Eigentlich sollte es das zentrale Projekt der Ampel-Regierung werden, um mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung zu erreichen. Doch jetzt droht das lange erwartete „Startchancenprogramm“, mit dem 4000 Brennpunktschulen zehn Jahre lang mit einer Milliarde Euro pro Jahr vom Bund gefördert werden sollen, schon vor dem Start im Schuljahr 2024/25 im Hickhack zwischen Bund und Ländern zerrieben zu werden.
Seit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) vergangene Woche ohne Abstimmung mit den Kultusministern der Länder ein Eckpunktepapier für das Programm vorlegte, ist offener Streit ausgebrochen. „Mit seinem einseitigen Vorpreschen verhält sich der Bund wie der Elefant im Porzellanladen“, schimpft Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU). „Es kann nicht sein, dass die Länder aus der Zeitung erfahren müssen, wie der Bund sich das Konzept zum Startchancenprogramm vorstellt“, sagt Piwarz WELT. „Ich rufe den Bund zur Besinnung und zur Rückkehr auf den konstruktiven, gemeinsamen Verhandlungsweg auf.“
Startchancen-Programm auf kommunikativen Abwegen
Auf die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU), warten jetzt komplizierte Verhandlungen. Zentrale Streitpunkte sind zum einen die Verteilung der Mittel an die Länder und zum anderen die vom Bund geforderte Co-Finanzierung. Nach dem Eckpunktepapier des Bundesbildungsministeriums sollen die Länder die Zuwendungen des Bundes in gleicher Höhe mitfinanzieren. Statt einer Milliarde Euro im Jahr sollen also insgesamt zwei Milliarden Euro über das Startchancenprogramm an die 4000 ausgewählten Brennpunktschulen fließen.
Zentrale Streitpunkte sind zum einen die Verteilung der Mittel an die Länder und zum anderen die vom Bund geforderte Co-Finanzierung.
Für die Länder enthält das Papier aber einen entscheidenden Haken. Denn Stark-Watzinger besteht darauf, dass bereits bestehende Programme der Länder wie etwa die „Talentschulen“ in NRW oder die „Perspektivschulen“ in Schleswig-Holstein beim neuen Programm nicht als Eigenleistung angerechnet werden dürfen. „Bestehendes Engagement darf nicht durch das Startchancen-Programm substituiert werden, damit mit dem Programm zusätzliche Effekte im System erzielt werden können“, heißt es dazu in dem Papier. Eine harte Nuss vor allem für die Länder, die sich bereits jetzt überdurchschnittlich engagieren.
Zweiter Knackpunkt ist die Verteilung der Mittel an die Länder. Stark-Watzinger besteht darauf, dass sie nicht mit der Gießkanne, sondern nach Bedürftigkeit vergeben werden. Der Ministerin schwebt eine Verteilung nach Sozialindizes vor: Zu 40 Prozent soll der Anteil der Schüler zugrunde gelegt werden, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, zu 40 Prozent die Armutsgefährdungsquote und zu 20 Prozent das negative Bruttoinlandsprodukt. So soll erreicht werden, dass mehr Geld bei tatsächlich sozial benachteiligten Schülern ankommt. Profiteure wären also eher die Bundesländer mit schwieriger Sozialstruktur.
„Bund hat keine Fachkompetenz“
Viele Punkte in dem Konzept sind noch in eckige Klammern gesetzt – ein Hinweis darauf, dass hier noch Verhandlungsmasse ist. Dennoch sorgte das Papier bei den Kultusministern für Empörung. Denn die Länder haben ihrerseits ebenfalls in monatelanger Arbeit an einem Eckpunktepapier gearbeitet, in dem sie sich auch auf einen Verteilmechanismus geeinigt haben. Danach sollen 95 Prozent nach dem üblichen Königsteiner Schlüssel verteilt werden, der sich nach der Einwohnerzahl und den Steuereinnahmen richtet, und fünf Prozent in einen „Solidarfonds“ fließen. Ein Vorschlag, der bei Bildungswissenschaftlern einhellig auf Kritik stieß. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger, bezeichnete den Solidarfonds gar als „läppisch“.
