertungskriterien im Bereich Schreiben in den Fächern Deutsch, Englisch und Französisch

Das IBE nimmt für sich in Anspruch, die Daten nach streng wissenschaftlichen Kriterien zu erheben. Aufgrund der folgenden Beobachtungen hat der LVB erhebliche Zweifel an der Genauigkeit der Datenerhebung einerseits und der Aussagekraft der Testresultate andererseits.

Nur ein Korrektor resp. eine Korrektorin pro Text

Die Beurteilungsbögen im Bereich Deutsch Schreiben zeigen, dass die Schülertexte jeweils einer ganzen Klasse von lediglich einem Korrektor resp. einer Korrektorin beurteilt werden. Zum Vergleich: Bei den früheren basellandschaftlichen Orientierungsarbeiten wurde jeder Text von drei Lehrpersonen individuell bewertet.

Laut IBE komme es punkto Bewertungsstrenge zu Unterschieden. Der unzureichenden Ausnivellierung begegne das IBE mit einem Bonussystem. Von strengen Korrektoren/-innen beurteilte Texte erhielten Bonuspunkte, die im Messmodell berücksichtigt würden.

Auf Nachfrage erklärte das IBE, dass zwecks Abgleich zwar sporadisch Texte von mehreren Korrektoren/-innen beurteilt würden. Dies geschehe aber lediglich einmal wöchentlich. Trotz Absolvieren eines Trainings zwecks Aneignung des Bewertungsmassstabes komme es punkto Bewertungsstrenge zu Unterschieden. Der unzureichenden Ausnivellierung begegne das IBE mit einem speziellen Bonussystem. Von strengen Korrektoren/-innen beurteilte Texte erhielten Bonuspunkte, die im Messmodell nachträglich berücksichtigt würden.

  • Im Sinne der Fairness, Transparenz und der versprochenen Wissenschaftlichkeit bittet der LVB das IBE um eine Stellungnahme.

Keine Praxiserfahrung der Korrektoren/-innen

Auf Nachfrage erklärte das IBE, dass es sich bei den Korrektoren/-innen um Personen in fortgeschrittenem resp. mit abgeschlossenen Germanistikstudium handle; Personen also, die sich jahrelang intensiv mit literarischen Texten auf höchstem Niveau auseinandergesetzt haben, jedoch über keinerlei Praxiserfahrung im Umgang mit von Kindern und Jugendlichen verfassten Texten verfügen.

Der LVB möchte wissen, …

  • warum bei der Beurteilung der Texte von Schülern/-innen keine Praxislehrkräfte eingesetzt werden;
  • wie viele Texte ein(e) Korrektor/ -in pro Check beurteilt;
  • wie viel Zeit pro Text dem Korrektor/der Korrektorin zur Verfügung steht
  • und zu welchem Stundenansatz Korrektoren/-innen entschädigt werden.

Das IBE nimmt für sich Anspruch, dass mit den gewonnenen Daten Lernverläufe anstelle einmaliger Erhebungen dargestellt werden könnten.

Lernverläufe versus Momentaufnahmen

Das IBE nimmt für sich Anspruch, dass mit den gewonnenen Daten Lernverläufe anstelle einmaliger Erhebungen dargestellt werden könnten. Primar- und Sekundarlehrpersonen beurteilen über mehrere Jahre ungleich mehr Texte derselben Schülerinnen und Schüler als die Korrektoren/-innen des IBE. Aus Sicht des LVB verhält es sich deshalb gerade umgekehrt: Es sind die Primar- und Sekundarlehrpersonen, welche die Lernverläufe ihrer Schülerschaft überblicken. Das IBE hingegen ist lediglich in der Lage, Momentaufnahmen zu beurteilen. Dass sich ein Text eines jugendlichen Sekundarschülers von demjenigen einer kindlichen Primarschülerin hinsichtlich Wortschatz, Stilistik und Inhalt unterscheidet, ist in den meisten Fällen eine Selbstverständlichkeit. Die Aussage, das IBE könne Lernverläufe beurteilen, greift auch vor diesem Hintergrund nicht.

  • Der LVB bittet das IBE um eine Stellungnahme.

Das IBE nimmt für sich in Anspruch, Texte von Schülern/-innen aufgrund wissenschaftlicher Kriterien zu beurteilen. Nach Einschätzung des IBE würden sich Lehrpersonen beim Beurteilen von Schülertexten vorwiegend auf das Zählen von Fehlern konzentrieren.

Fragwürdige Aussagekraft der Bewertung der Schreibkompetenzen

Das IBE nimmt für sich in Anspruch, Texte von Schülern/-innen aufgrund wissenschaftlicher Kriterien zu beurteilen. Nach Einschätzung des IBE würden sich Lehrpersonen beim Beurteilen von Schülertexten vorwiegend auf das Zählen von Fehlern konzentrieren.

Mangelnde Differenzierung

Der LVB machte die Probe aufs Exempel und beurteilte 12 Schülertexte aus dem Check S2 Deutsch Schreiben. Danach verglich er die eigenen Einschätzungen mit den von IBE-Korrektoren/innen ausgefüllten Kriterienraster zur Beurteilung der Schreibkompetenzen. Es zeigte sich, dass das 15 starke Kriterienraster des IBE nicht dazu in der Lage ist, zwischen überaus gelungenen und geradewegs missratenen Texten zu differenzieren. Der Unterschied manifestiert sich lediglich bei ganz wenigen unterschiedlich gesetzten Kreuzchen.

  • Der LVB bittet das IBE um eine Stellungnahme.

Der LVB möchte vom IBE wissen, inwiefern das höchst subjektive Kriterium «inhaltliches Wagnis» mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren ist.

Fragwürdige Kriterien

Ein Kriterium, mit dem das IBE die Schreibkompetenz wissenschaftlich erhebt, lautet «Inhaltliches Wagnis». Der Korrektor/Die Korrektorin muss also beurteilen, ob der Schüler/die Schülerin «wenig», «etwas», «viel» resp. «sehr viel» wagt. Was ist konkret damit gemeint? Eine waghalsige Argumentation? Eine gelungene Schilderung? Eine Passage, die an der eigentlichen inhaltlichen Zielvorgabe vorbeischrammt?

  • Der LVB möchte vom IBE wissen, inwiefern das höchst subjektive Kriterium «inhaltliches Wagnis» mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren ist.

Von Korrektoren/-innen zu verlangen, drei unterschiedliche Kriterien als Ganzes zu beurteilen, ist aus Sicht des LVB ein unmögliches Unterfangen. Die Punktevergabe wird mit solch schwammigen Vermischungen willkürlich.

Vermischung unterschiedlicher Subkriterien

Ein weiteres Kriterium lautet «Sprachliches Wagnis – Kreativität und Ästhetik». Nun stehen diese drei Punkte für gänzlich unterschiedliche Phänomene. Eine sprachlich gewagte Formulierung ist keineswegs per se kreativ oder ästhetisch. Eine kreative Formulierung kann sprachlich gänzlich unspektakulär sein. Dass Kreativität und Ästhetik keine Synonyme sind, weiss jede(r) Kunstmuseumbesucher/-in. Von Korrektoren/-innen zu verlangen, drei unterschiedliche Kriterien als Ganzes zu beurteilen, ist aus Sicht des LVB ein unmögliches Unterfangen. Die Punktevergabe wird mit solch schwammigen Vermischungen willkürlich.

  • Der LVB möchte vom IBE wissen, inwiefern die Vermengung höchst unterschiedlicher Subkriterien zu einem einzigen Beurteilungskriterium mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren ist.

Unklare Gewichtung

Die Beurteilungskriterien bestehen aus den folgenden vier Teilbereichen:

  1. Inhalt: Auftragserfüllung und Aussagekraft
  2. Textaufbau und Textzusammenhang
  3. Sprachrichtigkeit
  4. Sprachangemessenheit, Schreibstil und Ästhetik

Aus dem Beurteilungsraster geht nicht hervor, wie die einzelnen Kriterien gewichtet werden. Es ist auch nicht ersichtlich, in welchem Masse die Textmenge ihren Niederschlag in der Beurteilung findet. Texte, die sich über drei Seiten ausdehnen, werden gleichermassen «durchgekreuzelt» wie Texte, die knapp eine Seite füllen.

  • Der LVB bittet das IBE um eine Stellungnahme.

Fehlerbehaftete Profilabgleiche

Laut IBE beruht das dem Profilabgleich zugrunde liegende Konzept auf anerkannten psychologischen Theorien, welche die Passung zwischen Fähigkeiten und Anforderungen als Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Entwicklung ansehen. Der Abgleich zwischen den Check-Ergebnissen und den Anforderungsprofilen sei in den letzten vier Jahren systematisch analysiert und angepasst worden.

Laut Rückmeldungen von Vertretungen aus der Wirtschaft stimmen diverse Profilabgleiche 2021 jedoch immer noch nicht. Gemäss Check müssten etwa angehende Medizinische Praxis- assistenten/-innen über sehr viel mehr Mathematikkenntnisse verfügen, als in der Realität tatsächlich erforderlich seien. Wirtschaftsvertreter/-innen zeigen sich über die falschen Profilabgleiche verärgert. Das von dem IBE gewählte Verfahren sei unglaubwürdig. Zudem seien die Checkresultate für die KMUs nach wie vor schwer lesbar. Die auf der sogenannten Item-response-theory basierenden Resultate seien für die KMUs auch 2021 kaum zu interpretieren.

  • Der LVB möchte vom IBE wissen, warum manche Profilabgleiche auch nach 5 Jahren Erfahrung mit den Checks von den realen Anforderungen stark abweichen. Ferner möchte der LVB wissen, wie das IBE die Lesbarkeit der Checkresultate für Lehrpersonen, Lernende und KMUs verbessern will.

