Der Fachkräftemangel im deutschen Bildungssystem ist enorm. Die Kultusministerkonferenz prognostiziert, dass bis zum Jahr 2025 rund 25.000 Lehrkräfte fehlen werden. Der Lehrerverband hält das für untertrieben: Präsident Heinz-Peter Meidinger zufolge liegt die Zahl der unbesetzten Stellen bereits jetzt zwischen 32.000 und 40.000. Was tun?
Mit früher Verbeamtung locken, mit Umzugspauschale, mit höheren Gehältern? Die Deputate aufstocken, die Klassen vergrößern, mehr Online-Unterricht anbieten? Keine der Ideen, die derzeit öffentlich diskutiert werden, scheint das grundsätzliche Problem zu lösen: Zu wenige junge Menschen wollen Lehrer werden. Wie sieht das in anderen Ländern aus? Ein Überblick.
Frankreich: Über 4000 Stellen konnten nach landesweiten Aufnahmeprüfungen ins Lehramt nicht besetzt werden.
Frankreich
Die Lage an den Schulen ist angespannt – und das seit Jahren. Hauptgrund für den chronischen Lehrermangel ist die miserable Bezahlung. Im Durchschnitt verdienen die Pädagogen in unserem Nachbarland nur die Hälfte ihrer deutschen Kollegen. Das soll sich ändern. „Kein Lehrer wird seine Karriere mehr mit einem Nettogehalt von unter 2000 Euro beginnen“, versprach Präsident Emmanuel Macron. Ein „Pakt für die Lehrenden“ soll außerdem Honorare für Zusatzleistungen ermöglichen.
Die schlechte Bezahlung hat auch Auswirkungen auf das Ansehen der Lehrer. In einer Vergleichsstudie von 2018 geben nur sieben Prozent der französischen Lehrkräfte an, „angemessene gesellschaftliche Anerkennung“ zu bekommen, während der OECD-Durchschnittswert bei einem Viertel liegt.
Zu Schuljahresbeginn im Herbst fehlten an weit über der Hälfte der Schulen Lehrkräfte. Über 4000 Stellen konnten nach landesweiten Aufnahmeprüfungen ins Lehramt nicht besetzt werden. Die Akademie von Versailles veranstaltete daraufhin sogenannte job datings, bei denen innerhalb von nur einer halben Stunde Aushilfskräfte rekrutiert wurden.
Sie müssen ihre Karriere in der Regel in Vorstädten beginnen, wo die Arbeitsbedingungen wegen der mangelnden sozialen Durchmischung hart sind.
Der Beruf ist für junge Menschen nicht nur wegen des Gehaltes unattraktiv, sondern auch wegen der eingeschränkten Mobilität. Sie müssen ihre Karriere in der Regel in Vorstädten beginnen, wo die Arbeitsbedingungen wegen der mangelnden sozialen Durchmischung hart sind. „Wir glauben, dass die Bedingungen für besondere Attraktivität geschaffen werden müssen und den Rektoren in Sachen Zulagen mehr Manövrierfähigkeit gelassen werden muss“, sagt Pierre Moscovici, Präsident des französischen Rechnungshofes, der eine Reform der Lehrerausbildung fordert, um den Beruf attraktiver zu machen.
Macron, dessen Ehefrau Brigitte Lehrerin war, hatte bei Amtsantritt 2017 grundlegende Änderungen versprochen. In sozialen Brennpunkten wurde die Klassenstärke an Grundschulen halbiert. Die schlechten Bedingungen an öffentlichen Schulen und der häufige Unterrichtsausfall führen jedoch dazu, dass Gutverdiener ihre Kinder immer häufiger auf Privatschulen schicken. Martina Meister
Italien
Auch Italien kann beim Lehrerberuf nicht als Vorbild für Deutschland dienen: Rom zahlt seinen Lehrern in der Grundschule mit rund 36.000 Euro jährlich bei 15 Jahren Berufserfahrung nicht nur eines der niedrigsten Gehälter Westeuropas. Auch der Einstieg in den Beruf ist oft prekär: Anwärter arbeiten jahrelang mit Verträgen, die auf ein Schuljahr befristet sind und beziehen im Sommer Arbeitslosengeld, bevor sie fest eingestellt werden.
Quelle: Infografik WELT
Trotzdem gibt es viele Bewerber, weil Lehrer verbeamtet werden und vielen Italienern die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes über alles geht. Dass trotz dieser Umstände zu Schulbeginn oft Pädagogen fehlen – im September 2022 waren es landesweit rund 200.000 –, liegt wiederum daran, dass sich die öffentlichen Bewerbungs- und Einstellungsrunden wegen zu viel Bürokratie in die Länge ziehen. Einspringen müssen dann wieder die befristeten Lehrkräfte. Virginia Kirst
Dänemark Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.
