Leider ist meine Intention, die «unselige Polarisierung zu beenden», erfolglos geblieben, und ich unternehme mittels einer Duplik zur Replik von Volker Ladenthin einen nächsten Versuch zur Entschärfung der Debatte. Volker Ladenthin argumentiert weiterhin auf der Grundlage von Annahmen über die «Kompetenztheorie», die bei Weitem nicht von allen Befürwortern kompetenzorientierter Bildung und auch nicht der empirischen Kompetenzforschung geteilt werden und deshalb zu Disputen führen, die sich vorwiegend wegen Differenzen im semantischen Verständnis von Begrifflichkeiten ergeben. Unter Weglassung der Verknüpfungen mit dem Begriff «Kompetenzen» teile ich viele der normativen Maximen und Grundannahmen von Kollege Ladenthin über Bildung, soweit sie in seiner Replik sichtbar werden, die Differenzen ergeben sich fast ausschliesslich aus Unterschieden im Verständnis des Begriffs «Kompetenzen». Im Folgenden gehe ich auf einige Einzelaussagen der Replik von Volker Ladenthin näher ein:
Leider finden sich in der Tat in kompetenzorientierten Lehrplänen viele schlecht gesetzte Kompetenzziele. Ungenügend formulierte Zielbeschreibungen finden sich aber ebenso in nicht kompetenzorientierten Lehrplänen.
– Selbstverständlich kommt es darauf an, «ob man die chemische Analyse an der Herstellung von militärischen Giftgasen oder an der Herstellung von künstlichem Dünger lernt». Abgesehen davon, dass es sich um zwei verschiedene Fachkompetenzen handelt, ist «Chemische Analyse» ohne weitere inhaltliche Bestimmung und den Einbezug normativer (Kompetenz-)Aspekte im Hinblick auf die Bildungsziele des Schweizer Gymnasium ein sehr mangelhaft formuliertes Kompetenzziel und damit ein Beispiel schlecht umgesetzter Kompetenzorientierung. Leider finden sich in der Tat in kompetenzorientierten Lehrplänen viele schlecht gesetzte Kompetenzziele. Ungenügend formulierte Zielbeschreibungen finden sich aber ebenso in nicht kompetenzorientierten Lehrplänen.
In der Schweiz ist gemäss Bildungszielartikel für das Gymnasium die angestrebte Studierfähigkeit eine Allgemeine Studierfähigkeit, und zwar eine solche, die tatsächlich ausreichende Grundlage für die erfolgreiche Aufnahme und Bewältigung irgendeines universitären Studiums ist und somit keine weiteren Eignungs- und Zulassungsprüfungen oder Numerus-clausus-Bestimmungen mehr notwendig macht.
– Natürlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass das Gymnasium auf das Studium vorbereitet. Auf welche Studien die Vorbereitung erfolgen bzw. welche Art von Studierfähigkeit es sein soll und welcher Unterricht in welchen Fächern mit welchen Lehr-Lerninhalten diesem Ziel am besten dient, ist aber überhaupt nicht selbstverständlich. Zur besseren Klärung dieser Frage braucht es doch noch Einiges sowohl an systemgestaltenden bildungspolitischen Vorgaben und Absprachen zwischen dem Gymnasium und den Hochschulen als auch an empirischer Forschung zu den Konsequenzen solcher normativen Vorgaben für Curriculum und Unterricht. In der Schweiz ist gemäss Bildungszielartikel für das Gymnasium die angestrebte Studierfähigkeit eine Allgemeine Studierfähigkeit, und zwar eine solche, die tatsächlich ausreichende Grundlage für die erfolgreiche Aufnahme und Bewältigung irgendeines universitären Studiums ist und somit keine weiteren Eignungs- und Zulassungsprüfungen oder Numerus-clausus-Bestimmungen mehr notwendig macht. Welche Kompetenzziele und welcher Unterricht dem dienen, wird in der aktuellen Revision des Rahmenlehrplans untersucht. Das Schweizer Gymnasium kennt zudem gemäss seinem Bildungszielartikel, wie in meinem Blog-Beitrag beschrieben, ein zweites, in meiner normativen Überzeugung mindestens so wichtiges Ziel, nämlich die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft, damit sie später einen verantwortungsvollen Beitrag zu deren Lösung leisten können. Darüber, ob der von mir verwendete, zusammenfassende Begriff «vertiefte Gesellschaftsreife» diese Zielbeschreibung ausreichend trifft, lässt sich selbstverständlich streiten, ändert aber am Ziel nichts. Welche weiteren Lehr-Lerninhalte in welchen Fächern es für die Erreichung auch dieses Ziels braucht, muss ebenfalls sorgfältig in der laufenden Lehrplanarbeit geklärt werden. Jedenfalls führt auch diese Zielrichtung nicht zu Inhaltsbeliebigkeit entsprechender Kompetenzen.