 

[1] «Checks im Kreuzfeuer der Kritik. Urs Moser stellt sich den Fragen des LVB», lvb.inform 2016/17-04

https://www.lvb.ch/docs/magazin/2020-2021/04_Juni-2021/18_Checks-im-Realitatscheck_lvb-inform_20-21-04.pdf

 

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German is too big to fail https://condorcet.ch/2020/12/german-is-too-big-to-fail/ https://condorcet.ch/2020/12/german-is-too-big-to-fail/#respond Sat, 12 Dec 2020 17:03:24 +0000 https://condorcet.ch/?p=7179

Philipp Loretz, Condorcet-Autor und Mitglied des Bildungsrates des Kantons Baselland, erinnert an die schlechten Deutschresultate der Schulabgänger und betreibt Ursachenforschung.

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Philipp Loretz, Lehrer Sekundarstufe 1, Vorstandsmitglied des lvb, Mitglied des Bildungsrats und der Condorcet- Redaktion

Unersetzliche Grundlagen
Über welche entscheidenden Fähigkeiten angehende Studentinnen und Studenten für eine erfolgreiche Universitätskarriere verfügen müssten, wurde ein Universitätsrektor in einem Radiointerview gefragt. Antwort: solide Deutsch- und Mathematikkenntnisse. Es sei ihm gar nicht mal so wichtig, welche Themen in anderen Fächern erarbeitet würden. Ohne fundiertes mathematisches Denkvermögen aber sei ein naturwissenschaftliches Studium aussichtslos. Und ohne sicheres Beherrschen der deutschen Sprache in Wort und Schrift liessen sich keine den universitären Qualitätsanforderungen entsprechenden Arbeiten verfassen.

Auch an den Pädagogischen Hochschulen geniessen Mathematik und Deutsch einen hohen Stellenwert. Wenn angehende Lehrpersonen scheitern, sei dies nicht primär mangelhaften pädagogischen Fähigkeiten geschuldet, sondern ungenügenden Deutsch- und Mathematikkenntnissen, so die Feststellung. Diese Tatsache ist mitunter ein Grund dafür, warum auch die Verantwortlichen der basellandschaftlichen Fachmittelschulen auf ebendiese Grundlagenfächer fokussieren und in Mathematik und Deutsch keine Abstriche akzeptieren.

Man ist sich folglich auf breiter Front einig: Gute Deutschkenntnisse sind matchentscheidend.

Im Gesprächen mit Wirtschaftsvertretern wird mir regelmässig beschieden, wie zentral gute Deutsch- und Mathematikkenntnisse auch in der Berufsbildung seien. Bei der Rekrutierung von Lernenden im kaufmännischen Bereich beispielsweise richte man ein besonderes Augenmerk auf die Basics hinsichtlich Grammatik und Stilistik.

Der beunruhigende Befund schliesslich, dass vermehrt nur noch Abgängerinnen und Abgänger der Sek P die Voraussetzungen für das erfolgreiche Absolvieren einer Lehre im kaufmännischen Bereich mitbrächten, verdeutlicht, dass Wunsch und Wirklichkeit immer weiter auseinanderdriften.

Man ist sich folglich auf breiter Front einig: Gute Deutschkenntnisse sind matchentscheidend. Gleichzeitig wird eingeräumt, dass Fachmittelschulen viel Zeit in die Vermittlung basaler Grundkompetenzen investieren müssten (faktisch ein Nachholen verpasster Lernfortschritte während der obligatorischen Schulzeit), die sprachlichen Anforderungen für einen Teil der PH-Studierenden eine zu hohe Hürde darstellten und es auch um die von universitären Hochschulen vorausgesetzte Studierfähigkeit nicht zum Besten bestellt sei. Der beunruhigende Befund schliesslich, dass vermehrt nur noch Abgängerinnen und Abgänger der Sek P die Voraussetzungen für das erfolgreiche Absolvieren einer Lehre im kaufmännischen Bereich mitbrächten, verdeutlicht, dass Wunsch und Wirklichkeit immer weiter auseinanderdriften.

Streichkonzert

Stargeiger David Garrett: Keine zwei Wochen Ferien.

Mir scheint, dass der Faktor Zeit im Bezug auf diesen Abwärtstrend eine wesentliche Rolle spielt. Starviolinist David Garrett erklärte in einem Interview, dass er sich nur sehr selten Ferien gönne. Würde er nämlich zwei Wochen lang nicht üben, bräuchte er zwei Monate, um sich zurück auf denselben Stand wie vor Urlaubsbeginn zu fiedeln.

Bekanntlich ist Garrett bereits ein Meister seines Fachs, was man von Sekundarschülerinnen und -schülern hinsichtlich ihrer Deutschfertigkeiten kaum behaupten kann. Trotzdem hat es die Politik im Zuge von HarmoS, Lehrplan 21 und Stundentafel-Revision geschafft, an den Sekundarschulen, um im musikalischen Jargon zu bleiben, ein veritables Streichkonzert zu veranstalten, was dazu beiträgt, dass immer mehr Lernende im sprachlichen (Orchester-)Graben landen.

Mit einem Schlag 5 Jahresektionen weniger

Ein Drittel weniger

Durch keine noch so gute Binnendifferenzierung wettzumachen.

Mit der Umstellung auf 6/3 brachen dem niveaudifferenzierten Deutschunterricht auf der Sekundarstufe I mit einem Schlag fünf Jahreslektionen weg, was rund 180 Lektionen entspricht. Man kann nun einwenden, dass es sich bei dieser Kürzung lediglich um eine Verschiebung von einer Schulstufe auf die andere gehandelt habe. Rein rechnerisch mag das stimmen. Aber auf den zweiten Blick wird klar, dass auch die beste Binnendifferenzierung in den hochgradig heterogenen Primarschulklassen keinen niveauspezifischen Fachunterricht zu ersetzen vermag.

Mit der Einführung der Projektarbeit im letzten Sekundarschuljahr wurde dem Deutschunterricht eine weitere Jahreslektion im Umfang von noch einmal 37 Lektionen entzogen. Abhängig von der teilautonomen und deshalb variablen Umsetzung der Projektarbeit sind es an manchen Standorten sogar noch deutlich mehr. Der Einwand, die Lernenden würden beim Verfassen einer Projektarbeit ja gerade ihr sprachliches Vermögen anwenden und trainieren, hat sich nachträglich als falsch erwiesen: Rein schriftliche Arbeiten stellen nämlich Ausnahmen dar. Auch Schülerinnen und Schüler im Niveau P entscheiden sich oft für praktische Themen. Das Führen eines simplen Arbeitsprotokolls aber vermag in Sachen Lerneffekt dem Erschaffen verschiedener anspruchsvoller Texte zu vielfältigen Themen – im früheren System mit weit mehr Deutschunterricht im 9. Schuljahr noch möglich – ganz sicher nicht das Wasser zu reichen.

Mit dem Einzug der Anwendungen in Medien und Informatik wurden durch den kantonalen Sparmodus mindestens 20 weitere Deutschlektionen nonchalant zweckentfremdet.

Etikettenschwindel

Mit dem Einzug der Anwendungen in Medien und Informatik wurden durch den kantonalen Sparmodus mindestens 20 weitere Deutschlektionen nonchalant zweckentfremdet. Selbst den Pilotklassen, die am Projekt «Digitale Lernbegleiter» teilnahmen, gestand man nicht einmal die wenigen ICT-Lektionen zu. So wurden im Baselbiet ICT-Basics – vom Zehnfingersystem über Betriebssystemkenntnisse und Dateistrukturen bis hin zum Setzen von Lesezeichen – im Umfang von rund 40 Lektionen plötzlich unter dem Label «Deutschunterricht» verkauft. Ein Etikettenschwindel par excellence.

Im System 5/4 (5 Jahre Primar- und 4 Jahre Sekundarschule) hatten an den Sekundarschulen 740 Lektionen für Deutschunterricht zur Verfügung gestanden. Übrig geblieben sind heute noch knapp 500 Lektionen – eine Reduktion um ein Drittel also!

Pilotenausbildung: Plötzlich ein Drittel weniger?

Anderswo undenkbar

Urs Lehmann, Präsident von Swiss-Ski, würde geteert und gefedert, sollte er das Trainingsvolumen von Wendy Holdener, Beat Feuz & Co. auf Schnee massiv verringern und stattdessen Einheiten in Minigolf und Bogenschiessen als «Skiweltcup-relevant» deklarieren.

Das Bundesamt für Zivilluftfahrt würde sofort intervenieren, falls die «Swiss» die Flugstunden angehender Piloten auf zwei Drittel zusammenstreichen würde.

Das Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchester müsste sein Repertoire von anspruchsvollen Werken aus allen Epochen der klassischen Musik auf Adaptionen simpler Schlager umstellen, falls ein beträchtlicher Teil der Proben und Konzertauftritte dauerhaft wegbrechen würde.

Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren.

Und das Beherrschen der deutschen Sprache? Wie wichtig diese Kompetenz aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus weiterhin ist, unterstrich Peer Teuwsens kürzlich publizierter Appell: «Wir riskieren viel, wenn wir die Sprache, die wir als Kommunikationsmittel unter uns deutschsprachigen Menschen verwenden, nicht gründlich erwerben. […] Nur wer die deutsche Sprache beherrscht, kann aktiv an unserer Gesellschaft teilhaben, an ihrer Geschichte, ihrer Gegenwart, ihrer Zukunft. Die deutsche Sprache ist der Schlüssel zu fast allem. […] Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren: die Ausdrucksfähigkeit. […] Wer sich damit bescheidet, seine Sprachkenntnisse auf eine Bierbestellung zu reduzieren, hat sich von einem Miteinander verabschiedet.»[1]

Anlass zur Hoffnung
Die schlechten Resultate der Baselbieter Schülerinnen und Schüler im Kontext der ersten Überprüfung schulischer Grundkompetenzen (ÜGK) haben Bewegung in die Sache gebracht. Eine Rückkehr zur Stärkung des Deutschunterrichts fand Eingang in die politische Diskussion. Auch der LVB war eingeladen, sich im Gremium «Plattform Bildung plus» unter Vorsitz von Bildungsdirektorin Monica Gschwind einzubringen. Bei Redaktionsschluss des vorliegenden Hefts war die Kommunikation von Beschlüssen des Regierungsrats zur Zukunft der Volksschule für Anfang Dezember anberaumt.

