Herr Oelkers, im Kanton Bern wurden innerhalb von 20 Jahren gut 20 Schulreformen eingeleitet. In anderen Kantonen dürften es nicht weniger sein. Haben die Reformer damit die Schule überfordert oder waren die Reformen zwingend?
Jürgen Oelkers: Wer definiert schon, was zwingend ist? Es sind alles Vorstösse in bester Absicht und den Nutzen erkennt man nicht, wenn man Reformen fordert und dann in Gang setzt. In gewisser Hinsicht sind Schulreformen auch unvermeidlich. Die Schulen stehen unter Beobachtung der Gesellschaft und die Bildungspolitik reagiert auf öffentliche Kritik. Lanciert werden die Reformen von unterschiedlicher Seite, manche kommen auch aus der Mitte der Schule, aber nicht jede Reform ist dort – je nach Belastungsfolgen – willkommen.
Aber die Menge erstaunt doch …
Ja, im Vergleich zu früheren Zuständen in der Schweiz ist das wirklich bemerkenswert. Sehr viele Akteure wollten in den letzten drei Jahrzehnten die Schule neu definieren oder sie für etwas verantwortlich machen, was die Gesellschaft selbst austragen müsste. Das geschah häufig unkoordiniert, aber alle Reformideen wollten es «besser» machen, was mehr oder weniger starke Defizitannahmen voraussetzt. Defizite kennen keine Grenzen, das erklärt die Zahl. Aber man muss auch homogenisierende oder sich selbst bestätigende Expertendiskussionen voraussetzen.
Reformitis an den Schulen am Beispiel des Kantons Bern
Eine kurze Chronik der 20 Berner Schulreformen: durchzogene Bilanz
Die Frage ist doch, was die Schule daraus macht?
Bei strukturellen Reformen, wie sie die Einführung der Schulharmonisierung (HarmoS) eine ist, kann die Schule nicht viel machen. Das wird von der Politik vorgegeben. Generell gilt aber: Die Lehrpersonen akzeptieren weitgehend nur das, was sich für den Unterricht verwerten lässt und was für den Betrieb unverzichtbar ist. Daher werden Reformen nach dem Masse der Überzeugung der Lehrerinnen und Lehrer praktisch vorangetrieben. Vieles wird auch gar nicht umgesetzt. Ideen versanden oder erscheinen Jahre später wieder unter neuem Gewand.
Welche Reform bringt die Qualität der Schule am besten voran?
Die Art und Weise, wie man Lehrmittel macht. Diese Antwort mutet vielleicht etwas fremd an. Aber: Der Unterricht hängt wesentlich von den Lehrmitteln ab. Sie wurden lange einfach benutzt und irgendwann ersetzt. Wenn man aber die Lehrmittel im Feld erprobt und vor der Einführung testet, hat man gute Chancen, die Qualität des Unterrichts zu verbessern.
Das sehen aber viele Eltern und Lehrer anders. Die neuzeitlichen teuren und kompetenzorientierten Lehrmittel für Französisch “Mille feuilles” und “Clin d’Oeil” und in Englisch “New World” standen derart in der Kritik, dass sie vielerorts entweder abgesetzt oder dass ihnen bewusst Alternativen zur Seite gestellt wurden.
Wenn sie schlecht sind, sollten sie schnell wieder abgeschafft werden. Doch ich bleibe grundsätzlich dabei: Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen, was durch die Digitalisierung nochmal dringlicher werden wird.
Halten Sie denn die Einführung von Frühenglisch und Frühfranzösisch für eine geglückte Reform?
Das waren Lehrplanreformen – Umschichtungen von Stunden. Man verlagerte Lektionen von der Oberstufe in die Mittelstufe und hatte die Erwartung, dass sich der Erwerb der Fremdsprache dadurch verbessern würde. Der Ertrag des Fremdsprachenunterrichts gemessen an den Erwartungen ist eher schmal, doch letztlich kommt es darauf an, welche Ziele im Unterricht verfolgt werden. Am Ende können die Schüler, wenn es hochkommt, Schulenglisch und Schulfranzösisch (oder Schuldeutsch in der Romandie). Das Welsch-Jahr war lange der Ausweg. Vielleicht sollte man einen Sprachaufenthalt am Ende der Schulzeit zu einem curricularen Angebot machen.
“Schulreformen sollten heute bei den Lehrmitteln ansetzen.”
Würden Sie deswegen eine Sprachreform der Sprachreform ansteuern?
Das Frühfranzösisch und Frühenglisch in der Primarschule wollte man im Kanton Thurgau, wo ich wohne, wieder abschaffen. Das führte zu einem staatspolitischen Aufschrei. Aber die Frage ist, ob damit der Ertrag verbessert werden kann. Wenn man eine solch einschneidende Entscheidung fällen will, muss man ganz genau hinschauen: Mit welchen Lehrmitteln macht man das? Welche Kompetenzen bringen die Lehrer mit, welche müssen sie noch erwerben?
Was halten Sie von dieser Schulreform: Messung der Schulqualität mittels Pisa-Tests und weiteren Checks?
Der Pisa-Test scheint unvermeidlich und irgendwie muss man da mitmachen. Aber solche Tests nutzen sich über die Jahre ab. Wenn sich nach dem zehnten Pisa-Test zeigt, dass man zwar evaluiert wurde, aber das Ergebnis ungefähr immer dasselbe bleibt, kann man das Testen bleiben lassen. Man weiss ja, was kommt. Bei den Pisa-Tests ist die Schweiz in Mathematik ziemlich oben, bei den Sprachkompetenzen tiefer. Das wird sich auch in den nächsten zehn Jahren nicht ändern. So bleiben solche Tests häufig nur für die Datenanalysten in den Behörden oder in der Forschung spannend. Und: Mit dauernden Alarmierungen lässt sich kein Bildungssystem steuern.
