19. April 2024
Arbeitszeit der Lehrkräfte

“Keine faulen Säcke” – So geht es nicht weiter mit der Arbeitszeit von Lehrern

Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in Deutschland nach einem 150 Jahre alten System, das in der Praxis zu 50-Stunden-Wochen führt. Von den zuständigen Bundesländern werden die Überstunden weder erfasst noch bezahlt. “Unser Arbeitszeitmodell fördert nicht nur Überlastung, es ist auch ineffizient”, sagt Bildungsexperte Mark Rackles. Andere Länder zeigen, dass es auch anders gehe. Wir publizieren einen Bericht, der im ntv erschienen ist. Mit Mark Rackles sprach Hubertus Volmer.

ntv.de: Sie schreiben in einer Studie für die Deutsche Telekom Stiftung, das geltende Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte fördere “eine chronische Überlastung der Beschäftigten”. Sind Lehrer gar nicht “faule Säcke”, wie ein gewisser Altkanzler mal sagte?

Mark Rackles: Das sind Prototypen von Vorurteilen, die sich lange halten. Deswegen sollte man darauf vertrauen, was die Wissenschaft erforscht. In den vergangenen Jahren gab es viele Studien, die untersucht haben, wie viel Lehrkräfte tatsächlich arbeiten. Im Schnitt ist das deutlich mehr, als sie tariflich müssten. Das ist inzwischen empirisch nachgewiesen und auch nicht wirklich strittig.

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder: Lehrer sind faule Säcke.

Gibt es Zahlen, wie viele Wochenstunden eine Lehrerin mit einer vollen Stelle im Schnitt arbeitet?

Das Soll der Arbeitszeit einer Lehrkraft liegt, je nach Bundesland, bei ungefähr 40 bis 41 Stunden. Das ist die tarifliche Arbeitszeit für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst. Wenn man die Arbeitszeit der Lehrkräfte umrechnet auf die Unterrichtswochen, dann landen sie bei 47 Stunden pro Woche. Dazu kommen im Schnitt noch drei bis vier Überstunden, sodass sie rund 50 Stunden pro Woche arbeiten.

Überstunden sind im bestehenden System unbezahlbar, da sie nicht erfasst werden.

Gilt das auch, wenn man berücksichtigt, dass Schulferien länger sind als die in Deutschland für Angestellte üblichen 28 Urlaubstage?

Ja. Lehrer sind alles andere als faule Säcke.

Und die Überstunden sind unbezahlt.

Die sind im bestehenden System unbezahlbar, da sie nicht erfasst werden.

In keinem anderen Bereich des öffentlichen Dienstes und ab einer bestimmten Gehaltsstufe auch in keinem privaten Unternehmen würden Beschäftigte so viele unbezahlte Überstunden machen. Warum nehmen Lehrerinnen und Lehrer das hin?

Grundlage der Arbeitsorganisation an Schulen ist ein uraltes System aus dem 19. Jahrhundert, das nie an die Erfordernisse der modernen Pädagogik angepasst wurde. Wirklich festgeschrieben ist in diesem System nur die Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche, die eine Lehrkraft zu erteilen hat, an Gymnasien beispielsweise, je nach Bundesland, 23 bis 27 Unterrichtsstunden, an Grundschulen 27 bis 28,5 Unterrichtsstunden. Alles andere bleibt unbestimmt und hängt davon ab, wie eine Lehrkraft die Arbeit wahrnimmt.

Ihrer Studie kann man entnehmen, dass es eine hohe Teilzeitquote gibt, vor allem in den westlichen Bundesländern. Liegt das an der Arbeitsüberlastung oder daran, dass Lehrkräfte, vielleicht vor allem Lehrerinnen, mehr Zeit für ihre Familien haben wollen?