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Dezember-Ausgabe 2020)

Peer Teuwsen: Lernt endlich Deutsch!, NZZ am Sonntag, 31. Oktober 2020

 

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Fernunterricht in Zeiten von Corona – Ein Erfahrungsbericht mit einer Sekundarklasse https://condorcet.ch/2020/06/fernunterricht-in-zeiten-von-corona-ein-erfahrungsbericht-mit-einer-sekundarklasse/ https://condorcet.ch/2020/06/fernunterricht-in-zeiten-von-corona-ein-erfahrungsbericht-mit-einer-sekundarklasse/#respond Thu, 18 Jun 2020 13:57:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=5445

Und auf einmal war er da: der hochgradig digitalisierte Unterricht; bedingt durch die Corona-Krise. Im Nachgang zu den zwei Monaten Fernunterricht lassen sich zwei sich gegenüberstehende Kernaussagen herausschälen: Die eine Seite sieht sich darin bestätigt, dass das digitale Lernen die alternativlose Zukunft darstelle. Die Skeptiker auf der anderen Seite meinen zu erkennen, dass nach den Erfahrungen mit dem Distance Learning umso klarer sei, dass echtes Lernen ausschliesslich auf der Beziehungsebene stattfinde.

Doch wie zumeist im Leben gibt es nicht nur Schwarz und Weiss, sondern ein Fülle an bunten Zwischentönen. Im vorliegenden Artikel reflektiere ich meine eigenen Erfahrungen während des Fernunterrichts mit einer 9. Klasse. Die Ausführungen basieren unter anderem auf einer klasseninternen Umfrage, aber auch Rückmeldungen von Eltern. Dabei wurde mitunter Erstaunliches zu Tage gefördert.

Hinweis: Diese Artikel ist in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2020).

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#1 Der Corona-bedingte Fernunterricht hat gezeigt, wohin die Reise geht. Die Zukunft gehört den digitalen Lehrmitteln.

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer, Vorstandsmitglied lvb, Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland
Bild: fabü

Stimmt

Die einschlägigen Verlage produzieren mittlerweile attraktive digitale Lehrmittel, die mit Lernaktivitäten aufwarten, welche in Printform nicht zu schaffen sind. Die im Zuge der geleiteten Lehrmittelfreiheit vom Bildungsrat bewilligten Englisch- und Französischlehrmittel der international renommierten Verlage bieten den Lernenden und der Lehrerschaft zahlreiche attraktive Features. Dank des aufsteigend flächendeckenden Einsatzes von Tablets werden die Sekundarschülerinnen und -schüler ab August 2020 von diesen neuen Möglichkeiten profitieren, beispielsweise auch vom umfangreichen Lesesortiment eines bekannten Verlages, der hunderte von interaktiven Graded Readers für jedes Alter und Sprachniveau führt.

Stimmt nicht

Die wöchentliche Arbeitszeit am Bildschirm während der Fernunterrichtsphase bewegte sich für 60% meiner Schülerinnen und Schüler «am oberen Limit». Nur ein Drittel wählte die Option «gerade recht». Dieses Resultat erstaunt, zumal unser Klassenteam bewusst auf einen ausgewogenen Mix aus digital und analog lösbaren Aufgabenstellungen achtete. Die Tatsache aber, dass 90% (!) der Klasse angaben, dass sie die schriftlichen Aufträge «häufig» respektive «meistens» ausdrucken und ganz ohne PC lösen würden, zeigt eindrücklich, dass Papier auch in Zukunft nicht ausgedient haben dürfte (s. Umfrage ganz am Ende des Artikels).

Die Tatsache, dass 90% (!) der Klasse angaben, dass sie die schriftlichen Aufträge «häufig» respektive «meistens» ausdrucken und ganz ohne PC lösen würden, zeigt eindrücklich, dass Papier auch in Zukunft nicht ausgedient haben dürfte.

Übrigens: Wegen der stark erhöhten Bildschirmzeit fanden externe Bildschirme überall reissenden Absatz. Aus gutem Grund: Für ergonomisches Arbeiten am PC über längere Zeit ist ein grosser, hochauflösender Bildschirm unabdingbar.

 

#2 Beim digitalen Fernunterricht bleibt die Intensität auf der Strecke.

Stimmt

Im ferngesteuerten Setting ist die Kontrolle über den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler nur beschränkt möglich. Das Ablenkungspotenzial dürfte von zahlreichen Faktoren abhängig sein, insbesondere von der Ausstattung des heimischen Arbeitsplatzes, der vom eigens eingerichteten «Corona-Büro» bis hin zum (geordneten) Chaos reicht. Selbst beim Live-Unterricht sind die Kameras und Mikrofone wegen mangelnder Bandbreite respektive Unterdrückung von Rückkopplungen meistens ausgeschaltet. Dieser Umstand dürfte dem kreativen Multitasking mancher Jugendlichen völlig neue Horizonte eröffnet haben. Das Biologieexperiment im Live-Unterricht auf dem Laptop, die angesagte Netflix-Serie «ELITE» auf dem externen Corona-Bildschirm.

Stimmt nicht

Wenn das Visuelle, die Mimik und die Gestik wegfallen, fokussiert der Mensch automatisch auf seinen am zweitbesten ausgeprägten Sinn. Er hört dann nicht nur aufmerksam zu, er beginnt regelrecht zu horchen. Eine Audiokonferenz, in der die Schülerinnen und Schüler Transferaufgaben zu einer Klassenlektüre präsentierten, wurde für mich zu einer veritablen Sternstunde. Die ausgezeichneten Ausführungen, gepaart mit den per Bildschirmfreigabe geteilten anschaulichen Illustrationen und die substantiellen Feedbacks der Klassenkameradinnen zeugten von einer intensiven Vorbereitung und vor allem von interessierten Ohren. Manche Votanten bezogen sich mit ihren Einschätzungen auf Äusserungen, die sage und schreibe eine halbe Stunde alt waren.

Nach 60 (!) Minuten schliesslich musste ich die Audiokonferenz aus Zeitgründen leider beenden. Im Chat schrieb ich: «Das war schlicht super! Herzlichen Dank für eure Beiträge, eure «Funkdisziplin» und eure wertschätzenden Feedbacks. Chapeau!» Ob wirklich alle gleich intensiv zuhörten und mitdachten, weiss ich nicht. Aber das kann ich auch im analogen Unterricht nur bedingt beurteilen. Die Gedanken sind bekanntlich frei – in der digitalen und analogen Welt. 

Ich habe mir auf jeden Fall auf die Fahnen geschrieben, im Unterricht wieder vermehrt reine Audiobeiträge einzusetzen. Das mehrsprachige Hörspielangebot einer marktführenden Streamingfirma etwa deckt ein weites Spektrum ab. Ohrenspitzen statt Bilderflut!

 

#3 Dank dem Digitalisierungsschub gewinnt das individuelle, autonome Lernen die Oberhand.

Stimmt

Die folgenden Schülerzitate sprechen für sich: «Ich war zwar schon ziemlich selbstständig, aber dank des Fernunterrichts bin ich nochmals ein wenig selbstständiger geworden.» – «Mein neuer Tagesablauf ist sehr angenehm, weil ich ihn selber strukturieren kann und deshalb mehr Zeit für Sachen habe, denen ich mich normalerweise nur am Wochenende widmen kann, wie z.B. Kochen.» – «Ich konnte mich vermehrt mit Themen in bestimmten Fächern auseinandersetzen, die ich noch nicht gut beherrscht hatte.»

Offensichtlich ist es einigen meiner Schülerinnen gelungen, im Bereich Selbstkompetenz spürbare Fortschritte zu erzielen. Die Autodidakten unter ihnen schätzten es, sich auf ihre Weise in den neuen Stoff einzuarbeiten, erst noch schneller und damit effizienter als im Klassenunterricht. Und introvertierte Schüler genossen es, die Aufträge in ihrem Reich zu jedem Zeitpunkt in Ruhe erledigen zu können. (Vergleiche dazu «The Power of Introverts»[1].)

Stimmt nicht

Mal ganz abgesehen davon, dass das Heranführen an das selbständige Arbeiten schon immer Teil des Unterrichtens darstellte und darstellt – z.B. in Form von Wochenplan- und Postenarbeiten, individuellen Prüfungsvorbereitungen bis hin zu umfangreichen Projektarbeiten –, gehört das selbständig orientierte Lernen zur Königsdisziplin, an der sich nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene regelmässig die Zähne ausbeissen. Fehlt eine verbindliche Struktur – in Zeiten von Corona gar wochenlang – stossen auch intrinsisch motivierte Schülerinnen an ihre Grenzen. «Wenn wir am Morgen keinen Termin haben, der mich zwingt, aufzustehen, fällt es mir schwer, frühzeitig ins Bett zu gehen und regelmässig aufzustehen.» 

