28. März 2024

Darum gibt es in Finnland keinen Lehrkräftemangel

Der Lehrberuf ist in Deutschland und etwas weniger in der Schweiz für viele unattraktiv geworden. Lehrende haben zu wenig Zeit für das, was sie eigentlich tun wollen – nämlich junge Menschen zu unterrichten. Wieder einmal steht Finnland im Fokus, das es besser zu machen scheint. Wir schalten ein Interview der WDR-Journalistin Susanne Schnabel auf, das sie mit dem Finnland-Kenner Dr. W. Giessen geführt hat. Auffallend hier: Die finnischen Lehrkräfte haben viel mehr Freiheiten.

Rund 8.000 Lehrerstellen sind in NRW offen. Auch das aktuelle Deutsche Schulbarometer – eine Befragung unter Schulleitern – nennt den Personalmangel als Problem Nummer eins. Die Politik will Maßnahmen auf den Weg bringen, um gegenzusteuern – in NRW zum Beispiel mit mehr Quereinsteigern. Doch laut OECD-Studie klagen Quereinsteiger über mangelnde Teamarbeit, Lehrende über zu viel Bürokratie, Zeit für Austausch und Arbeit am Unterricht ist rar.

Solche Probleme hat nicht nur Deutschland, aus ganz Europa kommen Berichte über einen massiven Mangel an Lehrpersonal. Außer in Finnland. Warum das so ist, darüber haben wir mit dem Finnland-Experten Professor Hans W. Giessen gesprochen.

 WDR: Welchen Stellenwert haben Lehrer in Finnland?

Kein Lehrermangel in Finnland – im Gegenteil!

Hans W. Giessen: Die finnischen Lehrer sind in der Gesellschaft viel mehr akzeptiert als bei uns – vom Ranking her ähnlich wie Ärzte oder wie Polizisten. In Finnland gibt es sehr viele, die sich aktiv und bewusst für den Lehrberuf entscheiden: Rund zehn Prozent eines jeden Jahrgangs. Auf 100 Studienplätze kommen fast 1.000 Bewerber, schon seit Jahren.

WDR: Wie viel verdienen Lehrerinnen und Lehrer in Finnland?

Giessen: Sie verdienen etwa 3.000 Euro brutto, also im Schnitt etwas weniger als bei uns. Da Finnland etwas teurer ist als Deutschland, ist die Kaufkraft geringer. Aber man kann das nicht wirklich vergleichen: In Finnland ist man nicht verbeamtet und die Schulträger sind nicht notwendigerweise staatliche Institutionen, sondern häufig private Organisationen, Fördervereine oder Stiftungen. Sie entscheiden selbst, wie sie das Geld ausgeben – also auch für Gehälter. Zudem sind viele Sozialleistungen steuerfinanziert und die Arbeitsstunden sind geringer.

WDR: Wie gestaltet sich die Ausbildung der Lehrer?

Giessen: Die ist sehr ähnlich wie bei uns. Wenn man zum Beispiel Deutschlehrer werden will, studiert man Germanistik und muss zusätzlich ein Pädagogikstudium sozusagen als Nebenfach studieren.

Sie haben mehr Freiheiten und Verantwortung als in Deutschland. Es gibt beispielsweise kaum Vorgaben, welche Lehrmaterialien oder Methoden sie nutzen sollen.

WDR: Neben der gesellschaftlichen Anerkennung, was macht das Lehrerdasein in Finnland so attraktiv?

Giessen: Sie haben mehr Freiheiten und Verantwortung als in Deutschland. Es gibt beispielsweise kaum Vorgaben, welche Lehrmaterialien oder Methoden sie nutzen sollen. Aber es wird kontrolliert, ob die zentralstaatlich festgelegten Inhalte erfolgreich vermittelt werden konnten. Die Lehrer arbeiten in Teams mit allgemeinen Pädagogen, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, Psychologen und Schulassistenten zusammen.

WDR: Hat der Staat mehr Vertrauen zu seinen Lehrkräften als bei uns?

Mehr Freiheiten für die Unterrichtsgestaltung.

Giessen: Ja. Das ist ein kulturelles Phänomen in Finnland. Der Staat hat mehr Vertrauen in seine Bürger als in Deutschland und umgekehrt – auch die Bürger haben mehr Vertrauen in den Staat. Die finnische Lebenseinstellung spiegelt sich im Schulsystem wieder: Ausdauer, Beharrlichkeit, aber auch Verantwortungsgefühl und gegenseitige Rücksichtnahme. Es gibt dieses Bestreben nach gesamtgesellschaftlicher Ausgewogenheit und nicht nach Hierarchien.

WDR: Seit vielen Jahren pilgern Bildungsexperten und Politiker nach Finnland, um das erfolgreiche Schulsystem zu verstehen. Was könnten wir übernehmen?

Giessen: Ich finde es fraglich, ob man das finnische System kopieren oder importieren kann, weil es eben unter anderen Voraussetzungen funktioniert, einem anderen Ethos, bei dem gegenseitige Rücksichtnahme und Selbstdisziplin einen viel höheren Stellenwert haben. Aber Kultur ist nicht statisch, auch sie kann sich wandeln. Zudem habe ich den Eindruck, dass in Deutschland Lehrer mittlerweile wieder ein höheres Ansehen genießen. Ihnen mehr Freiheiten und Verantwortung zu geben, wäre ein guter ein Ansatz.

Das Interview führte Susanne Schnabel.

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2 Kommentare

  1. “Zudem habe ich den Eindruck, dass in Deutschland Lehrer mittlerweile wieder ein höheres Ansehen genießen.”

    Das reicht, um seine Brötchen als Pointenschreiber für Comedians zu verdienen.

  2. ‘Seit vielen Jahren pilgern Bildungsexperten und Politiker nach Finnland, um das erfolgreiche Schulsystem zu verstehen. Was könnten wir übernehmen?’
    Es sind Pilgerreisen ohne jegliche Nachwirkungen. Warum? Unterschiedliche Grundhaltungen der Lehrpersonen Lernenden gegenüber. Die finnische Volksschule kennt keine Selektion. Fördern und Fordern sind für sämtliche Lehrpersonen verbindlich. Die schweizerische Volksschule hat zusätzlich einen selektiven Auftrag. Selektionieren und diskriminieren erschweren die Integration. Obschon Integration im Gesetz vorgeschrieben ist, besteht keine gesetzliche Grundlage für die Selektion, welche konsequent in sämtlichen Kantonen durchgeführt wird. Fördern und Selektionieren: ein paradoxer Doppelauftrag, an dem viele Lehrpersonen scheitern.

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