Nicht alle Kantone setzten das Postulat gleich konsequent um. Während es etwa im Kanton Appenzell Innerrhoden noch flächendeckend Kleinklassen gibt, hat zum Beispiel der Kanton Basel-Stadt das System am konsequentesten umgesetzt und praktisch alle Angebote ausserhalb der Regelschule abgeschafft. Es dürfte daher kein Zufall sein, dass gerade im Stadtkanton jetzt besonders viel Bewegung in die Diskussion gekommen ist.
Initiative fordert Einführung von Förderklassen
Ein Komitee von Lehrpersonen hat im August 2022 die Förderklassen-Initiative eingereicht. Diese wird von der Freiwilligen Schulsynode (FSS), dem Berufsverband der Lehr- und Fachpersonen unterstützt. Sie fordert die Einführung von Förderklassen mit maximal 10 Schülerinnen und Schülern, die von Heilpädagoginnen oder Heilpädagogen oder von erfahrenen Lehrpersonen zusammen mit Fachpersonen aus der Sozialpädagogik unterrichtet werden. Dabei soll die minimale und maximale Dauer des Verbleibs von Kindern in einer solchen Klasse festgelegt, und die neuen Klassen sollen an den Standorten der Regel-schulen geführt werden. “Unser Ziel ist es, Kinder mit besonderen Bedürfnissen einerseits wieder umfassender fördern zu können und anderseits ein durchlässiges System zu gestalten”, erklärt Marianne Schwegler, Vizepräsidentin des FSS. Das aktuelle System stellt sie als erfahrene Heilpädagogin nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in Frage. “In der Regel bin ich 3 bis 5 Lektionen pro Woche in einer Klasse.
Es gibt Kinder, denen damit gut gedient ist. Andere brauchen aber viel mehr Unterstützung. In der restlichen Zeit muss das die Klassenlehrperson leisten, allenfalls zusammen mit einigen wenigen Stunden Klassenassistenz. Das überfordert viele”, sagt Marianne Schwegler. Die vielzitierte Chancengerechtigkeit sei so nicht gegeben. Wenn Kinder störten, belaste dies oft die ganze Klasse.
Für Marianne Schwegler – da geht sie mit den meisten Lehrpersonen einig – sind nicht die Kinder mit klaren Behinderungen das Problem, sondern jene mit sozialen und emotionalen Störungen, die aufgrund ihrer psychischen Belastung am Lernen gehindert werden. “Wir haben immer mehr Kinder mit deutlich eingeschränkten emotional-sozialen Kompetenzen, vermindertem Durchhaltevermögen und nur minimaler Frustrationstoleranz.” Es gehe jetzt darum, bei den Integrationsbestrebungen in der Schule wieder eine gesunde Balance herzustellen, damit Integration nicht plötzlich für zu viele zum Nachteil werde: “Wenn eine Mehrheit in der Klasse leidet, ist das schlecht für alle”, sagt Marianne Schwegler.
Gesellschaftliche Herausforderung für die Schulen
Klare Integrationsbefürworterinnen und -befürworter bringen gerne das Argument der Stigmatisierung ins Spiel, warum Kinder nicht mehr wie früher in separaten Klassen unterrichtet werden dürften. Wenn man Schülerinnen und Schüler während des Regelunterrichts separiere, sei dies mindestens ebenso stigmatisierend, kontert Marianne Schwegler.
“Wir haben immer mehr Kinder mit deutlich eingeschränkten emotional-sozialen Kompetenzen, vermindertem Durchhaltevermögen und nur minimaler Frustrationstoleranz.”
Heilpädagogin Marianne Schwegler
In den letzten Jahren sei die Schule mit zu vielen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, die sie allein nicht lösen könne. “Der Weg zur Integration war und ist wichtig und richtig, aber man hat übers Ziel hinausgeschossen. Es braucht wieder mehr Angebote für möglichst viele kindliche Bedürfnisse, und die Erziehungsberechtigten müssen ihren Teil der Verantwortung wieder stärker übernehmen.” Auch Roland Stark engagiert sich für die Förderklassen-Initiative.
