7. November 2024

Fördern und fordern konkret: Frühförderung in Basel – mit Deutschkenntnissen in den Kindergarten

Auf der Suche nach erfolgreichen Integrationsmassnahmen stösst man unweigerlich auf die Frühförderung. Und dabei auch auf Skepsis. Mischt sich der Staat dabei zu früh ein? Gar noch mit Zwangsdurchmischung (Bussing) und DDR-mässiger Indoktrination? Auf Wunsch der Condorcet-Redaktion beschreibt der ehemalige Integrationsdelegierte Thomas Kessler nachfolgend das Basler Modell – und kann vorweg Entwarnung geben: Weder die Eltern noch die Parteien möchten das Angebot missen.

Thomas Kessler, Consulter in Migration, Internationale Kooperation und Stadtentwicklung, Leiter Integration & Antidiskriminierung BS / Stadtentwicklung 1999-2017.

Die Silvesterkrawalle in Berlin und anderen Städten haben in Westeuropa eine weitere Integrationsdebatte ausgelöst. Was geht schief? Wie kann, soll oder muss die Integration funktionieren? Die Frage ist nicht neu, die diesjährigen Wahlen in Berlin, in der Schweiz und anderswo geben ihr aber besonderes Gewicht. Und die aktuellen Umstände erlauben keine simplen Antworten; Ein zuviel oder zuwenig an Migration wird in ganz Europa gleichzeitig diskutiert, ebenso wie der akute Mangel an Fachkräften und die unterfinanzierten Rentensysteme. Wo konstruktiv debattiert wird, stellen sich rasch die nächsten Fragen: Wie kann das Potenzial der bereits hier lebenden Bevölkerung besser aktiviert, wie können Zuziehende rascher integriert werden?

Jörg Schild, Alt-Regierungsrat BS: Wie kann man Integraton verbessern?

Für die Antworten zu solchen Fragen hatte der damalige Regierungsrat (Minister) Jörg Schild bereits 1998 die Stelle eines Integrationsdelegierten geschaffen. Ich habe damals diese Funktion übernommen und Frau Dr. Rebekka Ehret der Universität Basel das Integrationsleitbild ausarbeiten lassen. Es definierte konkrete Massnahmen nach dem Potenzialansatz. Darauf wurde die kantonale Integrationspolitik auf das Motto „Fördern und fordern ab erstem Tag – verbindlich“ ausgerichtet und schliesslich im kantonalen Integrationsgesetz verankert. (Dieses wurde in einer Volksabstimmung grossmehrheitlich angenommen.) Für die systematische Umsetzung und Steuerung wurde eine solide Datenbasis geschaffen und Kennzahlen definiert.

Was geht schief?

Die vorgängige Analyse zeigte den Handlungsbedarf auf. Es wurde ein eigentlicher „Reparaturstaat“ diagnostiziert, aufwändig ausgerichtet auf die Bewältigung von Integrationsdefiziten wie mangelnder Spracherwerb, Bildungslücken, Schulversagen, Krankheit und Delinquenz sowie Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit. Dem standen vergleichsweise geringe Investitionen in die Entfaltung und Nutzung der menschlichen Potenziale gegenüber. Da zeigte sich das Bild einer Firma mit einer riesigen Reparatur-, aber nur kleinen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen. Ein solches Unternehmen würde in der Privatwirtschaft sofort konkurs gehen. Damals hatten nicht wenige Kinder beim ersten Zahnarztbesuch derart verfaulte Zähne, dass das gesamte Gebiss per Operation saniert werden musste. Kostenpunkt 10’000 Franken pro Kind. Das Bild der falsch aufgestellten Firma wurde in der kantonalen Politik verstanden, entsprechend war der Goodwill für den Investitionsgedanken gross. Es bestand (damals noch mit Ausnahme der SVP) Konsens: Nicht mehr auf Probleme warten, sondern früh vorbeugen und die Menschen stärken.

Für Personen mit besonderem Integrationsbedarf wurde das Instrument des verpflichtenden Integrationsvertrages eingeführt. Dieser legt die individuellen Ziele und Kursbesuche fest und ist mit der Aufenthaltsbewilligung verknüpft.

Die neue Politik verband den Potenzialansatz mit proaktivem Handeln und Kohärenz. Die Zuziehenden, die neuen Baslerinnen und Basler,  sollten vom ersten Tag an nach dem Prinzip des Fördern und Forderns begrüsst, informiert, motiviert und zu Engagement angehalten werden. Dreistufige Willkommensanlässe bei den Behörden, NGO und in den Quartieren wurden kombiniert mit Beratungsangeboten und Gratis-Deutschkursen im ersten Aufenthaltsjahr. Für Personen mit besonderem Integrationsbedarf wurde das Instrument des verpflichtenden Integrationsvertrages eingeführt. Dieser legt die individuellen Ziele und Kursbesuche fest und ist mit der Aufenthaltsbewilligung verknüpft.

