7. November 2024
Hochschulabschlüsse und Diplome

Werden wir immer gebildeter?

Die Zahl der Diplome nimmt zu, die Hochschulquoten steigen. Da fragt man sich unwillkürlich: Steigt mit der Bildungsexpansion auch die Bildung? Ein Frageblick auf die «Bildungslandschaft» von Condorcet-Autor Carl Bossard.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

So zertifiziert und diplomiert wie heute waren wir in der Schweiz noch nie. Die Zahlen und Ziffern zeigen es. Die tertiären Abschlüsse auf Hochschulstufe weiten sich aus; das bekundete bereits der Bildungsbericht Schweiz von 2018.[1] Die Bildungsexpansion setzt sich weiter fort. Unvermindert und intensiv. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Tertiärquote der 25- bis 34-Jährigen fast verdoppelt. Jede zweite Person dieser Altersgruppe verfügt heute über einen Abschluss auf der Tertiärstufe.[2] Dazu gehören die kantonalen Universitäten, die beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen von Zürich und Lausanne, die ETHZ und die EPFL, dann die Fach- und die Pädagogischen Hochschulen sowie die höhere Berufsbildung HBB. Wer nur die Hochschulstufe betrachtet, erkennt schnell: Das Wachstum hier hat sich im gleichen Zeitraum gar verdreifacht.

Wie lässt sich Bildung messen?

In der Statistik wird konsequent vom «Bildungsstand der 25- bis 34-jährigen Bevölkerung» gesprochen. Doch lässt sich Bildung überhaupt quantifizieren, lässt sie sich messen – allenfalls an den ECTS-Punkten des European Credit Transfer Systems? Und was bedeutet Bildung? Schlüsselqualifikationen oder Basiskompetenzen, operationalisierbare Fähigkeiten oder eine möglichst hohe Maturitätsquote, wie dies die OECD fordert? Schnell stellt sich auch die Frage: Kann man in Zahlen fassen, wie sich ein selbstbestimmtes, mündiges Subjekt denn bildet?

Wo man von Bildung spricht, meint man da nicht das Zertifikat, die soziale Reputation oder gar die gesellschaftliche Distinktion?

Kaum jemand hat heute in der Schweiz den Überblick über die unzähligen Weiter- und Fortbildungsanbieter, die staatlichen wie die privaten, und die verwirrende Vielfalt an Diplomen und Zertifikaten, die verschiedenen Certificate, Diploma und Master of Advanced Studies (CAS, DAS und MAS). Ob all die vielen Abschlüsse den Namen Bildung verdienen? Oder handelt es sich hier bloss um Etikettenschwindel? Müsste all das nicht anders bezeichnet sein? Als Ausbildung und Instruktion, als Unterricht und Lernen, als Trainings- und Qualifizierungsprozesse? Und ist Bildung nicht allzu oft Synonym für den Wunsch, ein schönes Papier zu besitzen, einen Abschluss, den man sich erwirbt wie eine Billigpizza am Take-away? Der Ausweis von Bildung durch den Nachweis eines Dokuments mit Punkten und Titeln: Wo man von Bildung spricht, meint man da nicht das Zertifikat, die soziale Reputation oder gar die gesellschaftliche Distinktion – ganz im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu? Man erkennt im Abschluss den Anspruch auf höhere Stellung und saftigeres Salär. Aufstieg durch Bildung, Aufstieg als Zweck, Bildung als Mittel.

Peter Bieri, Schriftsteller und Philosoph: Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen.

Bilden kann sich jeder nur selbst

Bildung lässt sich nicht in der Hast rascher Erledigung erwerben; sie ist mehr als berufliche Qualifikation und fachliches «Fitsein für… ». In einer Zeit, in der vieles begrifflich unklar geworden ist, lohnt es sich darum, an das zu erinnern, was Bildung eigentlich sein könnte. Der Philosoph Peter Bieri, unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch als Romancier bekannt, versuchte eine zeitgemässe und zukunftsfähige Bestimmung des Bildungsbegriffs.

Der originelle Denker resümiert: «Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein blosses Wortspiel. […] Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein»[3] – und mit ihr zu interagieren.

Bildung als humane Kultivierung seiner selbst

Der Mensch ist nicht einfach, er habe «auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein», sagt Peter Bieri. Voraussetzung dafür ist Bildung. Eben: Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden. Eine wunderbare Definition! Bildung als humane Kultivierung seiner selbst, wie Wilhelm von Humboldt, Mitbegründer der Universität Berlin und Promotor der preussischen Volksschule, es einst ausgedrückt hat. Bildung als Fähigkeit umfassender Orientierung ist eben mehr als konkretes Sachwissen und technisch-methodisches Verfügungswissen, Bildung ist mehr als Ausbildung. Der Welt und sich selber begegnen, die Wechselwirkung von Ich und Welt erfahren und sie gestalten – auch den kleinen, persönlichen Mikrokosmos. Daraus entsteht verantwortete Handlungsfähigkeit – im Kontext der Mit- und Umwelt.

In seinem erstem Wilhelm Meister-Roman, den Lehrjahren, favorisiert Johann Wolfgang von Goethe die Bildung. Im zweiten Roman, den Wanderjahren, stellt er die Ausbildung als wichtig hin. Die Reihenfolge dieser beiden Romane mit derselben Hauptfigur legt nahe, die Bildung als Grundlage für die Ausbildung zu nehmen. So sah es auch Wilhelm von Humboldt.

