29. März 2024

Silvia Steiner, pumpen Sie immer mehr Geld in die Schulen hinein?

Daniel Wahl, Nebelspalterjournalist interviewt die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner, dabei geht es um die Integration, die Lesekompetenz, den Lehrkräftemangel und – wie immer – um das liebe Geld.

Daniel Wahl, Journalist Nebelspalter

Die Baustellen der Volksschule sind gross: Landesweit steht die Integration von Kindern mit heilpädagogischen Diagnosen und von Verhaltensauffälligen in die Regelklasse in der Kritik; die Integrative Schule führe zur Überlastung des Schulystems, heisst es. Zudem kämpfen die Volksschulen mit dem Lehrermangel, während gleichzeitig die Tagesschule mit pädagogischer Betreuung ausgebaut wird. Die Züricher Bildungsdirektorin Silvia Steiner, Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz und Mutter von zwei erwachsenen Kindern, will aber am System nicht rütteln. Höchstens ein paar Stellschrauben anziehen, wie sie im Interview mit dem «Nebelspalter» sagt.

Silvia Steiner, Sie haben zwei erwachsene Kinder, die die Volksschule durchlaufen haben, eines über die Berufsbildung mit Berufsmatur, eines mit gymnasialer Matur. Waren Sie zu allen Zeiten mit den Schulen zufrieden?

Die Laufbahnen, die meine Kinder eingeschlagen haben, zeigen, dass das schweizerische duale Bildungssystem funktioniert. Die Durchlässigkeit ist gegeben. Bei meinem Enkelkind beobachte ich, wie wichtig die frühe Förderung ist, die mir ein grosses Anliegen ist.

Sie scheinen – auch wenn man Ihre Aussagen in der Vergangenheit liest – extrem zufrieden mit unserem Schulsystem zu sein. Wir haben aber die teuerste Volksschule der Welt, die mittlerweile 20 Prozent der Schulabgänger produziert, welche die Mindestanforderungen nicht erreichen. Warum können Sie so zufrieden sein?

Wenn ich Zufriedenheit ausstrahle, dann darum, weil ich der Überzeugung bin, dass wir ein funktionierendes Schulsystem haben; dafür bin ich als Bildungsdirektorin auch verantwortlich. Viele unserer Lehrpersonen machen einen extrem guten Job, knien sich in die Arbeit und haben Freude daran. Das gibt mir Vertrauen ins System. Selbstverständlich sind mir Fälle bekannt, die nicht optimal laufen und die man systemisch verbessern kann. Es gibt da einiges, was ich noch optimieren möchte, und ich befinde mich damit in einem Spannungsfeld zwischen dem, was wünschbar und was politisch umsetzbar ist.

Die Frage ist doch, was es zu korrigieren gibt.

Dass das System Volksschule funktioniert, wie Sie sagen, sehen mittlerweile viele Kräfte im Land nicht mehr so. Von der Waadt über Bern bis nach Basel steht die Integrative Schule in der Kritik (Der «Nebelspalter» berichtete). Umfragen zeigen, dass das der wahre Grund für die Überlastung der Lehrer ist. Sehen Sie keinen Korrekturbedarf?

Die Frage ist doch, was es zu korrigieren gilt. Sollen wir das Pendel der Integration wieder völlig zurückschlagen lassen und die Schüler wieder separiert unterrichten? Sollen wir Kindern mit besonderen Bedürfnissen wieder einen Stempel aufdrücken? So würde man die Behindertenrechtskonvention und die Verfassung missachten, die den Anspruch auf gleichwertige und gemeinsame Ausbildung festlegt. Die Integrative Schule ist eine Errungenschaft unserer Gesellschaft, die ich nicht einfach rückgängig machen will. Eine Reintegration von separierten Kindern, das zeigen viele Untersuchungen, ist später kaum mehr möglich. Zudem muss ich in Erinnerung rufen, dass wir eine integrative und keine inklusive Schule haben: Zwei Prozent der Kinder werden nach wie vor über separative Wege wie Sonderschulen gefördert, zwei Prozent integriert. Ich glaube, es geht darum, die Mittel so zu verteilen, dass die Integrative Schule tragbar wird. Auch das ist ein Spannungsfeld.

