Mit ihrem Gastkommentar profiliert sich Clarita Kunz Matossi ganz im Sinne des Zeitgeistes mit dem aktuell gängigen Schulmotto der individuellen Selbstoptimierungsideologie (NZZ 7. 8. 23). Sie lobt Lehrer und Schulen, die mit «konsequent individualisierenden Unterrichtsformen wie etwa der Montessori-Methode arbeiten», als besonders innovativ, dies ganz im Gegensatz zu den Vertretern des «veralteten Systems» mit der engagierten Lehrperson als wichtigstem Medium für guten Unterricht und gutes Vorankommen der Schülerinnen und Schüler.
Im Brustton der Überzeugung – gänzlich ohne Beleg oder Veranschaulichung – behauptet sie, es sei «schlicht falsch», zu meinen, Lehrpersonen seien wichtiger für den Lernerfolg als die Unterrichtsmethode. Man müsse lediglich den Kindern und Jugendlichen mehr Freiheit und Verantwortung beim Lernen übergeben, dann würden sie gut arbeiten können – da kann man nur staunen.
Arrangeure der Lernumgebung?
Historisch gesehen gab es die romantisierende reformpädagogische Vorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Kind würden sich die individuellen kreativen Keime von selbst entfalten, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu gäbe. Schon damals sollten die Erwachsenen ausschliesslich Arrangeure einer funktionalen Lernumgebung zur Selbstbedienung der Kinder sein.
In Wirklichkeit zeigen die heutigen sozial- und humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen bei Kindern und Jugendlichen unmissverständlich auf, dass der Mensch ein «ultrasoziales» Wesen ist.
Dementsprechend ist auch die Beziehung der Schülerinnen und Schüler zur Lehrperson und untereinander wesentlich dafür verantwortlich, wie der Umgang und die emotionale Atmosphäre innerhalb einer Klasse sind und wie sich aufgrund dessen das allgemeine Niveau des Lernens bei jedem Kind positiv entwickeln kann.
Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.
Gerade die langjährige Erfahrung in den Primarschulen mit den sehr unterschiedlichen Leistungsvermögen und Voraussetzungen innerhalb einer Klasse (im Prinzip handelte es sich bei einer klassischen Volksschulklasse stets um gelebte Integration) hat uns immer veranschaulicht, dass erfolgreicher Unterricht auf Dauer nur dann möglich ist, wenn es der Lehrperson gelingt, die teilweise äusserst heterogen zusammengesetzte Klasse als Gemeinschaft zu fördern, in der ein Klima der Freundschaft, der gegenseitige Rücksichtnahme und des Respekts lebt.
Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.
Das anregende Unterrichtsgespräch
Mit der Individualisierung des Unterrichts kommen nur die sehr vifen, von zu Hause sehr gut geförderten und begleiteten Schülerinnen und Schüler zurecht, während die meisten Lernenden, ganz besonders die schwachen, zwangsläufig auf sich selbst zurückgeworfen sind und im Lernen resignieren.
Da wir Europäer uns so gerne am grossen Vorbild USA orientieren, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sich in der angelsächsischen Welt in den letzten bald zwanzig Jahren ein wirklich innovativer Forschungszweig zur Unterrichtsgestaltung entwickelt hat, bei dem von «Socializing Intelligence Through Academic Talk and Dialogue» als zukunftsweisender Orientierung in der Schulpädagogik gesprochen wird.
Das anregende Unterrichtsgespräch wird in sehr differenzierter Weise analysiert, stets vertiefend weiterentwickelt und den Lehrpersonen als zentrales Instrumentarium vermittelt. Befasst man sich näher damit, realisiert man, dass sehr vieles an das interpersonale Verständnis jedes Bildungsprozesses erinnert, das viele Pädagogenpersönlichkeiten der europäischen (humanistischen) Bildungstradition aus unterschiedlicher Perspektive schon länger beschrieben haben.
Beat Kissling war Lehrer und später als Erziehungswissenschafter und Psychologe lange Jahre in der Lehrerbildung tätig. Er ist Autor von «Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung» (2021).