Ist die integrative Schule am Ende?
Jean-Michel Héritier: Nein, aber es braucht endlich wirkungsvolle Verbesserungen.
Andrea Lanfranchi: Sie ist nicht am Ende, sie steht am Anfang.
Und das, obwohl sie vor 15 Jahren eingeführt wurde?
Lanfranchi: Ja. Heute können wir sagen, dass die integrative Schule nicht optimal eingeführt wurde und besser werden muss. In Zürich dauerte die Weiterbildung der Lehrkräfte drei Nachmittage. Ich war damals einer dieser armen Kerle, die am Mittwochnachmittag von Schulhaus zu Schulhaus pilgerten und erklärten, wie der integrative Unterricht aussehen müsste.
Woran krankt die integrative Schule?
Lanfranchi: Die Belastung hat zugenommen: Die Klassen sind tendenziell grösser, die Kinder dominanter als früher, und auch die Eltern sind anspruchsvoller und kritischer geworden. Ein weiteres Problem ist, dass es für jedes Unterstützungsangebot, ob Begabungsförderung, Heilpädagogik oder Deutsch als Zweitsprache, eine Ansprechperson gibt. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen alles selbst koordinieren. Eine Bündelung der Hilfestellungen ist nötig und wird die Arbeit der Lehrkräfte erleichtern. Hinzu kommt, dass die schulische Heilpädagogik effizienter und effektiver werden muss. Sie kommt in vielen Fällen nicht in der nötigen Qualität beim Kind an.
Genügende Ressourcen sind die Bedingung dafür, dass die integrative Schule funktioniert. Der Mangel an Heilpädagoginnen ist schon länger ein Thema, wieso hat man nichts dagegen unternommen?
Lanfranchi: Der Mangel ist das eine. Dagegen hat zum Beispiel die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Massnahmen ergriffen und neue Zulassungsbedingungen geschaffen, damit sich mehr Interessierte einschreiben und das Studium absolvieren können. Es braucht aber auch eine Neujustierung auf dem Feld, sodass die Ressourcen nicht mit der Giesskanne auf alle Klassen verteilt werden, sondern nach dem spezifischen Bedarf besonders belasteter Klassen in genügender Menge ausgerichtet werden.
Héritier: Das Berufsbild der Heilpädagogin hat sich durch die integrative Schule grundlegend verändert. Früher waren dies die besonders guten Lehrpersonen, die die schwierigsten Klassen unterrichteten. Heute fördern sie punktuell einzelne Kinder oder kleine Lerngruppen während einzelner Lektionen. Natürlich ist das Renommee dieser Profession dadurch nicht gestiegen.
Lanfranchi: Das stimmt. Die Zerstückelung der Lektionen schadet dem Beruf. Eine Neuorganisation der Heilpädagogik ist daher zwingend. In der kleinen Zürcher Gemeinde Stadel betreut zum Beispiel eine Heilpädagogin mit einem 80-Prozent-Pensum zwei parallele Regelklassen. Die beiden Klassenlehrerinnen, die eng zusammenarbeiten, haben also eine dritte Lehrperson, die sie tatkräftig im Unterricht unterstützt und auch hilft, schwierige Situationen zu bewältigen. Das Modell hat sich sehr bewährt.
Eine Neuorganisation der Heilpädagogik ist zwingend.
Die Lehrkräfte hatten schon bei der Einführung 2008 Vorbehalte und warnten vor überlasteten Schulen. Wieso hat man nicht auf sie gehört?
Héritier: In Basel-Stadt waren anfänglich die meisten eher zuversichtlich gestimmt. Uns Lehrerinnen und Lehrern waren damals gute Gelingensbedingungen für die integrative Schule versprochen worden. Dafür hatten wir offiziell unverzichtbare Konditionen wie kleinere Klassen, mehr Schulraum, weniger Pflichtlektionen, keine Selektion innerhalb der Volksschule, genügend adäquat ausgebildetes Personal und weniger komplizierte administrative Abläufe definiert. Aber davon wurde bis heute kaum etwas umgesetzt.
Stattdessen haben wir lange ideologische Debatten darüber geführt, welche die richtige pädagogische Haltung zur Integration ist.
Lanfranchi: Ich streite auch nicht ab, dass eine Verbesserung nötig ist. Eine Rückkehr zum früheren System der Sonder- und Kleinklassen, wie ich es als Lehrer in Graubünden und als Schulpsychologe in der Stadt Zürich erlebt habe, ist aber keine Lösung.