«Sollen wir das Pendel der Integration wieder völlig zurückschlagen lassen und die Schüler wieder separiert unterrichten?»

Silvia Steiner, Bildungsdirektorin des Kantons Zürich

In der UN-Konvention von Salamanca aus dem Jahr 1994 stehen nicht organisatorische Fragen im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden. Das kann auf separativem Weg vermehrt geschehen, gerade, wenn unser System überlastet ist.

Sie reden von Entlastung und nicht von Integration. Das sind für mich zwei verschiedene Dinge. Wir müssen es doch schaffen, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen – darunter zähle ich Hochbegabte wie auch körperlich oder geistig Beeinträchtige – in der Volksschule adäquat beschult werden können. Es gibt Schulen, wo das wunderbar klappt, und andere, wo das weniger gut klappt. Für mich stellt sich die Frage, wie stark korrigiert werden muss.

Ja, wie stark?

Genau so viel, wie es braucht, und nicht mehr.

Wo setzen Sie an?

Korrigieren können an der Basis die Gemeinden und die Schulleitungen. Diese müssen die Instrumente haben und nutzen: Zum Beispiel die Klassen so zusammensetzen, dass es nicht zur Überlastung der Lehrkräfte kommt. Ich wünsche mir, dass die Schulen den Mut aufbringen, auch ausserordentliche Lösungen zu finden; unser Gesetz lässt dafür viel Spielraum. Zudem bietet der Kanton für sehr schwierige Fälle separative Lösungen. Ich bin aber dagegen, dass man diese exzessiv und flächendeckend anwendet, weil es für ein Kind etwas Endgültiges hat.

Wenn ich Sie richtig verstanden haben, dann delegieren Sie das Problem an die Gemeinden und der Kanton muss keine Korrektiv-Impulse geben?

Nein, der Kanton steht im konstanten Austausch mit den Gemeinden und führt ein Monitoring bezüglich Sonderschulung und den heilpädagogischen Bedürfnissen. Der Kanton kann bei Bedarf mehr finanzielle Mittel sprechen. Damit können beispielsweise die Stellenprozente erhöht werden, wenn die Belastung in einzelnen Orten nachgewiesenermassen zu gross wird. Dann haben wir das Programm Quims. Es steht für «Qualität in multikulturellen Schulen» und  spricht Schulen mit ausgeprägter multikultureller Zusammensetzung mehr Mittel zu. Und schliesslich prüfen wir immer, ob wir die Entscheidungswege beschleunigen können. Mich stört zum Beispiel, dass eine Lehrkraft zu lange auf Entlastung warten muss, wenn sie zu viele sehr anspruchsvolle Kinder in ihrer Klasse betreuen muss.

Zusammenfassend halten Sie am System fest, und räumen ein, an gewissen Positionen schrauben zu müssen. Tatsache ist doch, dass Eltern zunehmend mit der Integrativen Schule unzufrieden sind, weil sie das Klassenniveau nach unten zieht. Ist es nicht auch das Recht eines Kindes, in einem niveaugerechten Umfeld unterrichtet zu werden?

Diesen Gedanken kann ich auch nachvollziehen. Im Rahmen der Behindertenrechtskonvention wurden Forderungen aufgestellt, dass selbst Schwerstbehinderte in einer Regelklasse unterrichtet werden müssten. Dort sehe ich Grenzen. Auch für die Betroffenen kann es unangenehm sein, nicht im adäquaten Umfeld betreut und ständig damit konfrontiert zu werden, dass alle anderen völlig uneingeschränkt zur Schule gehen können.

«Mich stört, dass eine Lehrperson zu lange auf Entlastung warten muss, wenn sie zu viele sehr anspruchsvolle Kinder in ihrer Klasse betreuen muss.»

Silvia Steiner, Bildungsdirektorin des Kantons Zürich

In einer Integrativen Schulen sind selbst die Verhaltensauffälligen ausgestellt.

Diese Fragestellungen müssen aus einer ethischen Perspektive und dem Blickwinkel der Betroffenen betrachtet werden, und zwar individuell unterschiedlich. Es gibt nicht einfach Schwarz und Weiss.

