28. März 2024
Lehrkräftemangel

Zu wenig Lehrerinnen und Lehrer: die wahren Gründe

Landauf, landab sind Schulpräsidenten und Schulleiter daran, für das neue Schuljahr Lehrkräfte zu suchen. In der Ostschweiz ist die Situation zwar etwas weniger dramatisch als in anderen Landesteilen. In der Bodenseeregion konnten erneut alle offenen Lehrerstellen besetzt werden. Trotzdem bleibt die Situation auch hier angespannt, wie Gastautor Prof. Dr. Mario Andreotti schreibt.

Für den sich seit Jahren zuspitzenden Lehrermangel werden vonseiten der Schulbehörden und Bildungspolitiker mehrheitlich Gründe genannt, welche die wahren Ursachen verschleiern. Es ist von zu tiefen Einstiegslöhnen, von zu grossen Klassen, von steigenden Schülerzahlen, von zunehmender Teilzeitarbeit der Lehrkräfte und dergleichen mehr die Rede. Das mag ja alles stimmen. Doch die eigentlichen Gründe für den akuten Mangel an Lehrkräften liegen anderswo.

Gastautor Prof. Dr. Mario Andreotti

Seit einiger Zeit brodelt es in verschiedenen Schulen, weil Schulbehörden, aber auch Schulleiter den Lehrkräften in teilweise forscher Gangart, sich am Lehrplan 21 orientierende Lernkonzepte verordnen wollen. Die Lehrkräfte werden dazu in Weiterbildungskurse geschickt, um auf ihre neue Rolle als Coaches oder Lernbegleiter getrimmt zu werden. Zudem werden sie kontrolliert und evaluiert, mit Lernberichten, Beobachtungsbögen, Protokollen und Koordinationssitzungen belastet, so dass sie kaum mehr zum Unterrichten kommen, geschweige denn Zeit für den menschlichen Kontakt mit den Schülern finden. Trotz ihrer mehrjährigen Hochschulausbildung traut man ihnen nicht mehr zu, den Unterricht selbständig zu organisieren. Es braucht dazu noch Lernberater, Schulentwickler, Evaluatoren, Supervisoren und Instruktoren, die in erster Linie zu kontrollieren haben, ob die einzelnen Lehrkräfte in ihr Raster passen.

Verpönter Frontalunterricht würde beste Lernergebnisse bringen

Der Lehrerberuf ist im Begriff, massiv abgewertet zu werden. Bis anhin organisierten und erteilten die Lehrkräfte den Unterricht und genossen dabei, im Rahmen des Lehrplans, Methodenfreiheit. Sie leiteten die Geschicke ihrer Klassen und wurden von administrativem Krimskrams weitgehend verschont, so dass sie sich ihrer Hauptaufgabe, dem Unterrichten, vollumfänglich widmen konnten. Heute haben die Lehrkräfte nach dem Lehrplan 21 zu unterrichten, der auf 470 Seiten über 2000 Kompetenzstufen auflistet. Die einst hochgehaltene Methodenfreiheit ist nur noch Theorie. Der Frontalunterricht, der nachgewiesenermassen die besten Lernergebnisse brachte, ist vollkommen verpönt. An seine Stelle tritt “selbstorganisiertes Lernen”, bei dem die Schüler ihren Lernprozess selber steuern sollen und die Lehrperson nur noch als Coach an der Seitenlinie den Lernprozess begleitet.

Zu all dem beklagen sich die Lehrkräfte zunehmend über die mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit. Überfüllte Klassen, integrativer Unterricht und ständig neue administrative Aufgaben tragen dazu bei, dass bei den Lehrkräften das Gefühl fehlender Anerkennung entsteht. Verwundert es da noch, dass unter solchen Bedingungen immer mehr Lehrkräfte die Freude am Beruf verlieren?

Prof. Dr. Mario Andreotti, Dozent für Neuere deutsche Literatur

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Vielen Schulabgängern fällt das Lesen bereits einfachster Texte schwer, wie die PISA-Studie wieder einmal aufgezeigt hat. Dass ein Viertel unserer Schuljugend schlechte Karten für das Erlernen einer ganzen Reihe von Berufen hat, ist ein bildungspolitischer Tiefpunkt. Bei den Experten der Schulentwicklung herrscht Ratlosigkeit, weshalb sich die Lesefähigkeiten trotz aller Stützmassnahmen verschlechtert haben. Alles Mögliche und Unmögliche wird jetzt gefordert, um aus dieser Krise herauszukommen. Die Ratlosigkeit ist so gross, dass einige Bildungspolitiker als Heilmittel gar eine personalintensive Doppelbesetzung in allen Regelklassen vorschlagen. Doch Utopien helfen nicht weiter, meint Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz.