Wahrscheinlich ist es eine Mischung. Gerade im Grundschulbereich kann man beobachten, dass viele Lehrerinnen in Teilzeit arbeiten. Aber aus der Fachgewerkschaft, der GEW, hört man immer wieder, dass Lehrkräfte sagen, unter den gegebenen Bedingungen müssten sie auf 70 bis 80 Prozent reduzieren, um den Job vernünftig machen zu können. Das bedeutet in der Praxis, dass eine faktische Vollzeitstelle nur zu 70 bis 80 Prozent bezahlt wird. Ich bin sehr sicher, dass viele Kolleginnen und Kollegen bereit wären, in eine Vollzeitstelle zu wechseln, wenn der Druck ein wenig reduziert würde.

Mark Rackles war von 2011 bis 2019 Staatssekretär für Bildung in Berlin und bis 2018 Vizechef der SPD in Berlin. Nach seinem Ausstieg aus der Politik gründete er eine Beratungsagentur.

Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat auf den Lehrkräftemangel damit reagiert, dass Lehrerinnen und Lehrer eine Stunde mehr unterrichten müssen. Diese zusätzliche Stunde kann man sich auszahlen lassen oder auf einem Arbeitszeitkonto sammeln und ab dem Schuljahr 2033/34 abbauen. Was halten Sie davon?

Alles, was unter Zwang läuft, ist im bestehenden System ein Rohrkrepierer und ein Schuss ins Knie. Ein Arbeitgeber sollte die Arbeitszeit seiner Beschäftigten kennen, gerade dann, wenn diese länger arbeiten sollen. Im bestehenden System ist die tatsächliche Arbeitszeit der Lehrkräfte aber völlig unklar. Deswegen ist es so unfair, ihnen eine Unterrichtsstunde Mehrarbeit zu geben. Dazu kommen ja noch die Vor- und Nachbereitungszeiten. Das ist hoch unseriös und wird eher dazu führen, dass noch mehr Lehrkräfte in die Teilzeit gehen oder den Job wechseln. Und mehr Lehrkräfte wird man so auch nicht gewinnen.

Was ist Ihr Alternativmodell?

Es ist nicht meines – es gibt praktizierte Arbeitszeitmodelle in anderen Ländern. Österreich, die Schweiz oder Dänemark etwa haben sogenannte Jahresarbeitszeitmodelle. Die erfassen nicht nur die wöchentlichen Unterrichtsstunden, sondern sie legen fest, welche Arbeitszeit eine Lehrkraft insgesamt pro Woche zu erbringen hat. Als einziges Bundesland macht das vom Prinzip her Hamburg. Auch da ist nicht alles ideal, aber das Grundprinzip, auf die Jahresarbeitszeit zu gehen und daraus eine wöchentliche Arbeitszeit zu errechnen, die alle Tätigkeiten erfasst, das ist meines Erachtens sinnvoll. Das muss man aber mit einer Entlastung verbinden. Im internationalen Vergleich haben wir in Deutschland für Lehrkräfte hohe Arbeitszeiten, aber geringe Unterrichtszeiten. Österreich beispielsweise hat eine ähnlich hohe Jahresarbeitszeit, hat aber 100 Stunden mehr vor der Klasse. Das heißt: Unser Arbeitszeitmodell fördert nicht nur Überlastung, es ist auch ineffizient.

Was für Aufgaben sind es, die außerhalb des Unterrichts stattfinden?

Die größten Belastungsfaktoren stecken im bürokratischen Aufwand, im Erfassen von Daten. Warum muss eine teuer bezahlte Lehrkraft so etwas tun, warum muss sie Aufsichten machen? In anderen Ländern machen das Assistenzlehrkräfte oder Studierende.

In Deutschland gibt es fast eine Million Lehrkräfte, mit den Angehörigen reden wir hier von zwei bis drei Millionen Menschen, die direkt von der Arbeitszeit von Lehrkräften betroffen sind.

Sollte Arbeitszeit Ihrer Meinung nach auch je nach Fach neu verteilt werden?

