21. Dezember 2024
Schulische Infrastuktur

Wer die Schulen verkommen lässt, lässt den Staat verkommen

Der Lehrermangel ist zum Dauerzustand geworden, die Schulen werden zu Krisenherden. Die Politik reagiert desinteressiert bis hilflos. Gelöst werden können die Probleme nur, wenn Bildungspolitik endlich als Infrastrukturpolitik verstanden wird. Der NZZ-Journalist Andri Rostetter analysiert in einem sehr gut geschriebenen Text die Problemfelder der Bildungspolitik unseres Landes.

2006 setzten die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln einen Hilferuf ab. Die Gewalt war derart eskaliert, dass sich einzelne Lehrer nur noch mit Notfall-Handy ins Schulzimmer getrauten. 2020 geriet die Gesamtschule Bockmühle in Essen in die Schlagzeilen, weil dort angeblich fast zwei Drittel der 1400 Schüler aus Familien stammen, die von Hartz IV leben. 2021 standen laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland 47 500 Schülerinnen und Schüler am Ende ohne Hauptschulabschluss da. Das sind 6,2 Prozent.

Verglichen mit den Problemvierteln deutscher Grossstädte ist die Schweiz eine Komfortzone. Der kleinräumige Föderalismus verhindert, dass ganze Stadtteile in einem Sumpf von sozialer Vernachlässigung, Integrationsproblemen und Kriminalität versinken. Lehrerinnen und Lehrer sind anständig bezahlt, vor ihren Schulen steht kein Sicherheitspersonal, das Dealer vom Pausenplatz fernhalten muss.

Die Schulen kämpfen aber auch hier zunehmend mit Problemen, die einen geregelten Unterricht verunmöglichen. Verhaltensauffällige Kinder, veraltete Infrastruktur und fehlendes Personal gehören längst zum Alltag. Lehrerinnen und Lehrer verbringen ihre Zeit damit, Schüler aus dysfunktionalen Familien zu beaufsichtigen, Krisengespräche durchzuführen und Sondersettings zu organisieren.

Schulleitungen müssen permanent Lücken im Personalbestand stopfen, sie kämpfen mit Platzproblemen und behördlichen Leerläufen. Die Eltern zeigen sich gegenüber den Schulen entweder desinteressiert, oder sie halten sie für unfähig, ihrem hochbegabten Nachwuchs die richtige Förderung angedeihen zu lassen.

Der Teufelskreis von Personalmangel und sinkender Qualität

Der Niedergang des gesellschaftlichen Stellenwerts der Schulen ist kein neues Phänomen. Der Imageverlust geht zurück auf die Institutionskritik der 1968er Bewegung, die an allem rüttelte, was nach Autorität aussah. Die in den 1990er Jahren beginnende Reformkaskade führte zu einer allgemeinen Orientierungslosigkeit in der Bildung, die Attraktivität des Lehrerberufs sank weiter.

Diese Entwicklungen mögen alte Verkrustungen aufgebrochen haben, sie haben aber vor allem die Resilienz der Schulen geschwächt. Ob Migration, Digitalisierung oder Pandemie: Globale politische und gesellschaftliche Verwerfungen schlagen im Klassenzimmer heute mit voller Wucht auf. Gleichzeitig sind die Schulen kaum auf die Zukunft vorbereitet. Laut dem WEF-Report «The Future of Jobs» von 2016 werden später 65 Prozent der Kinder, die heute in die Primarschule kommen, Berufe haben, die es noch nicht gibt.

Die in den 1990er Jahren beginnende Reformkaskade führte zu einer allgemeinen Orientierungslosigkeit in der Bildung, die Attraktivität des Lehrerberufs sank weiter.

Seit den Schulschliessungen in der Pandemie haben die Pädagogen zwar wieder an Ansehen gewonnen. Die Eltern haben gesehen, wie schwierig es ist, die Kinder Tag für Tag zu unterrichten. Politisch blieb dieser Prestigezuwachs praktisch folgenlos. Abgesehen von der alljährlichen Sommerdebatte um den Lehrermangel und ein paar halbherzigen Gegenmassnahmen bleiben die Schulen sich selbst überlassen.