5 Kommentare

  1. Es ist absurd: Kinder und Jugendlich sollen gemäss Lehrplan 21 selbstgesteuert ihr Lernen organisieren, fachlich kompetent werden, umweltbewusst handeln, alles kritisch reflektieren. Die Lehrpersonen hingegen werden pädagogisch ans Gängelband genommen, sehen ihre Gestaltungsfreiheit durch jede Menge Vorschriften und Sachzwänge eingeengt.

  2. Prof. Mario Andreotti hat sich bereits am 5.7.2019 in einer Kolumne im St. Galler Tagblatt mit praktisch den identischen Worten zu diesem Thema geäussert. 4 Jahre später sind seine Erkenntnisse noch immer die Gleichen und treffen unverändert den Nagel auf den Kopf. Und was ist in der Zwischenzeit passiert? Nichts oder doch!? Die Reformer und Bildungstheoretiker schreiten unbeirrt auf ihren Irrwegen weiter und wundern sich, dass es immer mehr qualifizierten Lehrpersonen, die ihren Beruf liegen und mit viel Herzblut unterrichten, schlicht und einfach ablöscht oder bereits abgelöscht hat. Leider wehren sich die Lehrpersonen nicht aktiv gegen die Irrwege, sondern quittieren einfach den Dienst. Man kann nun einfach weitere 4 Jahre warten und zuschauen, wie das gleiche Phänomen neben der Volksschulstufe auch die (kaufmännischen) Berufsschulen erfasst ….. und wieder reiben sich alle Verantwortlichen die Augen bzw. suchen nach den Gründen. Die Wette gilt!

  3. Aus dem Beitrag zitiert: “Heute haben die Lehrkräfte nach dem Lehrplan 21 zu unterrichten, der auf 470 Seiten über 2000 Kompetenzstufen auflistet.”
    Ich habe als jahrzehntelanger Beobachter der schweizerischen Politszene meine Hypothese zu solchen schädlichen “Projektüberschiessungen” (gemessen am ursprünglichen Auftrag). Wir haben eine Partizipationsmanie nach dem Motto, je mehr Partizipation desto besser. Alle sollen gleichberechtigt mitreden dürfen. Beim Lehrplan 21 heisst das wohl, alle Fachrichtungen melden ihre Forderungen an, und dann wird versucht, alle zu berücksichtigen – auf Kosten klarer Prioritäten. Das gilt nicht nur für den Schul- und Bildungsbereich, sondern generell bei politischen Projekten.
    Dazu kommen offenbar noch illusionäre Kompetenzzielformulierungen im notorischen Jargon der akademisierten Bildungsbürokratie.

  4. Naja – der Lehrplan 21 ist doch schon einige Zeit in Kraft. Ich habe zu mindestens 50% frontal unterrichtet, wobei ich dieses Wort nicht mag. Zum Glück bin ich nun pensioniert…

  5. Lieber Herr Andreotti, Sie sprechen mir aus dem Herzen! Alle genannten Gründe treffen zu hundert Prozent zu. Und ich denke weiter: Ich glaube sogar, dass wir stets genügend Lehrpersonen haben werden; die Schulbehörden werden jeweils im Spätsommer vollmundig bekannt geben, dass praktisch alle Stellen besetzt wurden. Denn es findet ein Wandel statt: Von berufenen, engagierten und hingegebenen Lehrpersonen hin zu “Lehrpersonen”, die einen tollen “Job” mit relativ guter Entlöhnung haben. (Der hohe Lohn erlaubt sogar eine Teilzeitanstellung!) Ob sie fachlich und menschlich qualifiziert sind, spielt dann eine sekundäre Rolle. Die vielen administrativen Arbeiten und buchstäblich grotesken “Weiterbildungen” – durchgeführt von Dozenten, die kaum eine blasse Ahnung von praktischem Unterricht haben – werden kompensiert durch weniger Unterrichtsvorbereitung, weniger Korrekturen, weniger persönlichen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern. Dass die Unterrichtsqualität zusammen mit immer schlechteren Leistungen der Lernenden einhergeht, versteht sich von selbst… Mir tut es im Herzen weh, wie innert weniger Jahre ein gutes und gut funktionierendes Schulsystem buchstäblich an die Wand gefahren wurde und immer noch wird.

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