Wie viele andere Heilpädagoginnen und -pädagogen war er von allem Anfang an skeptisch gegenüber der umfassenden Integration. Roland Stark ist pensioniert und unterrichtete während 43 Jahren Kleinklassen in Basel. “Wir müssen das heutige System unbedingt aufweichen und von der Vorstellung wegkommen, dass wir alle Kinder in jedem Stadium integrieren können.” Die Schule sei zurzeit viel zu hektisch mit den vielen Lehr- und Fachpersonen sowie Klassenassistenzen. “Da geht es zu wie am Bahnhof zur Rush Hour. Es ist ein Kommen und Gehen. Viele Klassen haben bereits auf der Primarstufe sieben oder acht Lehrpersonen. Unser Schulsystem stiftet Unruhe, statt eine Atmosphäre für ruhiges und konzentriertes Arbeiten zu schaffen.”
Ideologisierte Debatte
Für Roland Stark ist es eine Schönwettervorstellung, dass die paar Lektionen Heilpädagogik und Klassenassistenzen für eine halbwegs adäquate Unterstützung reichten. So könne man schlicht nicht unterrichten. Das höre er von immer mehr Lehrpersonen. In Basel habe sich die Zahl der Kinder, die zusätzliche Unterstützung bräuchten, in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Auch für ihn sind die diagnostiziert beeinträchtigten Kinder nicht der Knackpunkt.
Viel mehr Mühe machten die vielen normal Intelligenten, die aufgrund von sozialen und emotionalen Schwierigkeiten oder sprachlichen und kulturellen Nachteilen am Lernen gehindert würden und deshalb die Leistung nicht erbringen können und/ oder andere stören. “Die heutige integrative Schule bietet nur ein ungenügendes und für alle Beteiligten oft frustrierendes Angebot”, sagt der Heilpädagoge. Roland Stark, ehemaliger Präsident der SP der Stadt Basel, stört sich an der ideologisierten, von Realitätsverlust geprägten Form der Debatte. “Es passt zum heilen, linken Weltbild, dass nur die vollständige Integration der richtige Weg ist.”
“Wir müssen das heutige System unbedingt aufweichen und von der Vorstellung wegkommen, dass wir alle Kinder in jedem Stadium integrieren können.”
Roland Stark, ehemaliger Kleinklassenlehrer
Zahlreiche Zuschriften von früheren Schülerinnen und Schülern aus seinen Kleinklassen bestätigen ihm, dass man dort vielen Kindern besser gerecht worden sei. Es sind eindrückliche Dankesbriefe von heute gestandenen, glücklichen Eltern und erfolgreichen Berufsleuten. Sie bedanken sich für die gezielte Unterstützung, die sie einst in der Kleinklasse erfuhren und betonen, wie wichtig dies für ihre Entwicklung war.
Geteilte Meinungen in Zürich
Auch Yasmine Bourgeois findet dezidiert, dass die Integration so nicht mehr funktioniert. Die ausgebildete Primar- und Sekundarlehrerin ist seit eineinhalb Jahren Schulleiterin in einer Stadtzürcher Primarschule. “Seit ich Schulleiterin bin, ist diese Einsicht bei mir nur noch gewachsen, weil ich jetzt mit allen Problemen unserer Schule konfrontiert bin”, sagt sie. Man könne weder den verhaltensauffälligen Kindern noch jenen mit schulischen Problemen oder denjenigen, die lernen möchten und normal begabt seien, gerecht werden. Oftmals seien die Kinder mit Sonderschulstatus ausgestellt und eben gerade nicht gut integriert.
Das System löse eine Kettenreaktion aus mit immer mehr Elterngesprächen, endlos vielen Absprachen innerhalb der pädagogischen Teams und mit den zugezogenen Fachleuten. Schulinseln, wie sie die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner als wichtige Unterstützungsmassnahme propagiert hat, sind für Yasmine Bourgeois, die für die FDP im Zürcher Gemeinderat sitzt, ein Tropfen auf den heissen Stein. “So sind die Kinder zwar für ein paar Stunden, vielleicht einmal für eine Woche, zur Entlastung aus der Klasse. Aber eine mittel- oder langfristige Lösung ist das nicht.” Den Ansatz in Basel fände sie auch für den Kanton Zürich richtig, weshalb sie sich für die flächendeckende Wiedereinführung von Klein- oder Förderklassen ausspricht.