Genau in diese Richtung scheint es nun aber zu gehen. Laut einer Tamedia-Umfrage wünscht sich die Wählerschaft in Zürich die Kleinklassen zurück. Im Kanton Bern stellt das Parlament dieselbe Forderung. Und in Basel-Stadt kämpft Herr Héritier mit einer Initiative an vorderster Front für Förderklassen.
Héritier: Im Schulzimmer sind strukturelle Anpassungen an die Realität überfällig – das zeigen auch Daten, die die Freiwillige Schulsynode Basel-Stadt (Berufsverband der Lehrkräfte, Anm. d. Red.) bei Lehrerinnen und Lehrern erhoben hat.
Lanfranchi: Ja, aber die Wiedereinführung von Sonderklassen wird die Schule keinen Millimeter vorwärtsbringen, sondern Kilometer zurückkatapultieren.
Die Kritik, dass die Diskussionen über die integrative Schule ideologisch geprägt seien, richtet sich vor allem gegen Bildungsexperten. Was sagen Sie dazu, Herr Lanfranchi?
Lanfranchi: In der Forschungssituation hat sich in den vergangenen 15 Jahren nichts Wesentliches verändert. Es ist einerseits erwiesen, dass Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen schneller und besser lernen, wenn sie mit leistungsstärkeren Kindern zusammen sind. Andererseits sind leistungsstarke Kinder in Integrationsklassen nicht benachteiligt – im Gegenteil: Studien belegen, dass ihre Lernfortschritte grösser sind als bei leistungsstarken Kindern in homogenen Klassen. Das ist keine Ideologie, das sind Forschungsergebnisse, die auf Zahlen beruhen.
Andere Studien belegen wiederum, dass lernschwache Kinder und Jugendliche, die in der Regelklasse geschult werden, eine tiefere Selbsteinschätzung haben als ihre gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen in Sonderklassen.
Lanfranchi: Das stimmt, von den vielen positiven Befunden, die für die Integration sprechen, ist dies der einzige negative Effekt. Führt die Konfrontation mit den Besten nicht aber zu einem realistischen Selbstbild, das so oder so nötig ist beim Eintritt in die Berufsbildung?
Héritier: Der aktuelle Selektionsdruck führt gerade sehr leistungsschwachen Kindern täglich vor Augen, dass andere viel besser sind als sie. Sie werden stigmatisiert. Ich mache Ihnen ein Beispiel: In meiner früheren Klasse gab es Schülerinnen und Schüler, denen ich wegen ihrer ungenügenden Leistung schlechte Noten geben musste. Sie fühlten sich deshalb schlecht. Nun besuchen sie das tiefere Leistungsniveau der Sekundarschule und berichten regelmässig freudig über gute Noten. Was ich damit sagen will: Es braucht immer ein Setting, das an die individuellen Bedürfnisse angepasst ist. Nicht für alle ist dasselbe das Richtige.
Nicht für alle ist dasselbe das Richtige.
Jean-Michel Héritier
Lanfranchi: Genau, und deshalb wird auch nicht mehr im Gleichschritt unterrichtet. Es gelingt den meisten Lehrkräften, den Unterricht so zu gestalten, dass niemand blossgestellt wird und eine Kultur des gegenseitigen Respekts entsteht. Wird zum Beispiel ein leistungsschwaches oder verhaltensauffälliges Kind vor der ganzen Klasse gelobt, wenn es Fortschritte macht, stärkt das einerseits sein Selbstwertgefühl und motiviert andererseits die anderen Schüler dazu, ihren Kollegen anzuspornen.
Héritier: Da sind sie wieder, die ideologischen Diskussionen über die pädagogische Haltung der Lehrerinnen und Lehrer. Ich kann Ihnen versichern, wir Lehrer machen sehr viel: Wir besuchen Kurse um Kurse, gründen Selbstreflexionsgruppen und pädagogische Teams, die eng zusammenarbeiten und sich gegenseitig stärken, und optimieren uns ständig. Das strukturelle Problem bleibt jedoch bestehen. Es fehlen Möglichkeiten, die erlauben, eine Schülerin oder einen Schüler temporär aus einer Klasse herauszunehmen, um zu überprüfen, ob das Setting für diese Person stimmt, ohne dass der Unterricht aussetzt oder gar zusammenbricht.
Laut Umfragen unter Lehrkräften sind verhaltensauffällige Schüler, die den Unterrichtsbetrieb erschweren bis verunmöglichen, einer der grössten Belastungsfaktoren. Teilen Sie diese Meinung, Herr Héritier?
