Ganze Generationen gingen einst zu den gleichen Lehrerinnen und Lehrern in den Unterricht: zu Fräulein Alfonsa Moos im Zuger Burgbachschulhaus beispielsweise oder zum legendären Lehrer Miran Meyer im Neustadt. Pädagogische Konstanten über Jahre und Jahrzehnte. Ausdruck von Stabilität. Jedermann wusste, welche Werte sie vertraten und wofür sie einstanden. Wandel war wenig, weder gesellschaftlich noch pädagogisch.
Aufwachsen in einer engen Welt
Aufwachsen in der katholisch-tridentinisch geprägten Welt der Kleinstadt Zug hiess gross werden im manichäischen Weltbild von gut und böse, fleissig und faul, korrekt und nonkonform, immer auch belastet mit dem bleischweren Gewicht der Sünde. Nur keine unkeuschen Gedanken!, lautete das priesterliche Verdikt – mit dem Strafgericht Gottes als finaler Drohung. Das Weltgericht über dem Chorbogen in der Stadtzuger St. Oswaldskirche – das imposante “Jüngste Gericht” des Malers Melchior Paul von Deschwanden – wies den Weg: hier die Gottesfürchtigen, dort die Sündigen.
Die Hierarchie von Himmel, Fegefeuer und Hölle war gottgegeben. Wir wussten genau, warum wir auf der Welt waren. Der Katechismus deklarierte es, auswendig deklamierten wir es: “Wir sind auf der Erde, um Gott zu gefallen, ein anständiges Leben zu führen und einmal in den Himmel zu kommen.” Katechismuswahrheit als Leitwert für den Alltag.
Die Kirchenglocken gaben den Ton an
Die Zeit der 50er- und der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts war eine geschlossene, mental und soziokulturell homogene Welt. Ein Leben fast nach dem Rhythmus der Kirchenglocken. Sie läuteten nicht nur, sie gaben auch den Ton an – und setzten damit Werte und Normen. Religion und Tradition prägten den Alltag. Der sonntägliche Messbesuch war wie Militärdienst: obligatorisch. Und in dieser gefestigten, wohl geordneten Welt galt die Lehrerin, der Lehrer als Inkarnation fachlicher und pädagogischer Autorität. Ihr Sozialprestige war hoch und intakt – fast auf der Stufe des Stadtpfarrers, nur wenig unter dem Chefarzt des Bürgerspitals. Man glaubte und vertraute ihnen; kein Zweifel störte. Warum auch? Die Schule war unbestrittene Bastion von Zucht und Erziehung. Niemand klopfte an die Schultür, kaum jemand reklamierte und verlangte Neues. Inhalte und Lehrbücher veränderten sich nur wo wirklich nötig. Die Wiederkehr des Gleichen war das Grundmuster des damaligen Lebens. Rackern und Sich-Mühen waren Pflicht, die schulischen Prinzipien so klar wie die zehn Gebote Gottes.
Im Übrigen war es die Zeit des Kalten Krieges, der Feind kam aus dem Osten. Die Welt war zweigeteilt. Man wusste, was galt; hier wie dort. Kritische, offene Auseinandersetzung? – Fehlanzeige. Entsprechend waren die Schülerinnen und Schüler die braven, gefügigen Empfänger pädagogischer Intention. Gehorchen war Gebot.
Die Schulwelt war männlich
Die Fräuleins oder die Menzinger Lehrschwestern unterrichteten die erste und zweite Klasse. Weiter brachten sie es kaum. Für die weltlichen Lehrerinnen galt im Übrigen das pädagogische Zölibat. Wollten sie heiraten, mussten sie den Lehrberuf aufgeben. Ab dem dritten Schuljahr wurde die (Schul-)Welt männlich. Nur noch Lehrer. Mit ihnen kamen neue Werte. Hierarchischer und asymmetrischer wurde das Verhältnis. Von oben blickten sie uns an, und wir schauten zu ihnen hinauf. Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben hatte, vom wirklichen Leben. Unser 3./4.-Klasslehrer, der Wandervater Fridolin Stocker, erfand das gelb markierte Netz der Schweizer Wanderwege. Jeden Freitag erklang seine Stimme auf Radio Beromünster. Das tröstete über alle didaktischen Albträume hinweg. Und der 5./6.-Klasslehrer Miran Meyer: Theaterstücke schrieb er und führte Regie. Auch hier ganz Magister und fachliche Autorität – tatenorientiert und konfrontativ.
Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben hatte, vom wirklichen Leben.
So traten beide auf, so wirkten sie, so konfrontierten sie, und so rieben wir uns an ihnen. Sie setzten sich mit uns jungen Männern leibhaft auseinander. Unbewusst inkarnierten sie für uns eine Art positiver Aggressionsvorbilder. Ihre subkutane Botschaft: “Lasst uns Männer sein!” Eben: Die Schule war männlich.
Zur Bildung stiegen wir empor
Stramm und straff begann der Tag. In Zweierkolonne standen wir ein, Knaben und Mädchen auf sichere Distanz getrennt: die Knaben beim Vordereingang des grossen Gebäudes, die Mädchen hinten. Abmarsch die Treppe hoch zur Bildung, vorbei am Lehrer durch die mächtige Tür ins Schulhaus. Symbol und Auftrag zugleich. Unsere Klasse: alle katholisch und deutschsprachig, alle grau gekleidet und die Haare kurz geschoren.
Im Schulzimmer rangierten wir nach Notendurchschnitt. Eins war die beste Note, die Fünf figurierte am Ende der Skala. Der Schüler mit dem tiefsten und besten Schnitt sass ganz hinten, derjenige mit dem höchsten Wert vorn, direkt vor dem Katheder. Zwei Ausnahmen: der Türchef und der Tafelchef – Notenschnitt Nebensache.
Jeden Morgen wartete die vielköpfige Schar auf den Lehrer. Einer horchte. War er im Anmarsch, schnellten wir hoch. Er kam, trat ein, schritt würdig zum Katheder, stieg die Stufe hoch, legte den Kittel auf die Stuhllehne. Dann blickte er in die Schülerschar und sagte militärisch knapp: “Setzen!”
Eine Schule mit fast militärischer Disziplin
48 sassen im engen Schulzimmer; mucksmäuschenstill war es. Der Lehrer auf dem Thron, wir in den Holzbänken. Er kommandierte, und wir gehorchten; er fragte, und es wurde geantwortet; er sprach “ruhig!”, und es ward still. Kein Widerspruch, kein Aufmüpfen. Die Disziplin war fast preussisch, das Turnen militärisch, die Ordnung straff. Heftführung und Aussprache, Schreiben und Rechnen hatten hohe Priorität. Dazu kamen Kantonsgeografie und Schweizer Geschichte.
Wurden wir aufgerufen und abgefragt, standen wir auf. Wer die Antwort wusste, setzte sich wieder, sonst blieb er aufrecht. Manchmal stand fast die ganze Klasse. Angst war spürbar, gar greifbar, fahle Furcht, etwas nicht zu wissen. Sie lähmte und drückte auf das Gemüt, eine Art Appetitlosigkeit der Seele.
Die Angst frass sich in uns hinein und trieb kalte Schweissperlen auf die Stirn.
Standen wir alleine vor der schwarzen Tafel, war sie wieder da, die Furcht. Wie Schiffbrüchige kamen wir uns vor, kalkbleich und allein gelassen – unfähig, über etwas nachzudenken und den andern zu erklären, was wir gelernt hatten, vergeblich bemüht, unser Gehirn zu zermartern. Die Angst frass sich in uns hinein und trieb kalte Schweissperlen auf die Stirn. Wir ertrugen es stoisch; denn wir wussten: Der Lehrer war zu allen gleich und konnte auch ganz anders sein als nur streng.
Autoritär und achtsam zugleich
Unser Fünft- und Sechstklasslehrer kannte vermutlich nur zwei Schulreisen, und beide führten ins Urnerland, die eine aufs Rütli, die andere ins kahle Urserental. Keine spektakuläre Reise, keine Actions, keine Events. Noch heute schaue ich hinauf zum trutzigen Turm, wenn ich mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn (MGB) an Hospental vorbeifahre. Warum? Der Schulreise wegen. Lange und langsam waren wir auf der Wanderung von Hospental nach Andermatt unterwegs. Zuerst verweilten wir beim imposanten Turm, diesem Zeugen aus alter Zeit. Dann tauchten wir in den dunklen Schutzwald ein. Der Lehrer zeigte uns, was der Bannwald für das Dorf bedeutete und darum gehütet war wie ein Schatz.