Als wichtigste Massnahme mit dem grössten Nutzen wurde die Frühförderung erkannt: das Deutschlernen vor dem Kindergarten. Engagierte Kindergärtnerinnen hatten in den 1990er-Jahren begonnen, die Defizite der Kinder und den Förderbedarf statistisch zu erfassen. Über ein Drittel der Kinder starteten weit hinter der Linie. Gleichzeitig meldeten die Kinder- und die Zahnärztinnen dringenden Informations- und Beratungsbedarf, damals namentlich für Zuziehende aus Südosteuropa und Vorderasien. Es kamen Kinder in die Spielgruppen und Kindergärten, die nicht Treppensteigen konnten und motorisch unterentwickelt waren. Es wurde festgestellt, dass die Familienberatung genau jene Eltern nicht erreicht, die das Angebot besonders bräuchten. An den Schulen nahm die Anzahl jener Fälle zu, in denen Eltern aus weltanschaulichen Gründen eine Sonderbehandlung und Dispensationen forderten.

Es kamen Kinder in die Spielgruppen und Kindergärten, die nicht Treppensteigen konnten.

Der Kanton reagierte mit der Ausweitung des Förderangebots und der Elternpflichten. Das Schulgesetz wurde angepasst, die Teilnahme an Elternabenden wurde zur Pflicht, ebenso die Teilnahme der Kinder an sämtlichen Stunden – inklusive Schwimmen und Sexualunterricht. Die einzelnen Verweigerer wurden gebüsst. Breite Informationskampagnen und zielgruppenspezifische Anlässe klärten über die neuen Regeln auf.

Die Teilnahme an Elternabenden wurde zur Pflicht, ebenso die Teilnahme der Kinder an sämtlichen Stunden – inklusive Schwimmen und Sexualunterricht.

Die bestehenden Spielgruppen und Frühförder-Angebote, zum Beispiel beim Kurszentrum K5, wurden in den systematischen Fach-Austausch integriert und  wissenschaftlich begleitet. Es zeigte sich, dass das Angebot auf alle Kinder mit Förderbedarf ausgeweitet werden muss, da der der Erfolg vom Eintrittsalter, der Förderqualität und der Förderzeit abhängig ist.

Nach umfangreichen gesetzlichen, wissenschaftlichen und organisatorischen Vorarbeiten startete das Erziehungsdepartement 2013 das Kernprojekt – „Deutsch vor dem Kindergarten“.  Es wurde für Kinder ab drei ein selektives Obligatorium zur Frühförderung eingeführt, abhängig vom Sprachstand, überprüft per Fragebogen.

2008 schliesslich hat der damalige Regierungsrat Christoph Eymann die Pläne für die sprachliche Frühförderung präsentiert. Nach umfangreichen gesetzlichen, wissenschaftlichen und organisatorischen Vorarbeiten startete das Erziehungsdepartement 2013 das Kernprojekt – „Deutsch vor dem Kindergarten“.  Es wurde für Kinder ab drei ein selektives Obligatorium zur Frühförderung eingeführt, abhängig vom Sprachstand, überprüft per Fragebogen. Seither besuchen über die freie Auswahl der Angebote über ein Drittel der Kinder zweimal pro Woche für jeweils drei Stunden eine der rund 40 qualifizierten Sprachförder-Spielgruppen, oder eine Kita oder Tagesfamilie während zwei ganzen oder vier halben Tagen. Individuelle privat organisierte Förderung durch anerkanntes Personal ist auch möglich. Aktuell sind es 751 Kinder, das entspricht 46% der 1650 begrüssten Familien. Die Flüchtlinge aus der Ukraine haben den Wert angehoben.

Die Akzeptanz bei den Eltern ist enorm gross, lediglich 10-20 Fälle pro Jahr müssen rechtlich abgeklärt werden. Wobei der Anteil der Eltern, die zusätzlich vom Angebot profitieren möchten, grösser ist als jener, der die Zuteilung ablehnt.

Signifikante Wirksamkeit

Professor Alexander Grob der Universität Basel hat das Projekt über mehrere Jahre evaluiert; seine Erkenntnisse haben die signifikante Wirksamkeit festgestellt. Sie bestätigen die bisherigen Studien. Je früher mit der Förderung begonnen wird, je intensiver und länger, je grösser ist der Integrationserfolg durch Spracherwerb, vertraut werden mit Gruppen, Regeln und Bildungssystem. Häufiges gemeinsames Üben führt auch zu besserer Motorik. Problemfälle mit zusätzlichem Betreuungsbedarf werden früh erkannt und können der Beratung zugeführt werden. Dafür ist das Projekt im koordinierenden Zentrum für Frühförderung unter Leitung von Frau Dr. Noortje Vriends (ZFF, www.zff.bs.ch) angegliedert.

Das Projekt gilt schweizweit als „Best practice“ und wird im Kanton Luzern und in den Städten Chur, Schaffhausen und Zürich kopiert.

