13. November 2024

Wie die Zürcher Bildungsbehörden sich eine wissenschaftliche Begründung für den Frühsprachenbeginn erschummelten

Die geneigten Leserinnen und Leser unseres Blogs mögen uns verzeihen, dass wir in letzter Zeit eine regelrechte Salve zum Frühfremdsprachenunterricht vom Stapel gerissen haben. Das kann bei der einen oder dem anderen schon einen «Gähneffekt» auslösen. Es kommt aber immer wieder zu neuen Erkenntnissen, unter anderem herbeigerufen von Papieren, die uns Mitarbeitenden des Condorcet-Blogs zugeschickt werden. Beim vorliegenden Papier handelt es sich um ein Gutachten, das von Prof. Dr. RUDOLF WACHTER erstellt wurde und aus dem Jahr 2004 stammt. Es führt uns zurück in die Vorgeschichte der Frühfremdsprachen in unserem Land, bzw. um die Frage, wie es möglich war, dass eine ganze Bildungsnomenklatura mitsamt Presse-und Parteienlandschaft den hanebüchenen Irrweg des Frühfremdsprachenunterrichts propagierten und damit Erfolg hatten?

Prof. Dr. Rudolf Wachter, Universität Basel: Von einem unabhängigen Gutachten kann keine Rede sein.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben mich, den vergleichenden Sprachwissenschafter, gebeten, die wissenschaftliche Grundlage der Entscheidung des Bildungsrats und der Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, von 2005 an Englisch ab der 2. und Französisch ab der 5. Primarklasse unterrichten zu lassen, zu beurteilen, und speziell die Frage, ob es sinnvoll ist, mit beiden Sprachen bereits in der Primarschule zu beginnen.

(1) Erste Vorbemerkung: Die Erziehungsdirektion hat in dieser Frage, ein «wissenschaftliches Gutachten» eingeholt, nämlich von Prof. Dr. Otto Stern, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, datiert vom 3.10.2002.

Da Stern in Projekten rund um den Fremdsprachunterricht an der Primarschule des Kantons Zürich und in der Entwicklung von dafür vorgesehenen Lehrmitteln massgeblich beteiligt ist, kann freilich von einem unabhängigen Gutachten nicht die Rede sein (auf «unabhängig» legt die Erziehungsdirektion sonst grossen Wert, z.B. in ihrer Broschüre «Evaluationsergebnisse zu Projekten der Zürcher Volksschulreform» vom August 2002, wo der Begriff gleich dreimal verwendet wird), und Stern weist einleitend auf die tendenziöse Stossrichtung seines Dokuments in durchaus offenherziger Weise hin:

In der Darstellung der Forschungsergebnisse werde ich eine argumentative Linie verfolgen, die dem Zweck dieses Gutachtens gerecht wird, kritischen Einwänden zur geplanten Volksschulreform fundierte Argumente[n] gegenüber zu stellen.

Solche Insider-Gutachten durch die öffentliche Hand für die öffentliche Hand werden heutzutage leider sehr oft erstellt. Sie sind in ihrem wissenschaftlichen Wert grundsätzlich fragwürdig. Aussagekräftig können sie nur sein, wenn sie zu mehreren eingeholt werden, von ausserkantonalen oder gar internationalen Fachleuten verfasst sind und die Fragen kritisch abwägen.

Im vorliegenden Fall war O. Sterns Gutachten offenbar das einzige, das die Erziehungsdirektion in dieser Frage einholte, und zwar erst nach der «Evaluation» (die, wie gesagt, im August 2002 abgeschlossen war), offenbar weil man etwas spät bemerkte, dass diese zentrale Frage überhaupt nicht «wissenschaftlich» untermauert worden war, sondern einzig auf einer politischen Idee basierte.

Der ehem. Erziehungsdirektor Ernst Buschor: Organisierte sich genehme Gutachten.

Dies ist nicht Sterns Vergehen, sondern RR Buschors und zeigt die Art und Weise, wie Politiker wissenschaftliche Gutachter für ihre Zwecke einspannen können. Denn ein anderer Wissenschafter, ja vielleicht sogar Stern selbst, hätte, wie wir gleich sehen werden, ohne Mühe auch ein kritisches oder gar negatives Gutachten zum Vorhaben der Erziehungsdirektion produzieren können. Darauf will ich hier aufmerksam machen, indem ich die «fundierten Argumente» Sterns unter die Lupe nehme.

Bei aufmerksamem Lesen von Sterns Papier wird nämlich schnell klar, dass über «Richtig» und «Falsch» in dieser Frage auf wissenschaftlicher Grundlage gar nichts ausgesagt werden kann, weil keinerlei relevante Daten existieren, weder fremde noch von Stern selbst erhobene.

Bei aufmerksamem Lesen von Sterns Papier wird nämlich schnell klar, dass über «Richtig» und «Falsch» in dieser Frage auf wissenschaftlicher Grundlage gar nichts ausgesagt werden kann, weil keinerlei relevante Daten existieren, weder fremde noch von Stern selbst erhobene. Damit ist und bleibt die Frage eine rein politische und muss durch bildungs-, sprach- und staatspolitische, finanzielle, stundenplanerische, ausbildungstechnische und dergleichen Argumente entschieden werden. Das Vorschieben eines wissenschaftlichen Gutachtens durch Buschor für die Beschlussfassung im März 2003 war eine rein taktische Massnahme.

Die Angelegenheit scheint mir im übrigen von grösster Bedeutung zu sein, da sich einerseits das Schweizerische Bildungssystem zur Zeit keine weiteren Misserfolge leisten kann und andererseits Zürich in dieser Frage eine besonders hohe Verantwortung trägt angesichts der Tatsache, dass die anderen Kantone der Ost- und Zentralschweiz nach Zürich blicken wie die Kaninchen auf die Schlange. In diesem Sinne wäre die Zürcher Erziehungsdirektion m.E. gut beraten, besonders aufmerksam auf die kritischen Stimmen aus den Kreisen der im «Schulprojekt 21» (SP21) involvierten Lehrkräfte zu hören. Diese Stimmen sind, soviel ich sehe, die einzigen, die im Rahmen der sogenannten Evaluation auf einer soliden Wissensgrundlage stehen.

Im Folgenden zerzaust Dr. Wachter bereits die fehlerhaften Annahmen von Herrn Stern und widerlegt fast alle Narrative, die dem Erlernen von Fremdsprachen nach dem Motto «Je Früher, desto besser» angedichtet worden. Das ganze Gutachten können Sie hier studieren:

wachtergutachten(3)

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