Héritier: Ja, dort liegt der springende Punkt für das Gelingen der integrativen Schule. Vor allem die Gruppe der sozioemotional auffälligen Schülerinnen und Schüler findet im heutigen Schulsystem häufig zu wenig geeignete Unterrichtssettings vor, die für ihre Entwicklung förderlich wären. Sie sind oft überfordert und blockieren ganze Unterrichtssequenzen. Da wird es für die Lehrpersonen enorm schwierig, ihrem Bildungsanspruch gerecht zu werden. Es kommt zu einem «Schwelleneffekt», bei dem das System der integrativen Schule kippt und kein geordneter Unterricht mehr möglich ist.
Gewisse Schulen setzen auch auf Time-out-Klassen oder Schulinseln, wo Schüler in Krisensituationen temporär separat beschult werden. Wie gut sind solche Lösungen?
Lanfranchi: Sie sind gut. Kinder, die auf eine Schulinsel kommen oder in ein Time-out geschickt werden, sind noch ihrer Regelklasse zugeteilt; sie kehren nach einigen Wochen oder Monaten wieder zurück. Diese Angebote dienen vor allem der Entlastung der Lehrpersonen.
Héritier: Nicht nur, sie sind auch für die betroffenen Kinder und das gesamte Setting eine Entlastung. Auf die Schnelle ist das für mich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Das sind aber noch keine langfristigen und vor allem keine nachhaltigen Lösungen, die eine präventive Wirkung entfalten können. Deshalb fordern wir in Basel Förderklassen.
«In 15 Jahren sitzen in diesen Förderklassen hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund.»
Andrea Lanfranchi
Wie sollen Sonderklassen das Problem lösen?
Héritier: Ich betone, dass wir weder Sonder- noch Kleinklassen wollen – niemand möchte zum alten, starren Modell zurück. Uns schwebt ein durchlässiges und niederschwelliges Modell vor, das während mehrerer Monate oder maximal ein bis zwei Jahren eine gewisse Separation erlaubt, gleichzeitig aber ermöglicht, dass Kinder rasch und unbürokratisch wieder in die Regelklasse zurückkehren können.
Lanfranchi: Darf ich Ihnen dazu ein paar Fragen stellen?
Héritier: Bitte.
Lanfranchi: Wer gehört in eine solche Förderklasse?
Héritier: Sozioemotional auffällige Schülerinnen und Schüler mit einem normalen IQ und ohne Anspruch auf IV, die in einer Regelklasse überfordert sind. Diese Kinder erleben wegen ihres Verhaltens ständig, dass sie anders sind. Damit sie aus diesem Teufelskreis herauskommen, sich auch einmal anders spüren und als Mensch wachsen können, müssen wir ihnen Schonräume bieten.
Lanfranchi: Wer entscheidet, wer in eine solche Klasse kommt, und aufgrund von welchen Kriterien?
Héritier: Die Lehrkraft stellt den Antrag, der von einer Fachstelle, zum Beispiel vom schulpsychologischen Dienst, geprüft wird.
Lanfranchi: Was passiert, wenn die Eltern mit dem Entscheid nicht einverstanden sind?
Héritier: Beim Modell der Kleinklassen war das Einverständnis der Eltern Bedingung. Bei den Förderklassen soll der Entscheid ebenfalls gemeinsam mit den Eltern gefällt werden.
Lanfranchi: Das Zielpublikum sollen verhaltensauffällige Kinder sein. Wir wissen aber aus soliden Studien, dass für diese Kinder soziale Kontakte mit Kindern ohne Verhaltensauffälligkeiten das wichtigste Förderkriterium sind. Wenn jedoch die Lehrerin oder der Lehrer die einzige Person mit angepasstem Verhalten ist, werden diese Kinder kaum gefördert. Sie sagen, dass Sie nicht zum alten Modell der Kleinklassen zurückkehren möchten. Ich befürchte aber, dass genau das passieren wird.
«Wenn wir aber von Anfang an den Teufel an die Wand malen, dann wird es nicht funktionieren.»
Jean-Michel Héritier
Was wäre so schlimm daran?
Lanfranchi: In 15 Jahren sitzen in diesen Förderklassen hauptsächlich Kinder mit Migrationshintergrund, die wegen ihrer ethnischen Herkunft, der Sprache und der sozialen Schicht diskriminiert werden. Eltern, die sich wehren können und finanzielle Möglichkeiten haben, werden ihre Kinder in eine Privatschule schicken. Die Kinder jener Eltern, die sich weder wehren können noch Geld haben, landen in dieser Klasse …
Héritier: … und werden dort vielleicht besser geschult als in ihrer aktuellen Klasse, wo sie andauernd stigmatisiert werden, weil es heisst: Du bist nicht gut, du genügst nicht oder dein Verhalten ist nicht richtig.