Wenig überraschend, dass selbst Eltern von Schülern, die bereits über einen erstaunlich hohen Grad an Selbständigkeit verfügen, wünschten, man möge das an den weiterführenden Schulen praktizierte Unterrichtskonzept auch an den Sekundarschulen anwenden. Dank Fernunterricht nach Stundenplan seien Zuständigkeiten und Erreichbarkeit klar geregelt. Ein durchstrukturierter Tagesablauf, gepaart mit Live-Unterricht, sei auch für Gymnasiasten allemal lernwirksamer als ein vom Stundenplan entkoppeltes Konzept, das den Schülerinnen an sich willkommene Freiräume biete, an denen auf Dauer aber viele letztlich scheitern würden. 

Zweifellos können pädagogisch sinnvolle digitale Lernsettings einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Schüler auf ihrem Weg in die Selbständigkeit zu unterstützen. Mit der Vorstellung hingegen, per Digitalisierung liessen sich Lernende zu autonomen Lernwesen transformieren, ignoriert so mancher Digitalisierungspromotor den Umstand, dass der Mensch primär ein soziales Wesen ist.

 

#4 Lernen auf Beziehungsebene erfordert physische Präsenz.

Stimmt

«Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals schreiben würde, dass mir die Schule, meine Klassenkameradinnen und -kameraden und ja – ich gebe es zu – auch meine Lehrerinnen und Lehrer fehlen.» Nach sieben Wochen Fernunterricht freute sich auch meine Klasse auf die «richtige» Schule mit all ihren Vorteilen: strukturierter Tagesablauf, Kombination von geführten und selbständigen Unterrichtsphasen, direkte Interaktion mit den Kolleginnen und den Lehrpersonen.

 

Lehrpersonen, die der Digitalisierung tendenziell eher skeptisch gegenüberstehen, fühlen sich ob solcher Voten natürlich bestätigt und frohlocken, dass Lernprozesse nur auf der analogen Beziehungsebene ermöglicht würden. Pädagogen, die der Philosophie einen hohen Wert beimessen, pflichten Martin Buber bei, der davon überzeugt ist, dass «der Mensch am Du zum Ich wird». (vergleiche dazu «Das Schulzimmer – Resonanzraum oder Digitalareal?» auf diesem Blog)

Stimmt nicht

Ich erlebte die digitale Fernunterrichtsphase als äusserst bereichernd, in der ich meine Klasse auch nach mehr als zweieinhalb Jahren von einer ganz andere Seite kennenlernte. Die Stimmen mancher Schülerinnen, die im analogen Unterricht eher schüchtern wirkten und sich selten freiwillig am Unterrichtsgeschehen beteiligten, waren in den Audiokonferenzen kaum wiederzuerkennen: laut, deutlich und selbstsicher. 

Wegen der Anpassung der VO Laufbahn fielen die summativen Bewertungen komplett weg. In der Folge kam die so gewonnene Zeit der formativen Beurteilung zugute. Allein aus organisatorischen Gründen liess sich der persönliche Austausch via «Teams» viel einfacher bewerkstelligen als im analogen Unterricht. Kurze schriftliche Feedbacks, spezifische Sprachnachrichten oder differenzierte Rückmeldungen mit Hilfe der «Assignments-Funktion» führten zu einer facettenreichen und vor allem individuellen Bewertung respektive Beratung, für welche sich die Schülerinnen und Schüler regelmässig bedankten. «Thank you very much for all your feedbacks. I will keep up the good work as I did until now.» 

Einer Schülerin, die mir kurz vor 23 Uhr auf «Teams» eine Arbeit einreichte, schrieb ich spontan: «Liebe …, mach mal Pause und geh schlafen.» Und fügte selbstironisch an: «Sagt derjenige, der um diese Zeit noch Deutschaufträge hochlädt ;-).» – «Ja, mache ich bald. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.» Das lachende Smiley mit Tränen in den Augen zeigte, dass Ironie – meine bevorzugte Art von Humor – auch schriftlich bestens funktionieren kann.

 

Keine Aussage, sondern eine Feststellung

Die regelmässige schriftliche Kommunikation mit ihren Lehrpersonen war nicht nur für die angehenden Berufsmaturandinnen ein ausgezeichnetes Training. Auch die künftigen Mittelschüler konnten zeigen, was sie punkto Höflichkeit, Ausdrucksfähigkeit und Umgangsformen draufhaben. Erwachsene aus meinem persönlichen Umfeld staunten Bauklötze, als ich ihnen anonymisiert aus der Korrespondenz zwischen meinen Schülerinnen und mir vorlas.

Auch die künftigen Mittelschüler konnten zeigen, was sie punkto Höflichkeit, Ausdrucksfähigkeit und Umgangsformen draufhaben.

«Falls die Konferenz heute Nachmittag länger dauern sollte, müsste ich sie vorzeitig verlassen, da ich einen wichtigen Termin habe», schrieb mir eine diplomatische Schülerin, die genau wusste, dass ich die Audiokonferenzen aufgrund der Qualität regelmässig überzog. 

Vorausschauend informierte mich eine Schülerin rechtzeitig über die besonderen Bedingungen in ihrem Haushalt: «Ich wollte Sie darüber informieren, dass wir momentan den Sanitär im Haus haben, der ziemlich viel Krach erzeugt. Es könnte deshalb sein, dass ich das Mikrofon nicht einschalten kann, wenn Sie mich aufrufen. Ich hoffe, dass ich trotzdem gut an der Konferenz teilnehmen kann.»

Statt einfach in WhatsApp-Manier zu schreiben «Die Klasse möchte wissen, ob …» leitete ein Schüler eine Anfrage mit diesen Worten ein: «Ich hoffe, Ihnen geht es trotz dieser aussergewöhnlichen Situation gut. Die Klasse hat mich beauftragt, bei Ihnen nachzufragen, ob …».

Anstatt einfach «besten Dank» zu schreiben, griff eine Schülerin folgendermassen in die Tasten: «Ich bin Ihrem Ratschlag gefolgt und habe mich mich mit einem anderen Browser eingeloggt. Glücklicherweise hat es funktioniert. Vielen Dank für Ihre Hilfe.»

Und als ich einmal vergass, den Link zur Wochenübersicht im Gruppenchat zu posten, dauerte es nicht lange, bis mir eine Schülerin am Montagmorgen um 06:44 Uhr (!) diese Nachricht schrieb: «Guten Morgen Herr Loretz, ich würde gerne starten und wollte deswegen nachfragen, ob Sie uns den Wochenplan-Link noch zukommen lassen könnten.»


Persönliche Highlights

Komplexe schriftliche Aufträge dergestalt zu formulieren, dass sie möglichst ohne Rückfragen so lösbar sind, dass ein gutes Produkt entsteht, war für mich eine Challenge der besonderen Art. Aufgrund der fehlenden Interaktion musste ich mich viel intensiver in die Adressaten hineinversetzen. Das half mir, den angestrebten Lernprozess noch genauer zu durchleuchten.

Auch beim digitalen Live-Unterricht waren neue Wege gefragt, da die unmittelbaren Reaktionen der Schüler fehlten. Welche Bilder eignen sich optimal, welche Witze funktionieren auch auf auditivem Wege? Welche zusätzlichen Zwischenschritte sind notwendig, damit der Lernzuwachs überprüft werden kann? Der damit verbundene Zeitaufwand war natürlich beträchtlich. Umso schöner, wenn die Schülerinnen den Einsatz schätzten: «Klare Vorgaben, gut verständlich, abwechslungsreich, übersichtlich dargestellt. Löse die Arbeitsaufträge gerne und interessiert.»

Auch die Neuentdeckungen im Netz möchte ich nicht mehr missen. «Tim’s Pronunciation Workshop»[2] beispielsweise ist umwerfend. Besser und humorvoller kann man die englische Aussprache nicht veranschaulichen. 

Die Neuentdeckungen im Netz möchte ich nicht mehr missen. «Tim’s Pronunciation Workshop» beispielsweise ist umwerfend. Besser und humorvoller kann man die englische Aussprache nicht veranschaulichen.

Schliesslich – ich gestehe es – hat es mir der Blick in Nachbars Garten besonders angetan. Eine geschätzter Kollege und Freund legte seine Mathematikunterlagen anfänglich in einem allgemeinen Ordner ab. Da Neugierde bekanntlich zum menschlichen Wesen gehört, stöberte ich eines Abends im Mathe-Ordner meiner Klasse herum und stiess dabei auf höchst amüsante, zu Ostern passende Videoclips zum Thema Distributivgesetz. Wenn mir in meiner Gymnasialzeit ein derart einleuchtender Mathematikunterricht geboten worden wäre, wäre aus mir möglicherweise kein Sprachlehrer, sondern doch ein Elektroingenieur geworden.

Schliessen möchte ich mit den bemerkenswerten Gedanken einen Vaters, der mir folgende Zeilen schrieb: «Persönlich bin ich überzeugt, dass eine solche Phase, wenn wir sie hoffentlich gemeinsam überstanden haben, unsere Kinder im Leben deutlich weiter bringen wird als zwei bis drei Monate Präsenzunterricht. Rücksicht zu nehmen, sich selber sinnvoll beschäftigen zu können, Lösungen zu finden, digitale Medien sinnvoll zu nutzen, ist eine Lebensschule für uns alle.» 