Die Aussage von Volker Ladenthin, dass «die Kompetenztheorie … in neuen schönen Worten den uralten Traum einer Schulung zu inhaltsneutralen Fähigkeiten, die man auf alles und jedes anwenden kann», entspricht eben nicht meinem Verständnis von Kompetenzen, auch nicht jenem von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen, und natürlich auch nicht dem Kenntnisstand der empirischen Forschung sowohl der Kognitions- und der Neuropsychologie als auch weiterer Forschungstraditionen wie Transfer- und Problemlöseforschung.
– Auf einer allgemeineren Ebene: Die Aussage von Volker Ladenthin, dass «die Kompetenztheorie … in neuen schönen Worten den uralten Traum einer Schulung zu inhaltsneutralen Fähigkeiten, die man auf alles und jedes anwenden kann», entspricht eben nicht meinem Verständnis von Kompetenzen, auch nicht jenem von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen, und natürlich auch nicht dem Kenntnisstand der empirischen Forschung sowohl der Kognitions- und der Neuropsychologie als auch weiterer Forschungstraditionen wie Transfer- und Problemlöseforschung. Richtig an der Aussage von Volker Ladenthin ist, dass es nichtsdestotrotz die Illusion inhaltsneutraler Fähigkeiten in verschiedenen theoretischen Gewändern gab und gibt – von den früheren formalen Bildungstheorien bis hin zu den aktuellen Visionen von Schlüsselkompetenzen oder inhaltsunabhängigen Schlüsselqualifikationen, die sich aber bisher allesamt empirisch nicht belegen liessen. Dieser Mythos war schon Gegenstand sowohl meines Habilitationsvortrags 1996 an der Universität St. Gallen als auch insbesondere meiner Antrittsvorlesung an der Universität Zürich im Jahre 2000. Ich bin ihm in meinen Referaten und Schriften immer wieder entgegengetreten und habe die Wichtigkeit der sorgfältigen Auswahl von Fachinhalten auf allen Bildungsstufen immer betont. Die Aussage nun, dass «die Kompetenztheorie» unisono diesen Mythos vertrete, stimmt einfach nicht. Es sind nur Auswüchse und Irrwege einiger Exponenten, die aber keine empirische Basis für ihre Version der Kompetenztheorie vorweisen können. Die Kompetenztheorie, soweit ich sie kenne und ihr zustimme, vertritt auch nicht Interdisziplinarität ohne solides fachliches Fundament der zugrundeliegenden Fachdisziplinen.
– Sowohl am Beispiel aus dem Chemieunterricht als auch in der Aussage von Volker Ladenthin zum angeblichen Traum der Kompetenzbefürworter zeigt sich das polarisierende, leider weit verbreitete, aber eben sehr reduzierte Verständnis von Kompetenz als überfachliche Kompetenzen. Zentral sind Sachkompetenzen, die eben an konkretes und keineswegs beliebiges Fachwissen gebunden sind. Aber auch Selbst- und Sozialkompetenzen sind überwiegend kontextspezifisch. Auch die überfachlichen Kompetenzen lassen sich nicht «inhaltsleer» erwerben. Der Weg führt über den Erwerb in den Fächern, deren Inhalte eben nicht beliebig sind. Wie weit es die überfachlichen Kompetenzen überhaupt gibt, ist zudem tatsächlich nicht abschliessend geklärt. Das ist aber kein Totschlagargument für die Sinnhaftigkeit der Kompetenzorientierung, sie bliebe auch ohne tragfähige überfachliche Kompetenzen ein geeignetes Konzept zur Erreichung von Bildungszielen.
Die genaue Messbarkeit ist keine zwingende Eigenschaft von Kompetenzen.
– Ich bestreite, dass die Kompetenzorientierung an die Bildungsideologie der OECD geknüpft ist. In meinem Blog-Beitrag habe ich die Definition von Kompetenzen leicht gekürzt wiedergegeben, was der Platzbeschränkung in der NZZ geschuldet war. Ich füge sie deshalb im Folgenden nochmals an, in der Originalversion (Hartig & Klieme, 2007, S. 21): «Kompetenzen sind Dispositionen, die im Verlaufe von Bildungs- und Erziehungsprozessen erworben (erlernt) werden und die Bewältigung von unterschiedlichen Aufgaben bzw. Lebenssituationen ermöglichen. Sie umfassen Wissen und kognitive Fähigkeiten, Komponenten der Selbstregulation und sozial-kommunikative Fähigkeiten wie auch motivationale Orientierungen.» Es handelt sich dabei gemäss Hartig & Klieme (2007, S. 21) um «zentrale Bestandteile des Begriffsverständnisses», die sowohl in der erziehungswissenschaftlichen als auch in der pädagogisch-psychologischen Forschung «immer wieder zu Tage treten». Die Definition ist insofern wertneutral formuliert, als es offenbleibt, welche «Aufgaben und Lebenssituation» mittels entsprechender Kompetenzen bewältigt werden können sollen. Für das Schweizer Gymnasium sind es natürlich jene, die im Bildungszielartikel des Schweizer Gymnasiums formuliert sind, nicht die OECD-Ziele. Die OECD hat den Begriff «Kompetenz» nicht für ihre spezifischen Ausbildungsabsichten gepachtet, er ist nicht an diese gebunden. Wenn im Weiteren Kompetenzen gemäss der angeführten Definition nur teilweise messbar sind, können trotzdem auch die schlecht oder nicht messbaren Teile als Leitlinien für Bildung und Unterricht dienen. Die genaue Messbarkeit ist keine zwingende Eigenschaft von Kompetenzen.
– Weshalb mir die Definition von Hartig und Klieme (2007) besser zusagt als jene von Weinert (2001, S. 27 f.): Sie ist erstens aus einer umfassenden Analyse verschiedener Ansätze zum Kompetenzbegriff hervorgegangen, von denen jene von Franz E. Weinert nur einer davon ist. Zweitens, während Weinerts Definition noch auf die Lösung «bestimmter Probleme» fokussiert und damit zu Recht einen Teil der Kritik hervorgerufen hat – Bildung sei mehr als die Ausbildung von Problemlösenden –, weiten Hartig und Klieme das Zielspektrum allgemein auf die «Bewältigung von unterschiedlichen Aufgaben bzw. Lebenssituationen» aus.
– Zu den «sentimentalen» nichtkognitiven Kompetenzen: Ich habe neben meiner Arbeit an Universitäten während rund 15 Jahren zu mindestens 50% am Gymnasium unterrichtet, unter anderem in den Fachbereichen Staatsrecht und politische Bildung. Eine Haltung, «Menschenrechte werden so zum diffusen Gefühl, das nicht weiter stört», war weit weg von dem, was ich unternommen habe, für die Wertebildung der jungen Leute beizutragen. Wenn in meinem Blogartikel «Werthaltungen» als Beispiel von «nichtkognitiven Kompetenzen» aufgeführt sind, verleitet das zwar tatsächlich zu einer solchen abwertenden Bewertung. Ich schreibe aber auch: «Diese Bestandteile des Kompetenzbegriffs überschneiden sich und stehen im Hinblick auf die Bewältigung von Aufgaben bzw. Lebenssituationen in einem komplexen wechselseitigen Verhältnis.» Damit ist auch die Selbstverständlichkeit gemeint, dass Wertebildung und Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und mit jenen Anderer mittels eines kognitiven Zugangs erfolgt und in der Schule erfolgen muss. Ich erinnere mich an viele intensive Wertediskussionen mit meinen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Letztlich bleibt aber bei den vorhandenen und resultierenden Werthaltungen und Überzeugungen eine Nichtrationalität. Zudem: auch Gefühle – Volker Ladenthin reduziert sie auf «Sentimentalität» – gehören zum Menschsein und das sich darin zurecht finden zur Bildung.
Bereits Lernziele haben teilweise die Eigenschaften von Kompetenzzielen
– Es stimmt, dass Vieles, was ich bezüglich Kompetenzkonzept nenne, nicht neu ist. Das behaupte ich auch nicht. Das sage ich ja schon lange in meinen Referaten und Schriften. Sowohl die von Volker Ladenthin genannten allgemeinen Bildungsziele der Aufklärung als auch die von mir eingebrachten spezifischen Bildungsziele des Schweizer Gymnasiums stehen über den daraus abzuleitenden Kompetenzen. Kompetenzen sind keine Selbstläufer. Auch im Hinblick auf übergeordnete Bildungsziele zu entwickelnde Lernziele ist die Kompetenzorientierung nicht neu. So haben beispielsweise bereits Lernziele, die nach den von Benjamin S. Bloom (Bloom, 1976) und seinen Kolleginnen und Kollegen in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts geschaffenen Taxonomien für Lernziele im kognitiven und affektiven Bereich entwickelt werden, teilweise die Eigenschaften von Kompetenzzielen; die zu Beginn dieses Jahrhunderts von Lorin Anderson, David Krathwohl und weiteren Mitarbeitenden (Anderson et al., 2001) weiter entwickelte bloom’sche kognitive Taxonomie ab der Kompetenzstufe «Anwendung». Ergänzend neu an der Kompetenzidee ist höchstens das explizite Erfordernis, Kompetenzziele inhaltlich in umfassenden Fach- oder Themenbereichen systematisch miteinander zu verbinden, damit daraus auch umfassend-ganzheitliche Kompetenzen entstehen.
Natürlich ist es richtig, nicht einlösbare Versprechungen einiger «Kompetenztheoretiker» anzuprangern und den Bildungszieldiskurs zu führen.
Welches nun das richtige Verständnis von Kompetenzen ist, und ob man entsprechend dafür oder dagegen ist, wird leider wohl weiterhin Streitobjekt bleiben. Natürlich ist es richtig, nicht einlösbare Versprechungen einiger «Kompetenztheoretiker» anzuprangern und den Bildungszieldiskurs zu führen. Aber es ist einfach falsch, alle Befürworter kompetenzorientierter Bildung jenen «Träumern» zuzuordnen, die nur noch inhaltsleere Fähigkeiten oder Kompetenzen schulen wollen, oder sie gar in den gleichen kleinräumigen Topf kultur- und bildungsfeindlicher, ausschliesslich auf ökonomische Nützlichkeit ausgerichteter Interessen zu werfen. Eine solche Deutungshoheit können die «Kompetenzgegner» nicht beanspruchen.
Literatur
Anderson, L. W., Krathwohl, D. R., Airasian, P. W., Cruikshank, K. A., Mayer, R. E., Pintrich, P. R., Raths, J., & Wittrock, M. C. (2001). A taxonomy for learning, teaching and assessing. A revision of Bloom’s taxonomy of educational objectives. New York: Longman.
Bloom, B. S. (Hrsg.). (1976). Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich (5. Aufl.). Weinheim und Basel: Beltz
Klieme, E. & Hartig, J. (2007). Kompetenzkonzepte in den Sozialwissenschaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In M. Prenzel, I. Gogolin & H.-H. Krüger (Hrsg.), Kompetenzdiagnostik [Sonderheft 8]. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 10, 11–29
Weinert, F. E. (2001). Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In F. E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen. (S. 17–31). Weinheim und Basel: Beltz.
Mit den gymnasialen Bemühungen, Einsicht in den Begriff “Kompetenzen” zu bekommen, erlebe ich mich weit über die
Wolken hinausgeschleudert.
Gemäss DWDS “Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute” beschreibt dieser Begriff mehr als eine Bedeutung.
Kopie: Bedeutungsübersicht+
1. Zuständigkeit, Befugnis, Handlungsvollmacht; Zuständigkeitsbereich, Aufgabenbereich
2. Fähigkeit, Sachkenntnis auf einem bestimmten Gebiet, Expertenwissen
● grundlegende, besonders im Rahmen der persönlichen Entwicklung erworbene oder erlernte Fähigkeit, die sprachliches Ausdrucksvermögen, soziales Handeln, logisches Denken oder Selbstdisziplin betrifft
3. [Sprachwissenschaft] die vorgeburtlich angelegte und im Prozess des Erwerbs einer Muttersprache erworbene Fähigkeit, grammatisch korrekte Sätze zu bilden.
Und wie lässt sich das einordnen, wenn ich erzähle: Mein 13 Monate altes Enkelkind hat die Kompetenz des Gehens entdeckt, erlernt, erworben.