“Es kann nicht sein, dass wir unsere eigenen Programme im Zuge des Startchancen-Programms zurechtkürzen müssen.”
Die Länder wiederum sind schwer verstimmt, dass ihre Vorschläge in das Eckpunktepapier keinen Eingang gefunden haben – und sie überdies erst aus den Medien davon erfahren haben. „Der Bund hat keine Fachkompetenz in Sachen Bildung, das zeigt sich in vielen Details des Vorschlages, den die Presse bekam, noch bevor die Länder ihn kannten“, sagt Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU). „Den Vorschlag von Frau Stark-Watzinger kann man aktuell nur so zusammenfassen: zu spät, zu wenig und zu bürokratisch.“
Eine Co-Finanzierung von 50 Prozent durch die Länder komme „unter keinen Umständen in Betracht“, sagt Prien WELT. „Die Länder finanzieren schon jetzt 90 Prozent der Bildung. Es kann nicht sein, dass wir unsere eigenen Programme im Zuge des Startchancen-Programms zurechtkürzen müssen. Das ist, als würden wir einen gut laufenden Motor auseinandernehmen, um dann aus den Teilen etwas zusammenzuschrauben, von dem wir jetzt schon wissen, dass es stottert, rattert und nicht funktioniert.“
Harte Kritik kommt auch aus Sachsen. Dort stößt man sich vor allem daran, dass das Konzept so stark auf den Migrantenanteil abstelle. Diese Sichtweise verkürze die Realität und sei für den Freistaat nicht akzeptabel, heißt es aus dem Bildungsministerium.
Migrationshintergrund und Sozialhilfebezug seien nur zwei von vielen Kriterien, an denen sich erschwerte Ausgangslagen festmachen ließen, sagt eine Sprecherin. „Soziale Benachteiligung in den ostdeutschen Ländern ist auch bedingt durch demografische Faktoren und Strukturwandel, belastend sind zudem Nachwirkungen von Transformationsprozessen.“ Die ostdeutschen Länder mit ihren spezifischen Problemlagen insbesondere in den ländlichen Regionen dürften deshalb bei der Verteilung „nicht systematisch hinten runterfallen“.
Scherben einsammeln und Vertrauensverhältnis kitten
KMK-Präsidentin Günther-Wünsch kündigt an, jetzt schnell mit Stark-Watzinger das Gespräch zu suchen. „Meine Aufgabe ist es jetzt, die Scherben wieder einzusammeln und das Vertrauensverhältnis wieder zu kitten. Das übergeordnete Ziel ist es, das Startchancenprogramm 2024 zum Laufen zu bringen.“
Ein Sprecher des Bundesbildungsministeriums sagt dazu, in das Konzeptpapier seien Empfehlungen aus Wissenschaft und Praxis ebenso eingeflossen wie die Erfahrungen aus den Ländern. „Der Vorschlag hat viel Zuspruch erhalten und dient nun als Grundlage für Verhandlungen mit den Ländern.“
“Das Grundgesetz verpflichtet zu gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland, die Chancen sind aber maximal unterschiedlich verteilt.”
Rückenwind erhält Stark-Watzinger von Bildungspolitikern der Ampel-Koalition. Ria Schröder, bildungspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, nannte das Konzept gar einen „Meilenstein für mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland“. „Insbesondere die Abkehr vom Königsteiner Schlüssel ermöglicht den zielgerichteten Einsatz von Mitteln, da wo sie am meisten benötigt werden“, so Schröder.
Das Grundgesetz verpflichte zu gleichwertigen Lebensbedingungen in ganz Deutschland, die Chancen seien aber maximal unterschiedlich verteilt. „Statt politischem Klein-Klein und billiger Polemik sollten die Länder konstruktiv mit dem Bund und den Kommunen zusammenarbeiten.“