 

[1] TED Talk «The power of introverts» von Susan Cain
https://www.ted.com/talks/susan_cain_the_power_of_introverts

[2] BBC Learning English, Tim’s Pronunciation Workshop
https://www.bbc.co.uk/learningenglish/english/features/pronunciation/tims-pronunciation-workshop-ep-6

 

 

Nicht repräsentative, anonymisierte Umfrage
(9. Klasse, progymnasialer Zug)

Es gelingt mir, meinen Tagesablauf zu strukturieren.
trifft zu – trifft teilweise zu – trifft weniger zu – trifft nicht zu

Die wöchentliche Arbeitszeit am Bildschirm ist
gerade recht – hoch – am oberen Limit – zu hoch

Unsere technische Ausstattung ist ausreichend und funktioniert.
trifft zu – trifft weniger zu – trifft nicht zu

Ich drucke die schriftlichen Aufträge aus und löse sie offline.
meistens – häufig – selten – nie

Im Homeoffice verfüge ich über ein hilfreiches Ordnungssystem.
trifft zu – trifft teilweise zu – trifft weniger zu – trifft nicht zu

Ich habe bei Teams den Durchblick (Navigation, Audiokonferenzen, Aufgaben einreichen, Chats etc.)
trifft zu – trifft teilweise zu – trifft weniger zu – trifft nicht zu

Teams: Was bereitet dir noch Probleme? In welchen Bereichen wünschst du dir Unterstützung?
Was könnte man allenfalls verbessern?

Die Hyperlinks in der Wochenübersicht sind hilfreich:
bitte beibehalten – sind nicht mehr nötig

Die Aufträge im Fach Deutsch sind innerhalb der budgetierten Zeit lösbar.
trifft zu – trifft teilweise zu – trifft weniger zu – trifft nicht zu

Bemerkung zu den Deutschaufträgen:
Darstellung, Abwechslung, Attraktivität, Klarheit etc.

Die Aufträge kann ich ohne Unterstützung meiner Eltern lösen.
trifft zu – trifft teilweise zu – trifft weniger zu – trifft nicht zu

Was fehlt dir im Fernunterricht am meisten? Was bereitet dir Sorgen?

Was vermisst du im Fernunterricht überhaupt nicht?

Fazit: Was läuft noch nicht so gut? Was bereitet dir noch Mühe?

Fazit: Was läuft gut? Erfreuliches?

 

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Mon dieu, Conradin!!! https://condorcet.ch/2020/02/mon-dieu-conradin/ https://condorcet.ch/2020/02/mon-dieu-conradin/#respond Fri, 14 Feb 2020 08:01:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=3942

Im «TeleBasel Talk» vom 11. Februar 2020 fuhr der Basler Erziehungsdirektor Conradin Cramer denjenigen Fremdsprachenlehrpersonen, die in ihrem Unterricht international gesicherte didaktische Erkenntnisse umsetzen, mächtig an den Karren. Gleichzeitig behauptete er unbeirrt, der in den Lehrmitteln «Mille feuilles» und «Clin d’oeil» angewandte neue didaktische Ansatz sei «state of the art» (sic!) – ungeachtet der Tatsache, dass die mittlerweile vierte wissenschaftliche Untersuchung dem Passepartout-Konzept erneut ein miserables Zeugnis ausstellt. Ein Kommentar von Philipp Loretz.

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Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer, BL und Mitglied der Geschäftsleitung des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB.
Bild: fabü

«Streit um Lehrmittel»:
Vorsteher des Erziehungsdepartements Conradin Cramer versus Katja Christ GLP im «TeleBasel Talk» vom 11. Februar 2020

«State of the art», zu Deutsch: topmodern, auf dem neusten Stand, Spitzentechnologie, das Mass aller Dinge. Wirklich?

 

Versprechen der Passepartout-Projektverantwortlichen:

Sehr gutes Leseverständnis dank authentischen, nicht didaktisierten Texten schon für AnfängerInnen.

Resultat: Ende der Primarschulzeit – nach 350 Lektionen Französisch –  verfehlen 67% der SchülerInnen die von Passepartout anvisierten Lernziele.

«STATE OF THE ART»?


Versprechen der Verfechter der pseudowissenschaftlichen «Mehrsprachigkeitsdidaktik»:

Streitgespräch im «TeleBasel Talk»: Ein Regierungsrat auf dem Holzweg.

Sehr gute kommunikative Handlungsfähigkeit

Resultat: 90% der SchülerInnen scheitern an den von Passepartout angestrebten Lernzielen.

«STATE OF THE ART»?


Behauptung der Passepartout-Promotoren:

Motivierte und begeisterte Schülerinnen und Schüler

Resultat: Gemäss einer detaillierten Befragung würden zwei Drittel der Mille-feuilles-Kinder den Französischunterricht eher nicht oder nicht besuchen, wenn dieser freiwillig wäre.[1]

«STATE OF THE ART»?


Pauschales Bashing des bisherigen Fremdsprachenunterrichts:

«STATE OF THE ART»?


Flächendeckende Umerziehung sämtlicher Fremdsprachenlehrpersonen unter Androhung des Entzugs der Lehrberechtigung:

«STATE OF THE ART»?


Rigider Methodenzwang und staatlich protektionierte Lehrmittelmonopole:

«STATE OF THE ART»?


KritikerInnen den Unterrichtsbesuch verwehren:

«STATE OF THE ART»?


«Aufmüpfige» Eltern einschüchtern:

«STATE OF THE ART»?


Preisgekrönte Studien wie jene von Simone Pfenninger als qualitativ ungenügend resp. unwissenschaftlich erklären:

«STATE OF THE ART»?


Kein geführter, systematischer Aufbau der sprachlichen Grundstrukturen:

«STATE OF THE ART»?


Bewusster Verzicht auf Alltagswortschatz:

«STATE OF THE ART»?


Gewollte Missachtung des universalen Prinzips vom Einfachen zum Schwierigen:

«STATE OF THE ART»?

Herr Cramer lebt in seiner eigenen Welt.

Wie immer: Pauschale Diffamierung

Dass Tatsachen bekanntlich nicht aufhören zu existieren, nur weil sie ignoriert werden, wusste schon Aldous Huxley. Das scheint Herrn Cramer auch nach fast 9 Jahren Passepartout, für das 120’000 Schülerinnen und Schüler ungefragt als Versuchskaninchen eingesetzt wurden und werden, nicht zu kümmern. Im Gegenteil: «Ideologisch wäre es, wenn man zurückgehen würde zu der Art von Sprachvermittlung, wie sie gewesen ist in den 80-er, 90-er Jahren.» Ob sich der Erziehungsdirektor bewusst ist, dass er mit dieser Aussage den Fremdsprachenunterricht vor der Ära Passepartout pauschal schlechtredet und damit einen ganzen Berufsstand diffamiert?

Ein derartiges Führungsverständnis wäre in der Automobilbranche  – ganz im Gegensatz zum Bildungswesen – glücklicherweise undenkbar.

Elchtest hin oder her … wir produzieren weiter.

Beim Elchtest durchgefallen – egal, wir produzieren weiter.

Beim Elchtest ein zweites Mal durchgefallen – egal, wir produzieren weiter.

Beim Elchtest ein drittes Mal durchgefallen – egal, wir produzieren weiter.

Beim Elchtest ein viertes Mal durchgefallen – egal, wir produzieren weiter.

Begründung: Unser Auto ist «STATE OF THE ART».

 

Links / Quellen

 «TeleBasel Talk» vom 11.2.2020
https://telebasel.ch/2020/02/11/cramer-vs-christ-streit-um-lehrmittel/?fbclid=IwAR25rsxy6EGHNF7t1a-5Nbd6P1zMROVgZbOjWtuNJV_7hZO9kusY5-_g554

[1] Kompetenzen in Französisch als Fremdsprache in den Passepartout-Kantonen
systematische Auswertung vorliegender Studien zum schulischen Französischunterricht mit
Mille feuilles und Clin d’oeil, Institut für Mehrsprachigkeit Fribourg, 18.12.2019;
http://www.institut-mehrsprachigkeit.ch/sites/default/files/bericht_kompetenzen_in_franzoesisch_als_fremdsprache_in_den_passepartout-kantonen_18122019.pdf

 

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Fetische des modernen Schulwesens: Im Prädikatenfieber https://condorcet.ch/2019/06/fetische-des-modernen-schulwesens-im-praedikatenfieber/ https://condorcet.ch/2019/06/fetische-des-modernen-schulwesens-im-praedikatenfieber/#respond Mon, 24 Jun 2019 19:32:41 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1469

Condorcet-Autor Philipp Loretz hat wieder einmal zugeschlagen. Analytisch, humorvoll und sprachvirtuos zugleich setzt er sich mit der Beurteilungsmanie an unseren Schulen auseinander. Ein Genuss!

Hinweis: Diese Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2019).

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Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer, BL und Mitglied der Geschäftsleitung des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB
Bild: fabü

Von Schwächen und Stärken

Im sehenswerten Film «About Time» wartet Regisseur Richard Curtis mit einer bemerkenswerten Szene auf: Am Strand von Cornwall wird Mary bei ihrer allerersten Begegnung mit der Familie ihres neuen Freundes mit einer unerwarteten Frage konfrontiert:

«Was sind deine Fehler … ich meine, deine kleinen Schwächen?», möchte ihre künftige Schwiegermutter wissen.

Sichtlich verdutzt sucht Mary nach einer passenden Antwort und sagt dann verlegen: «Also … ähm … ich bin sehr unsicher.»

«Sympathisch.»

«Okay … Ich kann manchmal ziemlich schlechte Laune haben.»

«Unerlässlich! Wie bringt man die Kerle sonst dazu, folgsam zu sein?»

Mary schmunzelt, denkt kurz nach und gesteht: «Und ich hab natürlich … ich hab eine Schwäche für Ihren Sohn.»

«Die hab ich auch.»[1]

Schwäche als Türöffner, Schwäche als Vertrauensbeweis, Schwäche als Stärke. Berührend ehrlich.

Hätte die künftige Schwiegermutter – ihres Zeichens wissenschaftliche Mitarbeiterin im Departement of Education, spezialisiert auf die statistische Verwertbarkeit von Persönlichkeitsprofilen – Marys personale und soziale Kompetenzen mit Hilfe eines standardisierten Prädikatenrasters zu be-urteil-en versucht, wäre der erste Gedankenaustausch zwischen den beiden Frauen wohl in diesem oder ähnlichem Fachjargon geführt worden:

Bild: api

«Was sind deine Stärken?