Ich erlebte den strengen, starken Mann, wie er sich liebevoll den Details zuwandte, spürte seine elegisch-lyrische Ader. Wir, eine wilde Bande von fast 50 Knaben, waren gefangen vom Augenblick und aufmerksam, achtsam. Darum war es einprägsam und wirksam, was er uns erzählte. Noch heute weiss ich, wie er uns die kleine Kapelle St. Karl Borromäus bei Hospental erklärte und die Inschrift deutete. Sie wurde zur Metapher des menschlichen Lebens und blieb unauslöschlich im Gedächtnis.
Hier trennt der Weg,
o Freund, wo gehst Du hin?
Willst du zum ew’gen Rom hinunterziehn.
Hinab zum heil’gen Köln.
Zum deutschen Rhein.
Nach Westen weit in’s
Frankenland hinein?
Auf dieser Schulreise zählte nicht das Besondere, bedeutungsvoll war das Naheliegende. Unser Lehrer hatte ein Auge für das Bedeutsame im Kleinen, ein Gespür für das Grosse im begrenzten Mikrokosmos seines heimatlichen Urserentals. Ein Lehrer mit einem achtsamen Auge für das Grosse im Kleinen, leidenschaftlich verliebt in die Geheimnisse dieser Landschaft, vertraut mit den unscheinbaren Phänomenen dieses Gebirgstals.
Ein Ding richtig können
Die Schulreise ist paradigmatisch: Was wir “durchnahmen”, nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können, ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, lebte unser Lehrer und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, heisst es beim römischen Denker Plinius. Jeden Aufsatz hat er sauber korrigiert und mit jedem einzelnen persönlich besprochen. In zwei Jahren schrieben wir über 20 Aufsätze. Das bedeutete für ihn die Korrektur von rund tausend Texten.
Intelligenzen für die Zukunft
Es war eine harte und patriarchalische Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen – eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab. Welcher Wandel der Modelle, der Themen und Stile im Vergleich zu heute. Und doch: Unser Fünft- und Sechstklasslehrer verkörperte und verlangte etwas von dem, was der amerikanische Erziehungswissenschaftler Howard Gardner als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken.
Es war eine männliche Schule – und dennoch vorwärtsorientiert, obwohl die Zukunft gemäss der deutschen Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich schon damals weiblich war.
* Der Verfasser beschreibt, was er erlebt hat – ohne jeden Transfergedanken auf die heutige Zeit. Es ist keine Laudatio temporis acti.
Die heutige Schule ist weder männlich noch weiblich und das nicht wegen LBTQI.
Sie ist schlicht belanglos.
Man kann auch heute noch Duftmarken setzen. Aber im Kern haben Sie recht.
Der Artikel weckt Erinnerungen an meine Schulzeit: Im katholischen Reusstal des Kantons AG in den 60-er und 70-er Jahren war es ähnlich, einfach nicht mehr ganz so strikt. Aber viel rigider als bei meinem Mann, der zeitgleich in der Nähe des Flughafens Zürich zur Schule gegangen war. Ich glaubte bis vor wenigen Jahren stets, dass ich ein schlechtes Schulsystem durchlebt hatte. Doch als meine Kinder – ich bin eine späte Mutter – vor wenigen Jahren in die Schule eintraten, begann ich schrittweise, meine Meinung zu revidieren. Schlecht war zweifelsohne, wie wir behandelt wurden und wie wir vor den Lehrkräften Angst haben mussten. Doch bei uns gab es meines Wissens am Ende der Schulzeit keine funktionalen Analphabeten. Der Stoff wurde uns so vermittelt, dass sichergestellt war, dass wir das, was wir durchnahmen, am Schluss auch konnten. Wir beherrschten die Rechtschreibung, das Einmaleins und ja, wir lernten auch ein paar Jahreszahlen. Fand ich nicht so gut damals. Finde ich gut heute.
Unter dem Strich sollten wir den Mut haben, gewisse Elemente aus jener Zeit zurückzuholen. Z.B. direkte Instruktion, Üben, Schreiben, Rechnen, Repetieren. Weniger Fremdsprachen in frühen Jahren, mehr Deutsch, Mathematik, Geschichte, Geografie und Biologie – Heimatkunde war so falsch nicht.