Lanfranchi: Aber solche Lehrerinnen, die ein Kind aufgrund seiner Leistungen stigmatisieren, haben in unserem Schulsystem nichts verloren.
Héritier: Das machen die Lehrpersonen nicht bewusst. Die Stigmatisierung ergibt sich aus der Situation heraus, weil zum Beispiel immer dasselbe Kind die Frage nicht verstanden hat und ausgelacht wird. Fakt ist, dass die integrative Schule in der heutigen Form selbst mit der besten und positivsten Haltung der Lehrperson nicht immer funktioniert.
Sonderklassen wie die von Ihnen geplanten Förderklassen sind mit einem Stigma behaftet. Wie wollen Sie das ändern, Herr Héritier?
Héritier: Wir müssen die Vorteile dieses Modells aufzeigen und bereit sein, die nötigen Untersuchungen durchzuführen, um die bestmögliche Lösung zu erreichen. Wenn wir aber von Anfang an den Teufel an die Wand malen, dann wird es nicht funktionieren. Unser Anliegen ist es, dass das, wovor Herr Lanfranchi warnt, eben nicht eintrifft.
Lanfranchi: Früher sprach man von Sonderklassen, später wurde die euphemistische Bezeichnung Kleinklassen eingeführt, um die Eltern zu besänftigen. Und neu sollen sie Förderklassen heissen. Der Name ändert sich, das Prinzip bleibt dasselbe: Die Kinder werden getrennt statt vereint. Internationale, nationale und kantonale Gesetze plädieren für eine Schule für alle, das ist auch eine ethische Position. In der Präambel unserer Verfassung steht: «Gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.»
Héritier: Ich habe diese ideologischen Diskussionen satt. Das Bild, das teilweise in der Politik von der früheren Kleinklasse gezeichnet wird, stimmt nicht in jedem Fall. Ein Beispiel aus Basel ist der beste Beweis dafür: Als der Bildungsdirektor im Parlament davon sprach, dass in Kleinklassen alle stigmatisiert worden seien und niemand eine Anschlusslösung gefunden habe, outete sich ein Grossrat und Präsident einer namhaften Partei als ehemaliger Kleinklassenschüler.
Dieses Interview erschien zuerst in den Tamedia-Medien
Integration ist ein unbestreitbarer Wert, sie kann in einer Regelklasse aber nur gelingen, wenn die Bedingungen stimmen: eine Klasse, die nicht schon mehrere Kinder mit besonderen Bedürfnissen besuchen, Kinder, die nicht ständig eine Spezialhilfe brauchen, also eine gewisse Selbständigkeit, kognitive Fähigkeiten und Aktivität in ihrem schulischen Umfeld aufweisen, so dass sie ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit entwickeln können – grundlegend für Lernfortschritte und Wohlbefinden, auf die jedes Kind ein Anrecht hat. Sodann müssen auch Themen und Methoden dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen, sonst findet eine Vereinzelung statt, die jede Integration verhindert. Dazu muss ein geeignetes Klassenklima entwickelt und gepflegt werden, hohe Ansprüche an jede Lehrperson. Die soziale Einbindung der integrierten Schüler, von gemeinsamen Spielen bis hin zu Verabredungen und Freundschaften, ist ebenso eine Grundvoraussetzung für Wohlbefinden. Verhaltensauffällige aktive Kinder gehen nicht so schnell unter, weil sie immer für Aufsehen sorgen. Aber wie steht es mit den ruhigen, eher passiven, denen ebensoviel Aufmerksamkeit und emotionale Stütze der Lehrperson zusteht? Diesen Spagat können und wollen nicht alle Lehrkräfte bei allem Engagement auf Dauer leisten. Es gibt meines Erachtens keine Pauschalantwort und kein Entweder-oder, wenn um das Wohl des Kindes geht. Von Herrn Lanfranchi hätte ich mir mehr Differenzierung erhofft. Den Vorschlag ev. zeitlich befristeter Kleinklassen, deren Durchlässigkeit damit gewährleistet ist, halte ich für erprobenswert.
Herrn Lanfranchi fehlt das Wissen, dass beim Lesen und Schreiben lernen zwei Sinne beteiligt sind, die ihre Eindrücke unterschiedlich verarbeiten. Es gibt keine Übereinstimmung. Wird das gesprochene Wort Lager als geschriebenes LAGER oder Lager optisch wahrgenommen, so besteht ein klar wahrgenommener Unterschied. Somit wird auch ein Bedeutungsunterschied erwartet. Diese Schwäche liegt in der Sache selbst, unabhängig von den Kindern und auch vom sozioökonomischen Status und dem Migrtionshintergrund.