(Oha, jetzt muss ich zeigen, was ich kann.)
«Ich traue mir viel zu, bin zuversichtlich und mutig.»

«Kannst du dich spontan und offen äussern?»

(Wer A sagt, muss auch B sagen.)
«Selbstverständlich. Meine Auftrittskompetenz perfektioniere ich stetig. Mein Motto: attraktiv, wortgewandt, schlagfertig.»

«Kannst du deine Gefühle kontrollieren, auch wenn du betroffen bist? Direkt gefragt: Verfügst du über eine altergesmässe Frustrationstoleranz?»

(Upps, jetzt geht es ans Eingemachte. Da rühre ich besser mit der grossen Kelle an.)
«Unbeherrschtheit, Wut und Ärger liegen mir fern. Schwierigen Situationen pflege ich stets konstruktiv zu begegnen. In Konfliktsituationen achte ich konsequent darauf, faire Mittel einzusetzen.»

«Kannst du dich an Regeln und Abmachungen halten und so zu einem angenehmen Klima in der Beziehung beitragen?»

(Das hab ich nun davon … Doch es führt kein Weg mehr zurück: Ich setze noch einen obendrauf.)
«Geordnete Bahnen sind der Garant für eine erfolgreiche Partnerschaft.»

«Welche weiteren Talente zeichnen dich aus?»

(Höchste Zeit, dem neurotischen Verhör ein Ende zu bereiten.)
«Ich bin pünktlich, ehrgeizig, pflichtbewusst und zuverlässig. Ich kann gut planen und verfüge über einen ausgeprägten Ordnungssinn. Meine ausgeklügelten Strategien stellen sicher, dass ich das Leben im Griff habe und nicht umgekehrt. Und: Ich lasse meine Neugierde erkennen, indem ich Ihnen nun meinerseits zwei Fragen stelle. Erstens: Aufgrund welcher Prädikate haben Sie Ihren Ehemann ausgesucht? Und zweitens: Mit welchem Recht stellen Sie mir derart übergriffige Fragen?»

Stärke als Angeberei, Stärke als Phrasendreschflegel, Stärke als Schwäche. Abstossend künstlich.

Im Privatleben tabu – an der Volksschule die zielorientierte Norm

Zugegeben: Im Privatleben dürfte es wohl niemandem in den Sinn kommen, auf diese groteske Art und Weise die Zuneigung, geschweige denn das Vertrauen eines potenziellen Freundes, einer potenziellen Schwiegertochter (oder ganz generell seiner Mitmenschen) gewinnen zu wollen. Umgekehrt liesse sich hoffentlich auch kaum jemand derart penetrant über seine Charaktereigenschaften und Haltungen aushorchen, ohne Widerstand zu leisten.

Im Zeitalter von Kompetenzorientierung und Vermessungsindustrie jedoch findet sich die gesamte Schülerschaft mindestens einmal pro Jahr auf einem durchaus vergleichbaren Prüfstand wieder. An den flächendeckend verordneten Elterngesprächen, auf der Höhe der Zeit, neu «Standortbestimmungsgespräche» genannt, sind die Lehrpersonen dazu aufgerufen, die sozialen und personalen Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zu be-urteil-en und zu be-wert-en – und zwar ausgiebig. Mit Hilfe ausladender Kriterienlisten soll nicht nur das Lern- und Arbeitverhalten, sondern auch das Sozialverhalten in Sherlock-Holmes-Manier akribisch unter die Lupe genommen werden.

So erfahren Eltern etwa, ob ihr fünfjähriges Kind im Kindergarten zielorientiert spielen, seine Zeit einteilen und die Welt differenziert wahrnehmen kann. Damit nicht genug: Dem standardisierten Beurteilungsbogen können sie gar entnehmen, ob ihr Kind fähig ist, seine Stärken und Schwächen richtig (sic!) einzuschätzen, es also über eine Kompetenz verfügt, die der angeblichen Unfehlbarkeit des Papstes in nichts nachsteht.

Das ideale Lernwesen erscheint rechtzeitig in einer unterrichtstauglichen körperlichen Verfassung, arbeitet sorgfältig, zuverlässig, diszipliniert, konzentriert, eigenverantwortlich und zielorientiert.

Ein Blick in die verschiedenen Kriterienkataloge der Deutschschweizer Erziehungsdepartemente der letzten Jahre zeigt, wie sich das ideale Lernwesen, nennen wir es scholasticum idealis, nach dem Willen und der Vorstellung der pädagogischen Schreibtischelite zu verhalten und zu präsentieren habe. Die schiere Menge an bis ins Detail definierten Prädikaten, mit denen die Verhaltensmerkmale des schoalisticum idealis auf seitenlangen Kompetenzrastern bewertet wird, verschlägt einem Atem und Sprache gleichermassen:

Das ideale Lernwesen erscheint rechtzeitig in einer unterrichtstauglichen körperlichen Verfassung, arbeitet sorgfältig, zuverlässig, diszipliniert, konzentriert, eigenverantwortlich und zielorientiert.

Es beteiligt sich aktiv am Unterrichtsgeschehen, stellt themenorientierte Fragen, schaut kritisch auf seine Lernwege zurück, setzt die daraus gewonnenen Schlüsse mit Hilfe von fachspezifischen Lernstrategien um und plant die weiteren Arbeitsschritte zielorientiert.

Es beteiligt sich konstruktiv am Dialog, bringt seinem Gegenüber Achtung, Wärme und Toleranz entgegen, vertritt seine Standpunkte verständlich und glaubwürdig, kommuniziert sachlich und zielorientiert.

Des Weiteren lässt es sich nicht unter Druck setzen, kann Verfahren konstruktiver Konfliktbewältigung anwenden, den Konsens suchen und anerkennen, nutzt dazu die von der Schule bereitgestellten Instrumente zur gewaltfreien Konfliktlösung, und dies – Sie ahnen es – zielorientiert.

Dabei reflektiert es die Wirkung der Sprache, nimmt herabwürdigende verbale Ausdrucksformen nicht passiv hin und achtet seinerseits auf einen respektvollen, wertschätzenden Sprachgebrauch. Es verfügt über eine hohe Empathiefähigkeit, nimmt Rücksicht auf seine Kameradinnen und Kameraden mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, bietet von sich aus Hilfe an und zeigt sich kooperativ.

Schliesslich verfügt das scholasticum idealis über eine situationsadäquate und altersgerechte Frustrationstoleranz, kann sowohl gerechtfertigte als auch ungerechtfertigte Kritik annehmen und die eigene Position hinterfragen.

Quelle: lvb.inform 2018/19-04

Eine Chimäre als Richtschnur?

Angesichts dieser Auflistungen komme ich nicht umhin, den hartnäckig kolportierten Glauben an den Nutzen der omnipräsenten psychometrischen Vermessung unserer Kinder und Jugendlichen in Abrede zu stellen. Hand aufs Herz: Kennen Sie ein Kind, einen Jugendlichen, ja überhaupt irgendeinen Menschen, bei dem all die zuvor genannten sozialen und personalen Kompetenzen – es handelt sich dabei lediglich um einen Bruchteil real existierender Prädikate! – «gut erkennbar» sind beziehungsweise «sehr gut erfüllt» werden?

Könnten Sie sich ein Leben mit einer Partnerin oder einem Partner vorstellen, deren respektive dessen Verhalten auf dem solothurnischen Verhaltensmerkmalformular nicht nur der Norm, sondern sogar der «Grundnorm»[1] entsprechen würde?

Wie würden Sie reagieren, wenn Sie nach einem stressbedingten Arztbesuch gefragt würden, ob Sie ein zielorientiertes Leben führen: sozial kompetent oder asozial gesund?

Faire und objektive Bewertung von Soft Skills?

Soft Skills sind unheimlich schwierig zu bewerten: Sie hängen unter anderem ab vom Alter, der Situation, der Klasse, dem Unterrichtsfach und der Lehrperson. Trotzdem werden an vielen Schulen die Lehrpersonen dazu angehalten, alljährlich unzählige Kreuzchen zu setzen, sogar fachspezifisch. Bei einem Vollpensum auf der Sekundarstufe (9 Kurse, 4 Klassen, vergleichsweise wenige 10 Kriterien, Bewertung in jedem Fach) ergibt das mehr als 8100 Entscheidungen! Wenn jeder Schüler nur «einfach» beurteilt wird (also fachunabhängig), verbleiben noch immer mehr als 900 Entscheidungen.

Nur schon aufgrund der fehlenden Zeit für spezifische Beobachtungen ist es schlicht unmöglich, die personalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler halbwegs «korrekt» (beziehungsweise überhaupt) einzuschätzen.

Nur schon aufgrund der fehlenden Zeit für spezifische Beobachtungen ist es schlicht unmöglich, die personalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler halbwegs «korrekt» (beziehungsweise überhaupt) einzuschätzen. Trotzdem feiern die Kompetenzraster landauf, landab Hochkonjunktur. Entweder weil Schulleitungen diese fragwürdige Art der Beurteilung verordnen oder weil die «Raster-Raserei» halt gerade en vogue ist und man nicht rückwärtsgewandt erscheinen möchte. So oder so: Wir machen uns bei dieser Form der Beurteilung etwas vor und produzieren (un)gewollt zig Fehlurteile, was sich anhand der folgenden Beispiele leicht veranschaulichen lässt:

Aufmerksam zuhören? Wer weiss!

Es gibt Schülerinnen und Schüler, denen innere Aha-Erlebnisse im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbar ins Gesicht geschrieben stehen. Andere hingegen wirken von aussen betrachtet unkonzentriert, ja geradezu abwesend, obwohl sie intensiv mitdenken und das Geschehen genau verfolgen.

