Im Kanton Bern unterrichtet jede zehnte Lehrperson ohne ausreichendes Diplom. Fast 750 Lehrstellen sind aktuell im Kanton Zürich offen, über 220 Stellen im Luzernischen neu zu besetzen. 226 Lehrerinnen und Lehrer verliessen 2022 die Schwyzer Volksschule, so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal ist akut. Allein von den Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sind 60 Prozent nicht genügend qualifiziert. Die Problematik verschärft sich. Darum können auch Personen ohne pädagogisches Studium unterrichten. Ein Fakt mit Folgen für die Unterrichtsqualität.
Der Kernauftrag hat sich massiv erweitert
Ausgebildet werden genügend Lehrerinnen und Lehrer. Das weiss man. Doch viele fliehen in Teilpensen oder verlassen das Schulzimmer bald einmal. Die Gründe sind längst bekannt, die Belastungsfaktoren vielfach genannt: Der Beruf an sich bereitet Freude; die Arbeit mit den Kindern erfüllt mit Sinn. Doch verhaltensauffällige Schüler belasten den Alltag enorm. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum. Das erschwert den Unterricht und erhöht den Zeitbedarf fürs einzelne Kind. Die Koordinationsabsprachen mit all den Betreuungspersonen sind anspruchsvoll; der administrative Aufwand steigt. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Das geht auf Kosten des Kernauftrags Unterricht. Und diese Aufgabe hat sich über die Fächerfülle massiv erweitert.
Die Belastungsfaktoren liegen offen
Dazu kommt Äusseres: Die intensive Reformwelle der vergangenen Jahre erhöht die Ansprüche an die Schule und damit die Widersprüche im Unterrichtsalltag; gleichzeitig nimmt die Wertschätzung aus Politik und Elternhaus ab. Vielerorts stagniert der Lohn.
All das ist längst offengelegt. Man kennt die Kernursachen des Lehrermangels, man weiss um die Motive des Berufsausstiegs – und doch werden noch immer Befragungen durchgeführt. Jüngstes Beispiel ist der Kanton Luzern. Die Dienststelle Volksschulbildung liess über das Büro Barbara Häring GmbH, Zürich, einen detaillierten Bericht zum „Lehrpersonenmangel“ erarbeiten.[1] Verfasst hat ihn der Politologe Hans-Martin Binder. Er umfasst 64 Seiten und resümiert eine Umfrage bei rund 3‘000 Lehrerinnen und Lehrern.
Die Flucht aus dem Schulzimmer liegt im Systemischen
Die Studie zeitigt kaum Neues. Sie nimmt die Stimmen der Lehrer auf und bündelt sie in Tabellen und Grafiken. Der Tenor ist allseits bekannt. Vieles bleibt so an der Oberfläche: anspruchsvoller und aufreibender Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern sowie Zeitmangel für den Kernauftrag Unterrichten, kompliziertes Lohnsystem und abnehmendes Berufsprestige.
Die eigentliche Ursache für den Exodus aus dem Schulzimmer aber liegt im Systemischen. Davon ist nicht die Rede. Die Innovationskaskade der vergangenen Jahre hat die Schule radikal verändert. Die vielen Reformen erfolgten wenig koordiniert, meist additiv und kaum aus einer Gesamtsicht heraus. Sie muten an wie eine hektische Flucht in zusätzliche Fächer und Vorschriften, in Strukturen und Formalitäten. Nach dem Ziel der Schule wurde kaum gefragt.
Unterrichten ist ein Geschehen mit Widersprüchen
Das pädagogische Geschehen im Klassenzimmer ist ein anspruchsvoller dialektischer Prozess. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das: Widersprüche aushalten, beispielsweise gleichzeitig Empathie und Widerstand zeigen; die Kinder verstehen und doch nicht mit allem einverstanden sein. Achtsam sein und gleichzeitig Disziplin verlangen, das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben.
Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Ordnung; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen Individuation und Sozialisation, zwischen kultureller Integration und Vermitteln von Lerninhalten sowie Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns.
Jeder Wert hat einen ‹gleich-gültigen› Gegenwert
Schule – ein widersprüchliches Feld mit manchen mehrdeutigen Zielen. Statt die Zielvorstellungen zu klären, haben Bildungspolitik und -verwaltung der Schule in den vergangenen Jahren stets Neues aufgeladen: zusätzliche Fächer und Aufgaben, vermehrte Vorgaben und Vorschriften, eine forcierte externe Kontrolle über die Output-Steuerung, vervielfachte Heterogenität über die Integration und Inklusion. Das verstärkt die eh schon immanenten Widersprüche im pädagogischen Parterre. Ein Beispiel: Wenn über Frühenglisch und Frühfranzösisch auf der Inhaltsachse x zusätzliche Fächer aufgebürdet werden, reduziert sich auf der Gegenachse y die Zeit fürs Festigen. Wissen und Können aufbauen aber braucht Zeit. Doch die zwei Fremdsprachen rauben Übungszeit; sie fehlt dann anderorts, vor allem im Fach Deutsch.
Im dialektischen Spannungsfeld hat eben jeder Wert einen ‹gleich-gültigen› Gegenwert. Das Eindeutige gibt es kaum.
Wichtig wäre ein gesundes Gleichgewicht. Im dialektischen Spannungsfeld hat eben jeder Wert einen ‹gleich-gültigen› Gegenwert. Das Eindeutige gibt es kaum. Der Empathie wird als ihr dialektischer Gegenpart das positive Konfrontieren zugeordnet, dem selbstorientierten Lernen das helfende Begleiten.
Jede Form von Eindeutigkeit negiert die Gegenseite. Irgendwann kippt’s; dem können wir uns nicht entziehen. Entscheidend ist die Balance. Das gilt ganz besonders für die Schule.
Konkret: So viel Selbständigkeit der Lernenden wie möglich, so viel Unterstützung durch die Lehrperson wie nötig. Gegensätzliche Werte wie Nähe und Distanz sind ineinander verwoben. Eine polare Spannung hält sie zusammen. Wird der eine Wert maximiert, so reduziert sich der andere, der Gegenwert. Beide lassen sich nicht gleichzeitig maximieren. Die verstärkte Heterogenität beispielsweise führt zur Reduktion von Effizienz und Verbindlichkeit. Das ist keine Ideologie, sondern schlichte Proportionenrechnung, oder anders gesagt: Jede Form von Eindeutigkeit negiert die Gegenseite. Irgendwann kippt’s; dem können wir uns nicht entziehen. Entscheidend ist die Balance. Das gilt ganz besonders für die Schule.
Teure Symptombekämpfung statt Ursachenanalyse
Die Reformen der vergangenen Jahre tragen zu viel Zielwidersprüchliches in sich; in vielem ist die Balance verloren gegangen. Das bringt Schule und Unterricht in Atemnot. Hier liegt eine der Kernursachen für die Flucht aus dem Schulzimmer. Und diese Widersprüche müsste eine verantwortungsvolle Bildungspolitik aufzeigen und angehen.
Stattdessen begnügen sich Bildungsstäbe meist mit Kosmetik. Sie bekämpfen die Symptome. In Luzern mit einem attraktiveren Stellenportal und einem neuen Lohnmodell, mit einem CAS-Lehrgang für den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und einer zusätzlichen Kommission. Wirksame Reformen aber sehen anders aus. Sie müssten dringend angegangen werden, wenn der Lehrermangel behoben werden will. Leidtragende sind sonst die Schulkinder.
[1] https://volksschulbildung.lu.ch/-/media/Volksschulbildung/Dokumente/index/Aktuelles/bericht_lp_mangel_kt_luzern.pdf [abgerufen: 31.03.2023]