Damit beginnt ein Teufelskreis. Die Überforderung des Personals steigt, die Attraktivität der Schule als Arbeitsplatz nimmt ab. Lehrkräfte wechseln den Job, oder sie steigen gar nicht erst ein. Das bestehende Personal muss mehr Aufgaben übernehmen, die Gefahr der Überlastung steigt. Je weniger Personal den Schulen zur Verfügung steht, desto schwieriger wird es, die Qualität des Unterrichts auf dem geforderten Niveau zu halten.

Überforderte Behörden, hilflose Politik

Die Politik reagiert ohnmächtig. In der Frühlingssession hat der Nationalrat eine Untersuchung zum Einfluss von Reformen auf den Lehrerbestand in Auftrag gegeben. Das ist löblich, wird aber wirkungslos bleiben. In den vergangenen Jahren haben unzählige Studien die Ursachen des Lehrermangels beleuchtet, der Einfluss von Reformdruck, Klassengrössen, Lohnniveau, Ausbildungsmöglichkeiten und weiteren Faktoren ist hinlänglich bekannt.

Die Schule muss als Arbeitsplatz so attraktiv wie möglich sein.

Hilflos mutet auch der Entscheid des Nationalrats an, Berufsmaturanden den Zugang zur pädagogischen Hochschule künftig prüfungsfrei zu gewähren. Mit der höheren Durchlässigkeit lässt sich die Zahl der Lehrdiplome vielleicht kurzfristig steigern. Für die Qualität der Ausbildung bedeutet das aber nichts Gutes. Im schlechteren Fall führt es zu einer Nivellierung nach unten und damit zu einer schleichenden Deprofessionalisierung des Lehramtes, mitsamt den negativen Folgen: Je schlechter die Lehrkräfte ausgebildet sind, desto höher sind das Frustrationspotenzial und das Risiko eines raschen Berufsausstiegs.

Dass die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer über die Salärpolitik gesteuert werden könne, ist längst widerlegt.

Auch der wiederkehrende Ruf nach höheren Löhnen ist ein Ausdruck der Ratlosigkeit. Dass die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer über die Salärpolitik gesteuert werden könne, ist längst widerlegt. Selbst das SP-nahe Beratungsbüro Bass musste in einer Studie für den Kanton Graubünden 2010 feststellen, dass Lohnerhöhungen kein effizientes Mittel sind, um den Lehrermangel zu bekämpfen. Vielmehr haben sie das Potenzial, das Problem zu verschärfen, zumal sie ein Anreiz zur Pensenreduktion sein können.

Die Gemeinden sind mit der Bildungspolitik ebenfalls überfordert. Dringend nötige Bauprojekte werden auf die lange Bank geschoben, Modernisierungen und Erweiterungen mit Verweis auf knappe Budgets gestrichen. Wo moderne Schulhäuser mit kinderfreundlicher Umgebung und vernetzten Arbeitsplätzen für Pädagoginnen, Logopäden und Schulleitungen stehen sollten, stapeln sich über Jahre lernfeindliche Blechkisten. Der Container ist zum Sinnbild für die kurzsichtige Bildungspolitik geworden. Er steht für die Hoffnung, dass sich das Problem mit den Schülerzahlen und der Infrastruktur irgendwann von selbst lösen wird.

Die Infrastruktur ist der Schlüssel zum Erfolg

Für die Schule gibt es einen zentralen Ausweg aus der Krise: Sie muss als Arbeitsplatz so attraktiv wie möglich sein. Sie muss ein Ort sein, an dem sich die Lehrerinnen und Lehrer gern aufhalten. Sie muss Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Umgebung bieten, um sich zu entwickeln. Das funktioniert nur, wenn die Kantone und die Gemeinden in den nächsten Jahren massiv in die Infrastruktur investieren.

Anschauungsmaterial gibt es genug. Grossbritannien versuchte bereits nach der Jahrtausendwende, mit dem Programm «Building School for the Future» über die Verbindung von Architektur und pädagogischer Innovation die Bildung zu modernisieren. Die dänische Designerin Rosan Bosch, eine Wegbereiterin moderner Bildungsarchitektur, berät weltweit Behörden und baut Schulen von Abu Dhabi bis Peking. In der Schweiz sind es vor allem Privatschulen, die sich dem langfristigen und innovativen Denken verschrieben haben, etwa die Neuen Stadtschulen in St. Gallen und Zürich oder die Bildungsgruppe Haus des Lernens.

In der Schweiz sind es vor allem Privatschulen, die sich dem langfristigen und innovativen Denken verschrieben haben.