Das Projekt gilt schweizweit als „Best practice“ und wird im Kanton Luzern und in den Städten Chur, Schaffhausen und Zürich kopiert. Die Studie, eine Nachanalyse von Prof. Martin Hafen der Hochschule Luzern (von 2019) und die Erfahrungen zeigen, dass die integrierende Wirksamkeit mit zusätzlichen Stunden in den Förder-Institutionen noch gesteigert werden kann.

In Basel-Stadt ist das Projekt inzwischen auch politisch völlig unbestritten. Am Donnerstag 19. Januar 2023 fand eine öffentliche Diskussion zu den Silvesterkrawallen und den Erkenntnissen zur Integration statt. Mitdiskutiert haben Migrantinnen, der Präsident der SVP, lokale Vertreter der SP, FDP und GLP, Nationalrat Mustafa Atici, Fachleute des Strafgerichts, der Staatsanwaltschaft, der Migrationsämter sowie der Schulen und der psychologischen Beratung. Konklusion: Die frühe Förderung muss ausgebaut, die beratende Unterstützung überforderter Eltern intensiviert, der Erfolg des Bildungswesen verbessert und die Berufsbildung in Anerkennung und Positionierung gestärkt werden.

In den Schweizer Städten leben bis zu 170 verschiedene Nationalitäten.

Die lokalen Erkenntnisse und Folgerungen lassen sich direkt auf die landesweiten Debatten zur Integrationsfähigkeit der Gemeinwesen, der Schulqualität, der 9-Millionen-Schweiz und dem akuten Fachkräftemangel übertragen. Nicht Polemik und Ideologie bringen uns weiter, sondern die konkrete Anstrengung der Integration. Einen bequemen Lift gibt es nicht.

Was die Tagespolitik auch immer tut und politisch diskutiert wird, unabhängig davon wird die Gesellschaft immer vielfältiger: jede zweite Ehe ist binational, auf dem Campus der Pharmakonzerne, in der Logistik, dem Bau, Sicherheit und Gewerbe, überall arbeiten weit über 100 Nationen. In den Schweizer Städten leben rund 170 Nationen, die Hälfte der Bevölkerung hat auf drei Generationen gesehen einen so genannten Migrationshintergrund. Parallel dazu hat die Anzahl Kinder stark abgenommen, seit zwei Generationen wächst die Bevölkerung nur noch über die Immigration und steigende Lebenserwartung. Inzwischen nimmt auch die Anzahl Berufstätiger ab – in den Nachbarländern noch stärker als bei uns. Europa wächst nur noch in der Altersgruppe der Rentnerinnen und Betagten.

Das Potenzial gut pflegen, fördern und fordern ist also grundsätzlich notwendig. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, wird aus gesellschaftlicher Not und wirtschaftlichem Druck neu entdeckt. Tun wir es – richtig und beherzt!

 

 

 

 

 

 

 

 

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3 Kommentare

  1. Interessanter Beitrag. Da fragt man sich, weshalb die Stadt Basel in allen Vergleichstesten (ÜGK, PISA, Nordwestschweizer Vergleichsteste) immer mit Abstand den letzten Platz belegt und mehr als 20% der Basler Schülerinnen und Schüler nicht richtig lesen und schreiben können. Und noch mehr staunt man, wenn der Bildungschef der Stadt Basel, Conradin Cramer, dies regelmässig auf die hohe Migrantenquote zurückführt (die übrigens in anderen Städten genau so hoch ist). Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder taugen die Tests nicht, oder das Basler Projekt ist doch nicht so gut, oder Herr Cramer “flunkert”.

  2. Vielleicht sollte man einfach mal die Lehrkräfte befragen, die seit Jahren oder Jahrzehnten unterrichten. Anstatt sich immer auf sogenannte Expert*innen zu verlassen, die den Fokus meist aus der Sicht ihres Schreibtisches oder anderer sogenannten Expert*innen, Berichte oder Studien richten. Die wahren Experten sind meiner Ansicht nach die Lehrenden und die Lernenden. Warum immer so kompliziert? Aber uns fragt ja niemand. Mich jedenfalls nicht, und ich bin seit gut 28 Jahren im System.
    Und ja Herr Hart, Herr Cramer schreibt lieber Bücher über sich selbst. Und das ist unser Bildungsdirektor!

  3. Ich habe im Text nichts über die “falsche” Zusammensetzung der Immigration nach Europa (auch in die Schweiz) gelesen. Wenn zum Beispiel auf 100 benötigte Fachkräfte mit überdurchschnittlicher Bildungs- und Berufskompetenz 300 Personen kommen, deren Nachwuchs die Defizite aufweist, die Herr Cramer beschreibt, stimmt mit dem ganzen Migrationssystem etwas nicht. Mit der Immigrationspolitik Europas wird der technologische Abstand zu den führenden Ländern (USA, China, Japan, Israel, Taiwan, Korea…) weiter anwachsen, da können wir noch so viel fordern und fördern. Irgendwann reichen auch die Mittel dazu nicht mehr….

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