Bildung ist nichts Theoretisches, kein blosses Sich-Auskennen in Bildungs- oder Wissensbeständen, sondern eine Lebensform.

Eine beschleunigte Gesellschaft braucht Bildung

Noch nie war eine Bildung, die über den Tagesbedarf und das berufliche Kerngeschäft hinausgeht, so unentbehrlich wie heute. Warum? Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nicht nur als offene, um dem Philosophen Sir Karl Popper zu folgen, sondern auch als beschleunigte versteht. Zu ihrem Credo gehören permanente Innovation, grenzenlose Mobilität und hektische Flexibilität. Der Zwang zum «Change» als Dogma. Das legt auch die Diskussion um die artifizielle Intelligenz (AI) nahe. Ohne Bildungselemente aber geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde, mahnt darum der deutsche Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstrass.[4]

Und er fügt bei: Je reicher unsere Gesellschaft an Information und Wissen wird – auch über das Netz als immense Sekundärmaschine –, desto ärmer scheint sie an Orientierungsvermögen zu werden. Für diese Fähigkeit aber steht der Begriff der Bildung – und für die ethisch-moralische Dimension der Begriff der Humanität. Sie umfasst damit Werte wie Demut, Bescheidenheit und Empathie und bewahrt vielleicht vor Hybris, Hochmut und Habgier. Daher schliesst der Begriff der Bildung auch den Begriff der Orientierung ein – im klassischen wie im modernen Sinne.

Hans Blumenberg, Philosoph, 13. Juli 1920 in Lübeck; † 28. März 1996 : Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.

So ist Bildung nichts Theoretisches, kein blosses Sich-Auskennen in Bildungs- oder Wissensbeständen, sondern eine Lebensform. Wilhelm von Humboldt hat noch immer recht. Er sprach davon, dass der Gebildete so viel Welt wie möglich mit sich verbinde. Welt war für Humboldt nicht allein die vergangene, auch nicht allein die faktisch existierende, sondern jede mögliche Welt – und damit auch die gegenwärtige und die darin erkennbaren Entwicklungslinien.

Bildung ist ein «Horizont»

Der Philosoph Hans Blumenberg prägte vor vielen Jahren die Devise, Bildung sei kein Arsenal, Bildung sei ein Horizont[5]. Daran ist zu erinnern, wenn Bildung auf die Abschlüsse und die Anzahl der Diplome reduziert wird – mindestens in den Tabellen und Grafiken der nationalen Bildungsberichte. Zusammenfassend können wir hier lesen: Noch nie war eine Generation – zählt man die tertiären Abschlüsse – so gebildet wie heute. Ob sie auch gescheiter geworden ist? Zu hoffen wäre es.

[1] SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 173ff.

[2] SKBF (2023). Bildungsbericht Schweiz 2023. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 199f.

[3] Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein? In: Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock (Hg.), «Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht…». Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber 2010, 205f.

[4] Jürgen Mittelstrass (2004), Bildung, Wissenschaft und Humanität – vom Auftrag einer Pädagogischen Hochschule. Vortrag an der PH Zug. Msc. unpubl. S. 3; vgl. ders. (1997), Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

[5] Zitiert nach: Norbert Ricken (2006), Die Ordnung der Bildung. Beiträge zur Genealogie der Bildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 163

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Ein Kommentar

  1. Der Begriff «Bildung» bleibt stets etwas verschwommen. Aus marxistischer Sicht wurde bemängelt, dass er eine elitär-bildungsbürgerliche Schlagseite hat, die nur bevorzugten Kreisen den Zugang ermöglicht und mithilft, die bestehenden kapitalistischen Machtverhältnisse zu zementieren.
    Bildung als Anhäufung von Kompetenzen zu verstehen, könnte somit der Versuch sein, breiteren Bevölkerungsschichten die Teilhabe am Privileg zu ermöglichen: Demokratisierung der Bildung durch Reduktion auf Ausbildung und die Vergabe von Zertifikaten.

    Zu Recht weisen Bossard und die zitierten Autoren darauf hin, dass damit jedoch das eigentlich Entscheidende von Bildung verloren geht, nämlich – grob gesagt – all das, was sich nicht quantifizieren lässt, was über die momentane Verwertbarkeit hinausweist und lebenslang nicht abgeschlossen ist.
    Wie auch immer der Begriff Bildung heute gefasst wird, gemeint sind kohärentes Wissen, praktisches Können und persönliche Haltungen, die sich jemand aneignet und die auf zwei Ziele ausgerichtet sind:

    1. Die Grundlage für ein zufrieden stellendes Leben in Gesellschaft und Beruf.

    2. Die Teilhabe an einem intersubjektiven kulturellen Referenzrahmen der Gesellschaft, in der jemand lebt.

    Angesprochen ist damit eine Besonderheit des deutschen Bildungsbegriffs, dass nämlich Bildung nicht nur als subjektive Errungenschaft verstanden wird (vgl. «education»), sondern auch unabhängig vom Einzelnen als übergeordnetes Prinzip existiert, das den Horizont des engeren sozialen und beruflichen Umfeldes übersteigt.
    Den allgemeinbildenden Schulen kommt die Aufgabe zu, allen Kindern und Jugendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft, diesen kulturellen Referenzrahmen zu erschliessen. Was nur möglich ist, wenn die Reduktion auf Kompetenzen überwunden wird.

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