Steigern lässt sich die Attraktivität der Schule als Arbeitsplatz auch, indem die Lehrerinnen und Lehrer radikal entlastet werden. Das heisst nicht nur, dass Aufgaben, die nicht unmittelbar mit dem Unterricht zu tun haben, gestrichen werden müssen. Nötig sind auch begleitende Massnahmen wie obligatorische Sprachkurse für fremdsprachige Kinder, Sanktionsmöglichkeiten für den Umgang mit unkooperativen Eltern und Begleitung für junge Lehrerinnen und Lehrer beim Berufseinstieg.

Dazu braucht es keine neuen Lehrpläne oder Harmos-Konkordate. Die Kantone können solche Massnahmen in Eigenregie umsetzen. Das kostet zwar Geld, ist mühselig und aufwendig. Und es wird Jahre dauern, bis sich die Wirkung entfaltet. Alternativen gibt es nicht. Eine Krise der Schule wird über kurz oder lang zu einer Krise der Gesellschaft.

Die unterschätzte Wirkung der Migration

Dass sich die Probleme weiter verschärfen werden, ist so gut wie sicher. Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BfS) müssen bis 2031 allein für die Primarstufe zwischen 43 000 und 47 000 neue Lehrkräfte rekrutiert werden. Im gleichen Zeitraum werden die pädagogischen Hochschulen gemäss BfS-Zahlen voraussichtlich rund 34 000 Lehrdiplome für die Primarstufe ausstellen. Sogar im besten Fall werden also 9000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.

Diese Zahlen könnten noch markant nach oben korrigiert werden, zumal die Kinder, die nach 2026 zur Schule gehen werden, noch gar nicht geboren sind. Auch sind die 18 000 ukrainischen Kinder und Jugendlichen, die seit Kriegsbeginn in der Schweiz die Schule besuchen, noch nicht eingerechnet, da noch unklar ist, wie lange sie bleiben und wie viele noch hinzukommen werden.

Noch ist der Glaube an die immerwährende Spitzenqualität des eidgenössischen Bildungswesens unerschütterlich.

Infrastrukturpolitik ist ein wichtiger Schlüssel zur Bildungspolitik.

Auch der Effekt der Migration auf die Schulen wird nach wie vor unterschätzt. Der Bildungsbericht hält dazu unmissverständlich fest: Je mehr Kinder aus fremdsprachigen, ausländischen oder bildungsfernen Familien eine Schule hat, desto grösser werden die Schwierigkeiten. Das Leistungsniveau sinkt, soziale Konflikte und Kriminalität nehmen zu.

Noch ist der Glaube an die immerwährende Spitzenqualität des eidgenössischen Bildungswesens unerschütterlich. Die Schweizer Schulen werden aber gefährlich schnell ins Mittelmass absinken, wenn Bildungspolitik nicht endlich als Infrastrukturpolitik verstanden wird. Schulen gehören zur Grundausstattung eines Staates, sie sind essenziell für das Funktionieren und die Entwicklung der Demokratie und der Volkswirtschaft. Wer die Schulen verkommen lässt, lässt das Land verkommen.

 

Andri Rostetter

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2 Kommentare

  1. Die Überlegungen von Herrn Rostetter sind interessant. Dennoch würde ich die primäre Lösung nicht im “mehr Geld” suchen. Ich halte mich da gerne an Katharine Birbalsingh (“Britain’s strictest headmistress”). die nicht mehr Geld fordert. Wir müssen sicherstellen, dass die Kinder, das, was sie lernen, auch wirklich beherrschen. Weniger Fremdsprachen in der Unterstufe und intensiveren Deutschunterrricht (in der Deutschschweiz) wären ein Start. Mehr Mathematik, die auch wirklich aus dem Efef beherrscht wird, wäre ein weiterer Punkt. Vielleicht sollten wir auch gewillt sein, unser Verständnis einer glücklichen Kindheit neu zu denken.

  2. Schule lebt von engagierten Lehrerinnen und Lehrern, die Zeit haben für ihr Kerngeschäft, das Lehren. Schule lebt aber nicht von narzisstischen Schulleitungen und aufgeplusterter Bildungsbürokratie, sowie deren akademischem Hinterhof mit dem Drang, eine scheinbar wissenschaftlich begründete Reform nach der anderen anzustossen.
    Engagierte Lehrerinnen und Lehrer sehen ihren Beruf als Berufung – man muss sie aber machen lassen. Und genau daran mangelt es.

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