Die Einführung der geleiteten Schulen, beziehungsweise die Einsetzung von Schulleitern – bezeichnen Sie das auch als unvermeidlich?
Die Schweizer Schulen haben damit das angelsächsische Modell übernommen. In Südkorea oder in Frankreich, wo die Schulen von Paris aus gesteuert werden, gibt es das nicht. Aber ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.
“Ich bin überzeugter Föderalist und ich glaube, es ist richtig, wenn man den Schulen eine hohe Autonomie und eigene Leitung zugesteht.”
Sind geleitete Schulen erfolgreicher als zentralistisch organisierte?
Was heisst erfolgreich? In Bezug auf die gemessenen Leistungen sind die asiatischen Schulen erfolgreicher als unsere. Auch Finnland ist spitze. Aber das ist kaum zu erklären, weil Finnland eine komplett andere Leitungskultur hat als die Südkoreaner. In Finnland gibt es beispielsweise keine Nachhilfestunden. Schweden wiederum steuert sehr schülerbezogen …
… mit anderen Worten sagen Sie: Es spielt keine Rolle, wie sich Schulen organisieren.
Nein. Wir haben Studien zur Schulleitung gemacht. Es gibt für die Schweiz keine flächendeckende Lösung. Doch bei Konflikten brauchten sie eine gute Schulleitung und eine erfahrene Moderation nach innen wie nach aussen. Die Schule wird mit Problemen konfrontiert, die Leitung verlangen, etwa im Blick auf die Folgen des Medienkonsums oder falsche Erwartungen der Öffentlichkeit. Zudem: Ohne ausgebildete Schulleitungen gäbe es kaum die Schulentwicklung, die wir heute haben. Und schliesslich braucht jede Schule eine gute Aussendarstellung.
Halten Sie die Einführung der «integrativen Schule» für geglückt?
Die Inklusion ist zunächst einmal die Gegenbewegung zur Separation, also die Auslagerung der ‘schwierigen’ Fälle. Früher hat man gedacht, dass man spezielle Angebote für Behinderte machen muss, aber das ist dann massiv ausgeweitet worden und hat zur Separation geführt. Inklusion ist die Gegenbewegung. Die Idee klingt gut und auch viele betroffene Eltern stehen dahinter. Bei den Lehrpersonen kommt die integrative Schule jedoch zunehmend schlechter an. Man befürchtet, im Unterricht bestimmte Standards nicht mehr halten zu können. Die integrative Schule braucht ausreichend Ressourcen. Schwerstbehinderte etwa benötigen eine Eins-zu-eins-Betreuung. Auch über «Schulinseln» oder kleine Klassen für bestimmte Lernzeiten in der Schule muss man reden, wenn die Massnahmen im Unterricht nicht greifen. Falsch ist es, Inklusion so zu verstehen, dass unter allen Umständen und unabhängig von den praktischen Erfahrungen einfach nur ein Prinzip verwirklicht werden soll. Man muss einfach lernen, was geht und was nicht.
Damit kommen wir zu den Killerkriterien von Schulreformen. Sind die fehlenden Finanzen deren erster Todesstoss?
Nicht zwingend, denn die Ausstattung der Schulen und die Lehrergehälter sind in der Schweiz generell top. Aber für die Umsetzung sehr ehrgeiziger Reformen braucht es zusätzliche Mittel und nicht nur Umschichtungen. Anders lässt sich die Idee der Inklusion kaum umsetzen, aber das ist in den Kantonen eine sehr unterschiedliche Praxis. Zudem: Der Wandel der Schulkulturen in den letzten dreissig Jahren hatte auch Erfolg, niemand will zurück in die autoritäre Schule der Vergangenheit.
Was ist denn Ihr Killerkriterium?
Akzeptanz. Fehlt sie, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem. Die wesentlichen Probleme der Schule ergeben sich heute aufgrund des Wandels ihrer Umwelt und der Gesellschaft. Die Kinder werden beispielsweise von medialen Angeboten angezogen und sie vernachlässigen die Schreibfähigkeit, die Rechenfähigkeit. Der Medienkonsum der Kinder ist unkontrollierbar geworden. Das stellt die Schule auf eine harte Probe.
Haben Sie darauf eine Antwort.
Ja. Kontrolle, Einschränkung der Freiheit. Kinder zwischen 6 und 12 Jahren sehen heute Dinge, die sie nicht sehen sollten.
“Fehlt Akzeptanz, wird das, was politisch gewollt ist, an der Schule nicht umgesetzt oder zum Dauerproblem.”
Das müsste aber in erster Linie Aufgabe der Eltern und nicht der Schule sein.
Ja, und da sprechen Sie gleich ein weiteres Problemfeld von reellen Schulreformen an: Schulen betrachten Eltern oft als Ressourcen, die sie nur bei Bedarf miteinbeziehen können. Die Eltern berufen sich heute auf erweiterte Mitspracherechte, weshalb Schulen auf die Eltern zugehen und eingehen müssen – nicht in dem Sinne, dass Eltern den Unterricht oder die Notengebung mitbestimmen können. Aber die Schule muss mit ihnen ein Einverständnis erzielen. In Bezug auf den Medienkonsum heisst das: Schule und Eltern sollten eine gemeinsame Einstellung vertreten, welche Medien zulässig sind und wie der Medienkonsum der Kinder stattfinden kann. Es gilt zu klären, was die Eltern tun können und was die Schule dazu beitragen kann. Das ist allerdings leicht gesagt und schwer getan.
Ende Teil 1 des Interviews.