ZLV verlangt mehr Ressourcen
Doch wie ist die Haltung der organisierten Zürcher Lehrerinnen und Lehrer? Für den Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband steht der Weg zurück zu Kleinklassen nicht im Vordergrund.
“Die Integrationsbegeisterung geht klar zurück, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land.”
Roland Stark, Heilpädagoge
“Der ZLV anerkennt die Forschungsergebnisse zur Integration, die klar darauf hindeuten, dass eine integrative Schule für die allermeisten Kinder Vorteile bietet. Im Einzelfall braucht es trotzdem manchmal separative Massnahmen”, erklärt Christian Hugi, Präsident des ZLV. Das sei kein Widerspruch. In der Regel sei die Integration von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten am aufwendigsten und auch am belastendsten, meint auch er. Zentral sei aber, dass der System-Rahmen stimme. Hugi fordert mehr zeitliche und personelle Ressourcen, damit die Lehr- und Fachpersonen einen individuellen Unterricht auch tatsächlich leisten können, ohne auszubrennen.
Auch die Klassengrösse müsse man anschauen. Als Richtgrösse empfiehlt der ZLV 20 Kinder. Zudem brauche es mehr Teamteaching, Halbklassenunterricht und ausreichend heilpädagogisches Personal.
Bevölkerung ist zunehmend kritisch
Derweil ist man in Basel zuversichtlich, dass die Förderklassen-Initiative im Falle einer Abstimmung gute Chancen hätte. “Die Integrationsbegeisterung geht klar zurück, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land”, beobachtet Roland Stark. Auch im Kanton Zürich scheint die Stimmung in der Bevölkerung allmählich zu kippen. 18 Jahre nach dem Ja zum neuen kantonalen Volksschulgesetz im Jahr 2005, im Rahmen desselben auch die schulische Integration beschlossen wurde, scheint eine Mehrheit nicht mehr von den Vorteilen der schulischen Integration überzeugt zu sein. Zumindest ergab dies kürzlich eine Umfrage, die das Forschungsinstitut GfS Bern im Auftrag der NZZ durchgeführt hatte. Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie wieder Kleinklassen einführen und sich vom Prinzip der integrativen Förderung abwenden wollen.
UNO-Menschenrechtskonvention von Salamanca mit Interpretationsspielraum
Befürworterinnen und Befürworter der Integration ziehen häufig die UNO-Menschenrechtskonvention von Salamanca aus dem Jahr 1994 als Argument heran, warum die Integration möglichst aller Kinder in Regelklassen der einzig richtige Weg sei. Die Salamanca-Erklärung war die Grundlage für die Uno-Behindertenrechtskonvention von 2006. “In der Konvention steht an keiner Stelle, dass Sonderschulen als spezifische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Defiziten abgeschafft werden müssen”, kritisiert Roland Stark, pensionierter Heilpädagoge aus Basel. Ein weiteres Missverständnis basiere auf einem Übersetzungsfehler. So sei damals “general education system” fälschlicherweise mit dem deutschen “allgemeine Schulen” übersetzt worden statt korrekterweise mit dem Begriff “allgemeinbildendes Schulsystem” im Unterschied zu den berufsbildenden Schulen.
Roland Stark ist mit seiner Einschätzung nicht allein. Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, langjähriger Lehrer und Dozent an Schweizer Lehrbildungsinstitutionen, kommt in seinem Buch “Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert?” ebenfalls zum Schluss, dass die UNO-Konvention keineswegs eine vollständige Inklusion postuliere resp. Kleinklassen per se ausschliesse.
Basel bildete ja auch das Schlusslicht in der letzten nationalen Überprüfung der Grundkompetenzen. Aber das ist ja nur Klein-Cram…
Wichtiger ist die selbstgebastelte tolle Schule.
Baselland stand in der genannten Prüfung übrigens an zweitletzter Stelle. Grossartig! Ich verneige mich.