Ich kann mich noch lebhaft an meinen Deutschlehrer an der Kanti Solothurn erinnern, der sich, als er mich noch nicht gut kannte, regelmässig darüber wunderte, dass ich seine Fragen im Klassengespräch durchaus «themenspezifisch» beantworten konnte, obwohl er meiner Mimik zu entnehmen geglaubt hatte, ich würde teilnahmslos im Klassenzimmer sitzen.

Als Lehrer erlebe ich selber immer wieder Schülerinnen und Schüler, die mir sagen, sie würden die im Unterricht sprechenden Personen bewusst nicht ansehen, um so den Ausführungen des «körpersprachlosen» Gegenübers besser folgen zu können. Gerade sie tauchen in solchen Momenten besonders tief in das Geschilderte ein, ernten aber beim Prädikat «aufmerksam zuhören» vorschnell die schlechteste Bewertung.

Fallgruben, so weit das Auge reicht

Ist eine Schülerin, die lieber ein dichtes Übungsblatt vervollständigt, statt einem aus ihrer Sicht irrelevanten, da abstrakten Sprachvergleich zwischen Französisch und Vietnamesisch zu lauschen, unaufmerksam? Das kann man auch gänzlich anders sehen und zum Schluss gelangen, dass sie ihre Lernzeit effizient nutzt sowie selbständig und zielorientiert arbeitet.

Ist ein Schüler, der in einer Gruppenarbeit feststellt, dass die Präsentation in der vorgegebenen Zeit nicht zu schaffen wäre, wenn er seine vom Rest der Gruppe stark abweichende Meinung einbringen würde, ein schlechter Teamplayer? Im Gegenteil: Er reagiert situativ und intelligent – ganz im Interesse der Gruppe.

Löst eine Schülerin, die ihrer arroganten Klassenkameradin temperamentvoll die Meinung sagt, den Konflikt auf unfaire Art und Weise? Nein: Sie macht ihrem Ärger Luft, frisst die Emotionen nicht in sich hinein und verschafft sich damit Respekt. Ihre Botschaft: «Ich lasse mir nicht alles bieten, merk dir das!»

Fehlt es einem Schüler, der nicht bereit ist, dem ewig faulen Banknachbarn seine mit viel Aufwand erstellte Mindmap zur Verfügung zu stellen, an Hilfsbereitschaft oder ist er gar egoistisch? Mitnichten! Er lässt sich einfach nicht ausnutzen und teilt dem Kollegen so mit, dass er vom Unterricht profitieren würde, wenn er sich selbst die Mühe machte, aktiv mitzuschreiben.

Bild: Fotolia

Hält sich eine Schülerin, die sich getraut, den moralinverseuchten Monolog ihrer Klassenlehrerin zu unterbrechen, indem sie ihr vor der Klasse ins Wort fällt, nicht an die Gesprächsregeln? Ja, aber ohne ihr Votum würde die Lehrerin womöglich nie erfahren, worum es bei dem Konflikt wirklich geht.

Im Hörspiel «Der Vampir von Sussex» bringt es Sherlock Holmes auf den Punkt: «Mein lieber Ferguson, was man sieht und was das, was man sieht, bedeutet, können zwei sehr verschiedene Dinge sein.»[1]

«Was man sieht und was das, was man sieht, bedeutet, können zwei sehr verschiedene Dinge sein.»

Sherlock Holmes

Bevormundung und Abwertung

Besonders heikel wird es dann, wenn gemeinhin positiv konnotierte Prädikate auf den ersten Blick zwar relativ einfach beurteilbar scheinen, diese für den Lernerfolg aber irrelevant sind oder die Persönlichkeitsmerkmale der Lernenden gar ab-wert-en, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Ordnung halten

Ob ein Schüler seine Hefte regelmässig nachführt und seine Arbeitsblätter passend einordnet, ist schnell zu eruieren. Das Spektrum reicht von «Ordnung ist das halbe Leben» bis hin zu «Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen».

Natürlich bestreite ich nicht, dass ein «sinnvolles Ordnungskonzept» – wie es im Fachjargon genannt wird – das Leben in der Schule und zu Hause erleichtern kann. Selbstverständlich kann sich diese per definitionem positiv konnotierte «Eigenschaft» merklich auf die Zufriedenheit oder den Lernerfolg auswirken. Aber eben nicht zwangsläufig.

Provokativ gefragt: Schmeckt Ihnen das Abendessen am Geburtstag Ihres Freundes besser, wenn er beim Prädikat «kann Ordnung halten» mit einem «in hohem Masse erkennbar» punkten könnte? Oder wäre in diesem Setting ein «nicht erkennbar» der Geselligkeit, den lebhaften Diskussionen, der Ambiance oder dem gemütlichen Beisammensein nicht eher zuträglich?

Bild: Fotolia

 

«Ist meine im Werkunterricht gestrickte Kappe weniger schön, nur weil ich zu wenig ins Dossier geschrieben habe?», fragte mich kürzlich mein Sohn. – «Nein.» – «Warum habe ich dann nur eine 5.5 erhalten? Schau mal: Kappe 6, Dossier 5.» – «Weil, ähm, weil der neue Lehrplan von den Lehrpersonen verlangt, auch den Lernweg zu beurteilen.» – «Aha, dann hätte ich für meine Kappe also die gleiche Note bekommen, wenn ich weniger sorgfältig gestrickt und dafür mehr ins Dossier geschrieben hätte?» – «Ja.» – «Welche Kappe würdest du im Laden kaufen: die exakt verarbeitete oder die ungenaue?» – «Die exakte.» – «Eben!»

 

 

«If a cluttered desk is a sign of a cluttered mind, of what, then, is an empty desk a sign?» Albert Einstein Bild: Fotolia

Ich halte es deshalb mit Albert Einstein, dem das folgende Zitat zugeschrieben wird und hoffe, dass die unkorrigierten Klassenarbeiten, das zerlegte Kurzwellenfunkgerät und der zischende Lötkolben, welche bisweilen während der Entstehung dieses Artikels meinen Schreibtisch «zierten», die Qualität meiner Ausführungen nicht zu trüben vermochten: «If a cluttered desk is a sign of a cluttered mind, of what, then, is an empty desk a sign?» (Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist repräsentiert, was sagt dann ein leerer Schreibtisch über den Menschen aus, der ihn benutzt?)

Auftrittskompetenz

In ihrem leidenschaftlichen TED Talk «The power of introverts» zeigt Susan Cain auf, wie schwierig, ja sogar beschämend es für introvertierte Menschen sein kann, sich in einer Kultur zurechtfinden zu müssen, in der soziale, kommunikative und kontaktfreudige Menschen als Mass aller Dinge gelten. Dabei, so Cain, seien es oft gerade stille, zurückhaltende, nach innen gerichtete Menschen, die über aussergewöhnliche Talente und Fähigkeiten verfügten, die sie aber nur entdecken, pflegen und ausschöpfen könnten, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes in Ruhe gelassen werden. Stille und Einsamkeit seien für kontemplative Menschen «die Luft, die sie atmen»[2].

Kooperative Lernformen, verordnete Teamarbeit, Präsentationen oder laute Lernumgebungen hingegen wirken auf introvertierte Menschen bedrohlich, schmälern den Lern- und Arbeitserfolg und beeinträchtigen das Wohlbefinden markant. Wenn Lehrpersonen bei Prädikaten wie «beteiligt sich aktiv am Unterricht», «geht offen auf Neues zu» oder «bringt seine Ideen und Meinungen ein» das Kästchen «nicht erkennbar» ankreuzen, werden sie der Persönlichkeit der Betroffenen – laut Cain handelt es sich dabei um rund ein Drittel der Bevölkerung – nicht gerecht.

In behutsam geführten Gesprächen jenseits bevormundender Kriterienkataloge mag es bisweilen gelingen, den vor sich hinschlummernden extrovertierten Teil in manchen introvertierten Lernenden zu wecken. Dazu braucht es allerdings eine gehörige Portion Menschenkenntnis und Mut, um abschätzen zu können, ob ein leicht «forcierter» Auftritt vor der Menge das eventuell vorhandene extrovertierte Potenzial in einem Schüler zu wecken vermag.

Meine Kindergartenlehrerin ging damals so ein Wagnis ein, indem sie mir in einem Theaterstück kurzerhand die Rolle des Zirkusdirektors zuteilte, die ich zur grossen Verwunderung meiner Eltern mit Bravour meisterte. Dieser «Erfolg», diese angebliche «Stärkung der Persönlichkeit» änderte aber auf Dauer nichts an meinem eher stillen und zurückhaltenden Wesen während der Schulzeit. Das Erwecken meiner extrovertierten Seite verdankte ich vielmehr meiner ersten Freundin. Aus unerfindlichen Gründen liess ich mich von ihr zu einem Tanzkurs überreden. Kein Standortbestimmungsgespräch und kein Kompetenzraster der Welt jedoch hätten es geschafft, meine Passion für die Tanzfläche – ein exponierter Ort par excellence – zu wecken.

Kreative Ideen für den Unterricht oder spontane Einfälle für Artikel im «lvb.inform» fallen mir auch heute noch in der «Einsamkeit» ein: In der Stille des Waldes. Im Büro im Untergeschoss, um zwei Uhr nachts, wenn alle anderen schlafen. Laute Partys, Kennenlernspiele an schulinternen Fortbildungen, verordnetes WIR-Gefühl, die Überhöhung des sogenannten social proof[3] hingegen gehören nach wie vor nicht zu meinen Vorlieben – die pädagogische Kooperation, so sie als Ei des Kolumbus verkauft werden soll, inklusive.