Da wäre ich vorsichtig, denn dann riskiert man, Konflikte in die Kollegien zu tragen. Ich würde lieber unterscheiden nach den Schulstufen: Dass die Zeit, die eine Lehrkraft für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts aufwendet, mit dem Alter der Schülerinnen und Schüler zunimmt, ist wissenschaftlich nachgewiesen. Aber das sind Feinheiten, die man mal in einem Modellprojekt prüfen müsste.

Warum ist das Thema überhaupt wichtig? Warum sollten sich Leute für die Arbeitszeit von Lehrkräften interessieren, die selbst nicht Lehrerinnen oder Lehrer sind?

Es geht um sehr viele Menschen: In Deutschland gibt es fast eine Million Lehrkräfte, mit den Angehörigen reden wir hier von zwei bis drei Millionen Menschen, die direkt von der Arbeitszeit von Lehrkräften betroffen sind. Und natürlich hängt die Qualität des Unterrichts ganz unmittelbar von Motivation, Selbstbild und Stresslevel der Lehrkräfte ab, und das wiederum betrifft zehn Millionen Schülerinnen und Schüler mit ihren Familien. Wenn man sich um diese Stellschraube nicht kümmert, dann darf man sich nicht wundern, wenn wir bei Pisa, IGLU und Co. keine guten Plätze erreichen.

Das geltende Arbeitszeitmodell ist 150 Jahre alt.

Ist das Thema der Arbeitsbelastung und der Arbeitszeit von Lehrkräften bei den Schulministern in Deutschland angekommen?

Angekommen ist es, spätestens seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom letzten September. Die Kultusministerkonferenz hat auch brav eine Arbeitsgruppe gebildet, da wird es im Laufe des Jahres vermutlich eine Stellungnahme geben. Aber gleichzeitig haben die Bildungsminister kein großes Interesse, das Thema aufzugreifen, denn sie profitieren ja von diesen unbestimmten Arbeitszeiten. Wenn die Lehrerinnen und Lehrer anfingen, ihre tatsächliche Arbeitszeit aufzuschreiben, dann würde deutlich, dass wir 20.000 bis 25.000, vielleicht bis zu 30.000 zusätzliche Lehrkräfte brauchen. Das kommt noch drauf auf den Mangel, den wir sowieso haben. Aber aus meiner Sicht muss das passieren, wenn dieser Job wieder interessant für Anfänger werden soll und wenn man Leute motivieren will, aus der Teilzeit in Vollzeit zu gehen.

Ich habe die Hoffnung, dass das Arbeitszeitmodell nicht weitere 150 Jahre Bestand haben wird.

Sie waren einige Jahre Staatssekretär für Bildung im Berliner Senat. Wir haben mit dem Klischee von den faulen Lehrern angefangen – unter Lehrkräften gibt es das Klischee der unfähigen Schulverwaltungen, von den lokalen Behörden bis hoch zu den Ministerinnen und Ministern. Wie unfair ist dieses Urteil?

Als Staatssekretär habe ich gelernt, wie falsch das Vorurteil der faulen Lehrerinnen und Lehrer ist. Vielleicht sollten auch die Lehrkräfte akzeptieren, dass Menschen, die politische Verantwortung haben, im Regelfall nicht bösartig sind. Vielleicht unbeholfen, aber von Unfähigkeit würde ich nicht sprechen. Wir haben in Deutschland mit dem Föderalismus und der Kultusministerkonferenz ein komplexes System, das sehr träge ist und jedem erlaubt, sich aus der Verantwortung zu ziehen, denn wenn alle verantwortlich sind, ist keiner verantwortlich. Dieses System müsste man ändern. Es kommt vor, dass man Ministerinnen und Minister zum Jagen tragen muss. Aber ich habe die Hoffnung, dass das Arbeitszeitmodell nicht weitere 150 Jahre Bestand haben wird.

Mit Mark Rackles sprach Hubertus Volmer

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