Dänemark
Auch Deutschlands nördlicher Nachbar Dänemark spürt den Lehrermangel heute schon – und es soll noch dramatischer werden. Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. Schon heute haben etliche Lehrkräfte an den öffentlichen Grundschulen in Dänemark keine Lehrerausbildung. Frisch ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer verlassen die Schulen oft schon nach wenigen Jahren wieder – und geben häufig die Arbeitsbedingungen als Grund an. Dabei ist zumindest das Gehalt im europäischen Vergleich gut: Zum Einstieg verdienen Lehrkräfte etwas mehr als 4000 Euro im Monat.
Um den Lehrermangel zu bekämpfen, will die Regierung unter anderem die Ausbildung verbessern. Das Ziel: mehr Praxis-Erfahrung, mehr Qualität in der Lehre und in der Fortbildung. Der neue dänische Unterrichtsminister Mattias Tesfaye will für die Schulen auch mehr Geld in die Hand nehmen – und meint damit nicht die Ausstattung mit iPads und Smartboards. Im Gegenteil hat Tesfaye die dänischen Schulen vor Kurzem dazu aufgerufen, den Unterricht wieder analoger zu gestalten. Die Digitalisierung habe den Schulunterricht einförmiger gemacht, beklagt auch der dänische Lehrerverband – und damit nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für deren Lehrkräfte uninteressanter. Julia Wäschenbach
Großbritannien
Rishi Sunak hat Großes vor. Um die Wirtschaft anzukurbeln, will der britische Premier den Mathematikunterricht bis zum 18. Lebensjahr verpflichtend machen. Das Problem: Das Schulsystem steckt in der Krise. Staatliche Einrichtungen sind seit Jahren unterfinanziert, das Land leidet an einem akuten Lehrermangel. Nach Angaben der National Foundation for Educational Research wird die Regierung in diesem Monat weniger als die Hälfte ihres Einstellungsziels von 26.000 Sekundarlehrern erreichen.
Das liegt vor allem an der schlechten Bezahlung. Die Gehälter in England sind nach Angaben des Instituts zwischen 2010 und 2022 um durchschnittlich elf Prozent gesunken. Derzeit verdient ein Lehrer zwischen 28.000 und 38.810 Pfund (umgerechnet zwischen 32.000 und 44.100 Euro) pro Jahr.
Im März hatten die britischen Lehrergewerkschaften ein Angebot der Regierung abgelehnt: Eine Gehaltsanpassung um rund 4,3 Prozent und eine Einmalzahlung von 1000 Pfund (rund 1140 Euro). Neue Verhandlungen sind nicht geplant. Elle Crossley, Ökonomin am Center for Economics and Business Research, schätzt die verlorene Wirtschaftsleistung von Lehrern und Universitätsmitarbeitern durch Streiks in diesem Jahr auf 270 Millionen Pfund (307 Millionen Euro).
Sunaks Rechnung scheint nicht aufzugehen. Politiker-Berater Sam Freedman schrieb auf Twitter: „Wenn du Tausende Mathematiklehrern zu wenig + die Reallöhne 13 Jahre lang gekürzt hast + eine Richtlinie einführst, die Tausende mehr Mathematiklehrer erfordert, wie wahrscheinlich ist ein Gelingen?“ Mandoline Rutkowski
Polen: Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.
Polen
93 Prozent aller Lehrkräfte in Polen wollen in den Vorruhestand gehen können. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Fachzeitschrift „Glos Nauczycielski“. Das liegt vor allem daran, dass polnische Lehrer in der Regel nur wenig verdienen. Ein Lehrer der Grundstufe zum Beispiel verdient durchschnittlich 4432,15 Zloty, umgerechnet weniger als tausend Euro, monatlich – und zwar brutto. Bei Lebenshaltungskosten in den Großstädten, die vergleichbar mit denen in Deutschland sind, ist das ein Hungerlohn. Dennoch ist die Zahl der Lehrer in Polen in den vergangenen Jahren leicht gestiegen. Einer Analyse der dänischen Fachhochschulen zufolge könnten dem Land 2030 rund 13.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.
Und die Schüler? Die liefern seit Jahren Spitzenleistungen. Laut Pisa-Studie belegen polnische Schüler in den Disziplinen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften weltweit die Plätze fünf oder sechs.
Für viele Polen ist der Lehrerberuf trotz der überschaubaren Bezahlung attraktiv. Im Vergleich zu Deutschland gibt es innerhalb der Schulen nämlich viele Aufstiegsmöglichkeiten, das Bildungswesen ist gut digitalisiert, was die Arbeit erleichtert.
Und die Schüler? Die liefern seit Jahren Spitzenleistungen. Laut Pisa-Studie belegen polnische Schüler in den Disziplinen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften weltweit die Plätze fünf oder sechs. Davon kann Deutschland nur träumen. Philipp Fritz