Eigene Wege finden und gehen (lassen)

Im Film «Dead Poets Society» lässt Robin Williams alias Mister Keating ein paar seiner Internatsschüler im Innenhof im Kreis spazieren. Schon nach kurzer Zeit marschieren die Studenten im Gleichschritt, andere schauen zu. Die meisten klatschen im Rhythmus, als Keating den Marschierenden Kommandos erteilt. In der Folge macht der Lehrer die Studenten auf das Phänomen der Konformität aufmerksam: die Schwierigkeit, die eigenen Überzeugungen anderen gegenüber aufrechtzuerhalten: «Die Blicke von einigen hier verraten, dass Sie denken, Sie wären nicht mitmarschiert. Aber dann fragen Sie sich mal, warum Sie mitgeklatscht haben!»[4] Daraufhin stellt er ihnen die ungewöhnliche Aufgabe, nun individuell, auf ihre Art und Weise ein paar Schritte zu tun und ihren eigenen Rhythmus zu finden. Ein einziger Schüler bleibt lässig an einer Mauer angelehnt stehen. «Mister Dalton, wollen Sie nicht mitmachen?» – «Ich mache von meinem Recht Gebrauch, nicht teilzunehmen.» – «Danke, Mister Dalton, Sie bringen es auf den Punkt!»

«Two roads diverged in a wood,
and I, I took the one less traveled by,
and that has made all the difference

Robert Frost

Wir brauchen keine idealen Lernwesen, die den (zufälligen) Launen des Zeitgeists entsprechen, sondern Schülerinnen und Schüler wie Mister Dalton. Und Lehrpersonen wie Mister Keating, der die «überfachlichen Kompetenzen» seiner Schüler nicht mit einem standardisierten Kriterienraster «abfertigt», sondern seine Schützlinge in ihrer jeweiligen Persönlichkeit stärkt und sie dazu ermutigt, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen.

Wir brauchen keine idealen Lernwesen, die den (zufälligen) Launen des Zeitgeists entsprechen, sondern Schülerinnen und Schüler wie Mister Dalton. Und Lehrpersonen wie Mister Keating, der die «überfachlichen Kompetenzen» seiner Schüler nicht mit einem standardisierten Kriterienraster «abfertigt», sondern seine Schützlinge in ihrer jeweiligen Persönlichkeit stärkt und sie dazu ermutigt, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen.

Ich bin sehr dafür, wenn sich Lehrerinnen und Lehrer nicht von an (leeren?) Schreibtischen erdachten Rastern täuschen lassen, zumal die Verfasser der Raster mit hoher Wahrscheinlichkeit beim fiktiven Prädikat «Ich lasse mich rasch für Modeströmungen begeistern» mit einem «in hohem Masse erfüllt» glänzen würden.

Alternativen

Meine Sicht der Dinge ist diese: Ein kurzes Feedback unmittelbar nach einer gelungenen Präsentation unter vier Augen im Gang, eine individuelle Prüfungsbesprechung während einer Stillarbeit, ein spontanes Gespräch auf einer Wanderung, eine ungeplante Diskussion nach dem regulären Unterricht sind jedem standardisierten Raster haushoch überlegen. Man erfährt und teilt Unerwartetes und eben nur vermeintlich Nebensächliches quasi en passant.

Beispiele gefällig? Eine Schülerin erzählt begeistert vom neuen Bühnenstück, welches das Junge Theater Basel demnächst aufführt, und verrät mir, wie sie Schule und ihre anspruchsvolle Schauspielerei unter einen Hut bringt. Einem Schüler, der mich um eine individuelle Prüfungsbesprechung gebeten hat, kann ich ein paar spezifische Tricks aufzeigen. Ich erfahre, wie es um die aktuelle Klassendynamik bestellt ist. Es entsteht eine spannende Diskussion um die Frage, warum denn der Klassenschnitt im Fach Deutsch tiefer liegen könne als in Englisch, schliesslich sei Deutsch doch die Muttersprache. Zwei Schülerinnen schenken mir ihr Vertrauen, indem sie erzählen, dass sie von einem Jungen gehänselt werden, und möchten wissen, was ich von ihrem Plan halte, um dagegen etwas zu tun. Ein Schüler findet es grossartig, dass er seinen Englischlehrer mit seinem britischen Humor regelmässig zum Schmunzeln bringt. Und wieder ein anderer hat die Nase gerade voll und möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Statt von meinen Kolleginnen und Kollegen zu verlangen, meine Schülerinnen und Schüler im Vorfeld eines Elterngesprächs «durchzukreuzeln», bitte ich sie, mir die Lernenden aus ihrer Perspektive zu schildern. An Austauschrunden, via Sprechnachricht etc. erhalte ich so innert Kürze eine Fülle an bedeutsamen Informationen und bin bestens gerüstet für facettenreiche und hoffentlich fruchtbare Gespräche. Das Führen solcher Eltern- oder Standortgepräche nach standardisierten Kriterien aber halte ich für eine Beleidigung der Mündigkeit aller Gesprächteilnehmenden.

Anhand von Situationen, welche das unmittelbare Geschehen betreffen, halte ich die Schülerinnen und Schüler regelmässig – aber dosiert (!) – dazu an, herauszufinden, welche Fähigkeiten und Vorgehensweisen ihnen das Leben an der Sekundarschule erleichtern und welche eher nicht. Mit handfesten und einfachen Fragestellungen finden Schülerinnen und Schüler schnell heraus, was rund läuft und wo es allenfalls klemmt. Habe ich neben der Schule noch Zeit für meine Freunde und mein Hobby? Könnte ich, wenn nötig, noch einen Gang höher schalten? Wie fühle ich mich in der neuen Klasse? Mit welchen Kolleginnen kann ich so lernen, dass es mir persönlich etwas bringt? Was hat mich in letzter Zeit geärgert, worüber habe ich mich gefreut?

Es ist mir dabei ein Anliegen, dass sich die Schülerinnen und Schüler zu ausgewählten Themen auch tatsächlich Gedanken machen. Noch viel wichtiger aber ist für mich, dass sie sich an den Standortgesprächen zu denjenigen Themen äussern, die für sie auch wirklich persönlich relevant sind.

«Mir ist aufgefallen, dass ich bessere Noten schreibe, wenn ich mein Deutschheft regelmässig nachführe. So repetiere ich den Stoff und muss gar nicht mehr viel lernen.» Oder: «Nun gut, mein Lesejournal ist nicht immer vollständig. An den Lektüreprüfungen habe ich aber stets eine 5 oder mehr. Ich profitiere vor allem im Unterricht, das ist spannender und ich habe erst noch mehr Zeit für die Schauspielerei.» Und eine Schülerin, der ich einst mitteilte, dass ihre Hefte zwar wahrhaftige Kunstwerke seien, sie ihre Zeit für die aufwändige Gestaltung doch sicher auch anderweitig einsetzen könnte, sagte mir: «Wissen Sie, ich bin gerne kreativ. Wenn ich ein Heft gestalte, vergesse ich die Zeit, ein tolles Gefühl.» Wer arbeitet denn nun «zielgerichtet», wer erreicht das Lernziel und wer hat recht? Die Antwort ist simpel: alle!

Wir sollten nie aus den Augen verlieren, dass Kinder und Jugendliche mehr (und komplexer) sind als die Summe von Kreuzchen in worthülsenverdächtigen, vorgefertigten Rastern.

Wir sollten nie aus den Augen verlieren, dass Kinder und Jugendliche mehr (und komplexer) sind als die Summe von Kreuzchen in worthülsenverdächtigen, vorgefertigten Rastern. Wenn wir daran nicht glauben würden, hätten wir dann den Lehrberuf ergriffen? Richtigerweise wird die Bedeutung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden immer wieder hervorgehoben. Wie sollten wir diesem Paradigma gerecht werden können, wenn wir die uns Anvertrauten in ein letztendlich banalisierendes Schema pressen? Nein, auf rigide Kästchenpädagogik und aufgeblasene Prädikatenbalkendiagramme können wir getrost verzichten.

Das sieht im Übrigen auch die eingangs erwähnte Schwiegermutter so. Als sie die Türe öffnet und Mary zum ersten Mal erblickt, sagt sie überrascht:

«Mary! Good Lord you’re pretty!»

«Oh no, it’s just … I’ve got a lot of Mascara and lipstick on.»

“Let’s have a look. Ah, yes. Good!

Philipp Loretz

 

[1] «About time», Strandszene, https://www.youtube.com/watch?v=DNXGUn0Yrb8

[1] Verhaltensmerkmale Sekundarstufe I, AVK Solothurn

[1] Sherlock Holmes in «Die Originale – Fall 7: Der Vampir von Sussex» auf Spotify

[2] Susan Cain, TED Talk «The Power of Introverts», https://www.ted.com/talks/susan_cain_the_power_of_introverts

[3] Soziale Bewährtheit: Der Ausdruck «social proof» wurde ursprünglich von Robert Cialdini in seinem 1984 erschienenen Buch «Influence. The Psychology of Persuasion» geprägt (deutsche Ausgabe S. 163 ff.). Die deutschen Buchausgaben verwenden hier die etwas sperrige Übersetzung soziale Bewährtheit: «… die Menge besitzt Beweiskraft. Dieses Prinzip besagt, dass das Verhalten der Menschen weitgehend von dem Verhalten anderer um sie herum geprägt ist, insbesondere vom Verhalten derer, mit denen sie sich identifizieren.» (Martin, Goldstein, Cialdini S. 22), https://vernunftpraxis.de/was-ist-sozialer-beweis/

[4] Der Club der toten Dichter, 1989
https://www.youtube.com/watch?v=REtaUSQ0i1Q
https://www.youtube.com/watch?v=nJ_htuCMCqM

 

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