21. Dezember 2024
Schweden

Stellungnahme zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung

Die schwedische Regierung hat ihre Entscheidung, Vorschulen verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten, rückgängig gemacht. Die neue Position fusst wesentlich auf der Stellungnahme des Karolinska Instituts, formuliert von Lisa Thorell, Professorin für Entwicklungspsychologie; Torkel Klingberg, Professor für kognitive Neurowissenschaften; Agneta Herlitz, Professorin für Psychologie; Andreas Olsson, Professor für Psychologie und Ulrika Ådén, Professorin und Beraterin für Neonatologie. Wir bringen einen Artikel, der auf der Webseite Lehren, Lernen Unterricht erschienen ist. Der Autor ist Peter Hensinger.

Die Bildungsministerin Lotta Edholm begründete die Kehrtwende:

„Es ist offensichtlich, dass Bildschirme grosse Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen. Wir wissen, dass menschliche Interaktion für das Lernen in den ersten Lebensjahren entscheidend ist. Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen.“ (1)

Lotta Edholm, Bildungsministerin von Schweden

In der Zusammenfassung der Stellungnahme des Karolinska Institutes heisst es:

„Der von der Nationalen Agentur für Bildung vorgelegte Vorschlag für eine Digitalisierungsstrategie beinhaltet zwei übergreifende Ziele:

* Alle Kinder und Schüler sollen digitale Kompetenzen ent­wickeln, um aktiv am Unterricht, am sozialen Leben und am Arbeitsleben teilnehmen zu können, um zu einer nachhaltigen und demokratischen Gesellschaft beizutragen, und

* Die Qualität des Unter­richts, die Gleichwertigkeit und das Erreichen der Ziele sollen durch die Nutzung der Möglichkeiten, die die Digitalisierung in den verschiedenen Bereichen des Schulsystems bietet, verbessert werden.”

In ihrem Bericht beschreibt die Nationale Agentur für Bildung, wie die zunehmende Digitalisierung zu verschiedenen positiven Effekten sowohl für die Schulen als auch für die Gesellschaft führen wird.

Wir sehen in dem Bericht insgesamt drei Probleme:

* Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwar­teten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h. nicht auf wissen­schaftlichen Erkenntnissen beruhend. Wir fordern quantitative Studien, die die Auswirkungen der verschie­denen Maßnahmen auf den Wissenserwerb und die digitale Kompetenz messen.

* Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen grosse, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.

* Der Vorschlag der schwedischen Bildungsbehörde enthält keine konkreten Vorschläge, wie die Schulen bei der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie vorgehen sollen, obwohl der Behörde sehr wohl bewusst sein muss, dass viele Schulen (insbesondere in benachteiligten Gebieten) grosse Schwierigkeiten haben, qualifizierte Lehrkräfte zu finden, und dass nur sehr wenige Lehrkräfte im Umgang mit digitalen Werkzeugen geschult wurden.“

Der Beitrag ist zuerst auf der Webseite “Lehren Lernen Unterricht” erschienen.

Einige Kernsätze aus der Stellungnahme:

„Wie wir weiter unten ausführlicher erläutern, zeigt die Forschung, dass die Digitalisierung der Schulen in dem Ausmass, wie sie in Schweden bereits stattgefunden hat, viele Nachteile mit sich bringt, und dass eine verstärkte Digitalisierung weitere negative Folgen haben könnte.“

„Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern.“

„Wichtige schulpolitische Entscheidungen sollten nicht getroffen werden, ohne dass man vorher weiss, was die Forschung sagt.“

„Das Wissen über die negativen Auswirkungen der Digitalisierung ist also schon seit vielen Jahren vorhanden, aber die schwedische Bildungsbehörde scheint sich dessen nicht bewusst zu sein.“

„Wir verweisen auf eine kürzlich veröffentlichte Zusammenfassung des schwedischen Medienrats (Nutley & Thorell, 2022), in der ein positiver Zusammenhang zwischen der Bildschirmzeit und verschiedenen Aspekten der psychischen Gesundheit (z. B. Depressionen, Angst­zustände, Konzentrationsprobleme, geringes Selbstwertgefühl, Essstörungen, Schlafprobleme) und der körperlichen Gesundheit (z. B. Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit, schlechtere motorische Fähigkeiten) beschrieben wird.“

Ernsthafte Bedrohung für Wissenserwerb der Schüler

„Wenn digitale Werkzeuge bereits bei sehr kleinen Kindern im Vorschulalter einge­setzt werden, wird es für die Eltern unmöglich sein, die Empfehlungen zu befolgen, dass Kinder vor dem zweiten Lebensjahr keine Bildschirme benutzen sollten.

„Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zunehmende Digitalisierung der Schulen unseres Erachtens bereits erheb­liche negative Folgen aufweist, da sie vermittelt, dass Wissen etwas Relatives ist – ein solcher Ansatz stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Wissenserwerb der Schüler dar.“

„Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte, anstatt das Wissen in erster Linie aus frei zugänglichen digitalen Quellen zu erwerben, die nicht auf ihre Richtigkeit überprüft wurden.“

Download

Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung (Schwedisch): Beslut om yttrande över förslag till nationell digitaliseringsstrategi för skolväsendet 2023–2027. (Ert dnr U2022/03951, vårt dnr 1-322/2023)

Deutsch:  Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie  in der Bildung (2023)

 

Diese Stellungnahme ist keine Einzelmeinung einer Fakultät, sondern wurde von der Gesamt-Universität an die Politik übergeben. Die Karolinska-Universität ist eine der bedeutendsten Universitäten der nordischen Länder.

 

(1)  zitiert nach der Homepage der Schweden Liberalen , der Partei, der Frau Edholm angehört; 07.07.23)

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

«Die Schulen werden ideologisch durchtränkt»

Klima, Gender, Rassismus: Der neue Rahmenlehrplan für Gymnasien will die Welt verbessern. Kritiker warnen vor Indoktrination, einige Kantone üben bereits Opposition. Die Journalistin der Sonntagszeitung, Nadja Pastega, ist diesen Vorwürfen nachgegangen.

Eine Erosion des Bildungswesens

Als vor bald 20 Jahren in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, gab die Bildungspolitik unter dem Stichwort “Inklusion” ein grosses Versprechen ab: Alle Kinder, egal, wie verschieden sie sind, sollen einen Platz in den Regelklassen finden – unabhängig von Lernschwierigkeiten, schulischer Begabung, psychischen Problemen oder Verhaltensstörungen. Die “Inklusion” ist eines der grossen Dogmen der Bildungsreformer. Aber was gut gemeint ist, stösst in der Praxis an Grenzen. Die Sonntagszeitung veröffentlichte vor kurzem einen Bericht eines anonymen Lehrers, der bald eine 9. Klasse aus der obligatorischen Schulzeit entlassen wird. Fazit: Kaum notiert von der Öffentlichkeit, stellen wir eine eigentliche Erosion der Bildungsqualität fest. Opfer sind wie immer die unterprivilegierten Kinder und die Einwanderergeneration. Der Autor ist der Redaktion der Sonntagszeitung bekannt.

2 Kommentare

  1. Schon 2015 haben Gerald Lembke und Ingo Leipner im ihrem Buch “Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen” gut dokumentiert auf die Probleme hingewiesen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert