19. März 2024

Ein Drittel weniger Lernfortschritt, und es trifft die Schwächsten

Während der Pandemie haben Schüler mehr als ein Drittel des normalen Lernzuwachses pro Schuljahr weniger erreicht. Das zeigt eine aufwendige Analyse aus 15 Ländern. Ohnehin schwache soziale Gruppen sind besonders davon betroffen. Wir bringen einen Beitrag der WELT-Journalistin Sonja Kastilan.

Sonja Kastilan, Journalistin DIE WELT

Wer hilft seinen Kindern schon gerne bei Mathe? Oder Physik? Lesen, ja, das geht oft einfacher, sofern man die Sprache selbst gut spricht. Deshalb mag es manche kaum überraschen, wenn jetzt eine Studie im Fachjournal „Nature Human Behaviour“ feststellt, dass die Schulschließungen in den Anfängen der Covid-19-Pandemie sich vor allem auf die Rechenfähigkeiten auswirkten.

Dass Kinder jedoch im internationalen Durchschnitt mehr als ein Drittel weniger lernten als in normalen Schuljahren, ist dennoch ein bemerkenswert hoher Wert. Und dass dieser Verlust bis 2022 noch nicht wieder aufgeholt werden konnte, auch wenn es gelang, die Vergrößerung der bestehenden Lücken zu verhindern, sollte zu denken geben – und zu entsprechenden Fördermaßnahmen führen.

Die aktuell veröffentlichte Analyse der Lerndefizite umfasst 42 vergleichbare Studien aus 15 Ländern. Die Daten stammen vor allem aus Großbritannien und den USA; aber auch aus Deutschland sind vier Studien darunter. Neben den Defiziten in verschiedenen Schulfächern und Stufen wurden der soziodemografische Status und das Durchschnittseinkommen im jeweiligen Land erfasst.

Wie die Corona-Schulmisere Kindern das Lesenlernen erschwert

Wie sich zeigte, haben sich die Lernfortschritte während der Covid-19-Pandemie zunächst erheblich verlangsamt: Schülerinnen und Schüler lagen im Mittel 35 Prozent hinter dem üblichen Pensum zurück. Die größten Lücken wiesen Kinder mit einem niedrigen sozioökonomischen Status auf; zwischen den Klassenstufen – Grundschüler im Vergleich zu Kindern in der nächsten Stufe – ließen sich keine signifikanten Unterschiede erkennen.

Im Rahmen einer Pressekonferenz betonte der Bildungsforscher Bastian Betthäuser, Erstautor der Studie und derzeit am Centre for Research on Social Inequalities in Paris sowie an der Universität in Oxford beschäftigt, dass die Lernkrise durchaus eine Armutskrise sei. Durch die Schulschließungen wurden Kinder aus ärmeren Verhältnissen, denen zu Hause kein Computer zur Verfügung stand, mehr benachteiligt. Und die auch keine Möglichkeit hatten, sich zum Lernen in ein ruhiges Zimmer zurückzuziehen. Die größeren Defizite in Mathematik als im Lesen erklärt sich Betthäuser damit, dass die Eltern wohl an ihre Grenzen stießen, und es den meisten leichter falle vorzulesen.

Grundschüler haben im Wechselunterricht Luftballons mit Wünschen 2021 vor allem gegen die Corona-Einschränkungen beim Schulunterricht gestaltet, hier in einer Grundschule in Haar bei München. (Quelle: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Auf globaler Ebene betrachtet, lägen Länder mit geringerem Bruttoeinkommen wie etwa Mexiko oder Brasilien hinter wohlhabenden Nationen zurück, was die Kluft vergrößere; aus Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen konnten keine Untersuchungen berücksichtigt werden. Manchmal genügten allerdings schlichte Mittel, etwa SMS-Botschaften, um Kinder entweder mit Mathe-Aufgaben zu versorgen oder sie zu motivieren – erfolgreich, wie Daten aus in Botsuana und Brasilien belegen.

„Diese Studie ist methodisch sehr gut angelegt. Wichtig ist bei solchen Meta-Analysen, dass die Qualität der Einzelstudien, die in die Auswertung einfließen, ganz genau geprüft wird. Das ist hier offenbar sehr akribisch erfolgt“, erklärt Benjamin Fauth, Leiter der Abteilung Empirische Bildungsforschung am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg, gegenüber dem deutschen „Science Media Center“. Bei der Interpretation der Befunde müsse berücksichtigt werden, dass hier Studien aus unterschiedlichen Ländern eingeflossen sind, deren Ergebnisse zum Teil nicht auf die deutschen Bildungssysteme übertragen werden können.

Ungleiche Verteilung von Lernrückständen

„Aber insgesamt sehen wir auch hierzulande Lernrückstände, und wir sehen vor allem auch deren ungleiche Verteilung: Schülerinnen und Schüler, die es vor der Pandemie schon schwerer hatten, sind sehr viel stärker betroffen“, sagt Fauth, der mit Kollegen erforscht, wie sich die Schulschließungen hierzulande auswirken. Ihre Studien flossen auch in die aktuelle Meta-Analyse mit ein. „Unsere Ergebnisse zeigen die ungleiche Verteilung ebenfalls“, wie Fauth im Gespräch mit WELT bestätigt.

„Nicht nur sind die Lernrückstände an sich sozial ungleich verteilt, sondern auch deren Folgen werden vermutlich sehr unterschiedlich sein: Viele Schülerinnen und Schüler mit dem entsprechenden sozialen Hintergrund werden das ohne Weiteres wieder aufholen können“, sagt Fauth. Er befürchtet, dass die Folgen bei den Leistungsschwächeren und Kindern aus eher bildungsfernen Elternhäusern gravierender seien.

Deshalb müsse man auch darauf achten, wie die Ressourcen verteilt werden, wolle man den ohnehin benachteiligten und nun stärker betroffenen Kindern helfen.

Lehrer Joschka Dusil und Schüler der Klassen 1, 2 und 4 der Liebenauschule bei einer Nachmittagsunterrichtseinheit im Rahmen des Programms „Lernen mit Rückenwind“. Mit dem auf zwei Jahre angelegten Programm soll Kindern und Jugendlichen geholfen werden, Corona-Folgen und Lernlücken zu bewältigen.

„Die Relevanz des festgestellten Lerndefizites ist immens, weil es auf den Unterricht einen unmittelbaren Einfluss hat“, sagt Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Je geringer die Lernleistungen seien, desto schwieriger werde es für die Kinder, die von den Curricula geforderten Standards zu erreichen. In der Folge geht Zierer davon aus, dass sich eine „Generation Corona“ bilde, „die besonders stark unter der Pandemie gelitten hat“. Das treffe insbesondere die Jüngsten im System mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern.

Soziales Miteinander wieder auf die Reihe bekommen

Was in der Meta-Analyse nicht beleuchtet wurde, laut Zierer aber andere Untersuchungen zeigen: Die Pandemie hat sich auch auf die psychosoziale Entwicklung und die körperliche Verfassung negativ ausgewirkt. Und Fauth berichtet: Wenn man Lehrkräfte befrage, so werde deutlich, dass neben den eigentlichen Lernrückständen noch ein anderes Problem im Vordergrund stehe, nämlich der gesamte psychosoziale Bereich. „Mein Eindruck ist, dass die Schulen zurzeit in diesem Bereich sehr viel Arbeit damit haben, bestimmte Lernroutinen wieder einzuüben und das ganze soziale Miteinander wieder auf die Reihe zu bekommen.“

„Es sollte alles unternommen werden, um die Lerndefizite aufzuholen. Leider haben viele Länder die ersten Möglichkeiten – Stichwort ,Sommerschulen‘ – verpennt oder absolut unreflektiert implementiert“, kritisiert Zierer. Damit sei noch mehr Zeit verloren gegangen: „Aus Forschungen wissen wir leider, dass sich Lerndefizite schnell kumulieren und daher immer größer werden.“ Je früher es gelinge, gegenzusteuern, desto besser.

Ein Grundschüler sitzt nach der Verlängerung des Lockdowns zuhause vor dem Bildschirm und nimmt mit einem Laptop am Onlineunterricht mit dem Lehrer teil. (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

 

Dem würde Bastian Betthäuser vermutlich zustimmen, denn er riet dazu, die langen Sommerferien, wie sie in zahlreichen Ländern üblich sind, zu nutzen, um Kindern zusätzliche Angebote zu machen: Es genüge eben nicht, einfach wieder den Normalzustand herzustellen, sondern man müsse mehr tun, um die Lernverluste aufzuholen. Gleichzeitig sollte man im Blick behalten, dass die Aufnahmefähigkeit ihre Grenzen hat – was Nachmittags- oder Wochenendkurse einschränkt. Doch Sommer-Lernprogramme hätten sich schon mehrfach bewährt und könnten verhindern, dass die Ungleichheit weiter zunimmt.

„Das Problem ist sicherlich, dass angesichts eines Lehrermangels vor allem das Personal fehlt“, meint Zierer. Hinzu komme, dass die Konzepte nicht erarbeitet wurden und alle auf die Digitalisierung schielen, die sich aber nicht als Retter in der Pandemie bewährt hätte. Vielmehr stehe Digitalisierung als Treiber für Bildungsungerechtigkeit, weil je nach Bildungsniveau digitale Medien anders genutzt würden. Zierer sieht es deshalb als Herausforderung für die nächsten zwei, drei Jahre, hier vernünftige Konzepte anzubieten.

Kein hoffnungsloser Fall, wenn Förderprogramme greifen

Wie sich die Pandemie auf lange Sicht auf den Lernerfolg auswirkt, könne man heute nicht absehen, sagt Betthäuser; man sollte die Entwicklung aber im Blick behalten und evaluieren. Zumal sich an Erhebungen aus dem Frühsommer 2021 ablesen lässt, dass in Schweden und Dänemark offenbar nicht so große Probleme auftraten: Schweden verfolgte zwar einen eigenen Weg in der Pandemie, doch Dänemark ergriff ähnliche Maßnahmen wie andere europäische Länder, ohne dass dänische Kinder ähnlich stark mit dem Schulstoff hinterherhinkten. Warum, lohne sich genauer zu analysieren.

Bildung sei nachweislich ein, wenn nicht sogar „der“ Schlüsselfaktor für einen erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt und entscheidend dafür, wie erfolgreich jemand seinen Lebensunterhalt bestreitet. Es bestehe das Risiko, dass die Generation, die jetzt von den langen Schulschließungen betroffen war, später ein ernsthaftes Problem damit hätte. Aber das bedeute nicht, dass sich nichts verbessern ließe. „Ich würde nicht sagen, dass wir es mit einem hoffnungslosen Fall zu tun haben“, betont Betthäuser. Es sei wichtig, dass jetzt entsprechende Förderprogramme zum Einsatz kommen.

In Deutschland laufen sehr unterschiedliche Programme, abhängig vom jeweiligen Bundesland. Es wurde auch eine länderübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht auf der aus Mitteln des DigitalPakts Schule finanzierten länderübergreifenden Plattform „MUNDO“ Instrumente veröffentlicht, die lizenzfrei genutzt werden können. „Das Problem muss allerdings in den Schulen gelöst werden“, sagt Fauth. Dementsprechend müsse auch geklärt werden, welche Schulen mehr Ressourcen als andere brauchen, um benachteiligte Kinder besonders zu unterstützen.

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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Dezemberausgabe 2019).

Ein Kommentar

  1. In meinem Blog volldaneben.ch hatte ich am 17. März 2020 (einen Tag nach Ausrufung des Lockdowns durch den Bundesrat) unter dem Titel “Verdrängte Risiken einer Corona-Hysterie” die eng medizinische Perspektive der Regierung(en) kritisiert und eine umfassend gesellschaftliche Sichtweise gefordert, basierend auf den ökonomischen Denkkonzepten von Trade-offs und Opportunitätskosten. Mein anschliessender Blog-Text vom 20. März lief unter dem Titel “Gleicher Fit für alle?” und fragte: Sind die extremen Einschränkungen für die Wirtschaft und die Schulen, die keinen Unterschied zwischen den Risikogruppen machen, gerechtfertigt? Schon damals verfügte man über ausreichende statistische Erkenntnisse, um eine risikobasierte Politik zu machen. Jetzt wissen wir es: Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der pauschalen Lockdown-Politik ist katastrophal, und die höchsten Kosten tragen die Kinder und Jugendlichen mit möglichen Konsequenzen bis weit in ihre Zukunft. Meta-Thema: Fehlanreize im politischen Handeln.

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