Themawechsel: Nach der Annahme der Tagesschule muss die Stadt Zürich 174 Millionen Franken in die Infrastruktur investieren und die pädagogische Betreuung mit jährlich 126 Millionen Franken finanzieren. Jetzt stehen Sie unter Druck, die Tagesschule für den ganzen Kanton zu ermöglichen. Zwei Vorstösse liegen vor. Wie umfangreich wollen Sie die Tagesschule ausbauen?

Im Jahr 2017 habe ich die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, damit die Gemeinden Tagesschulen gründen können. Für die Schülerinnen und Schüler ist der Besuch freiwillig.  Die Stadt Zürich hat Ende September die Vorlage für den Ausbau angenommen, muss dies aber selber finanzieren. Wie es die Gemeinden im Kanton machen, ist eine grosse Streitfrage. Wir haben ländliche und urbane Gebiete mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Letztlich steht es den Gemeinden frei, eine Tagesschule zu errichten.

Es ist nicht vorgesehen, dass ausgebildete Lehrpersonen die pädagogische Betreuung übernehmen.

Die Freiwilligkeit ist infrage gestellt, wenn die Tagesschule wie in der Stadt Zürich mit ein pädagogisches Konzept ausgebaut wird. Das führt dazu, dass Kinder in Tagesschulen mehr Unterricht haben und Aufgaben dort erledigt werden, während die Kinder immer weniger Hausaufgaben mit nach Hause bringen. Längerfristig benachteiligt dies das traditionelle Familienmodell. Unterstützen Sie das wirklich als Mitte-Politikerin?

Ich glaube nicht, dass Kinder im traditionellen Familienmodell etwas verpassen. Der Lehrplan 21 gibt ja vor, was vermittelt werden muss. Ich frage mich, wie viel pädagogische Unterstützung einem Kind überhaupt über Mittag mitgegeben werden kann…

Genau deswegen möchte die Linke möglichst qualifizierte Pädagogen in den Tagesschulen installieren.

Es ist nicht vorgesehen, dass ausgebildete Lehrpersonen die pädagogische Betreuung übernehmen. Das wäre auch viel zu teuer. Das pädagogische Konzept bezieht sich auf überfachliche Bereiche: Kinder lernen in der Tagesschule, wie man zusammen isst oder wie man miteinander umgeht. Letztlich müssen sich die Gemeinden selber die Frage stellen, welche Bedürfnisse und Anforderungen sie an eine Tagesschule stellen.

Der Ausbau der Tagesschulen mit pädagogischem Konzept dürfte den Fachkräftemangel, beziehungsweise den Lehrermangel verschärfen.

Die Gemeinden und jetzt konkret die Stadt Zürich müssen das entsprechende Personal dafür zuerst finden und auch bezahlen. Die Befürchtung, dass bei den Tagesschulen viele pädagogische Fragestellungen einfliessen, teile ich nicht. Die Tagesschulen vermitteln aber wertvolle soziale Kompetenzen.

Heute werden vor allem die Last der Integrativen Schule und die Teilzeitarbeit als Gründe für den Lehrermangel angesehen. Seltsamerweise spricht niemand über die ungebrochene Zuwanderung, die das Schulsystem zum Kollaps führt …

Auf die Demografie kann die Bildungsdirektion keinen Einfluss nehmen. Tatsache ist, dass wir zwischen 2011 bis 2022 ein Wachstum der Anzahl Schülerinnen und Schüler von rund 16 Prozent verzeichneten. Ein Teil ist vermutlich auf die Migration zurückzuführen, ein grosser Teil auf die Binnenmigration – und damit auf die Anziehungskraft des Kantons Zürich. So oder so: Wir erhalten eine Anzahl Kinder, und damit muss unser Schulsystem umgehen können.

Wird sich der Lehrermangel weiter verschärfen?

Wir haben im Kanton Zürich sei acht Jahren eine angespannte Situation. Jedes Jahr wurde es knapper, die Stellen mussten immer kurzfristiger besetzt werden. Aber wir haben es immer geschafft. In den letzten fünf Jahren eröffneten wir jährlich 100 bis 150 neue Klassen. Dafür benötigen wir jährlich zusätzlich rund 200 Lehrkräfte. Während der Pandemie verzeichneten wir weniger Stellenwechsel, jetzt scheint ein Nachholbedarf vorhanden zu sein. Die Fluktuation ist gestiegen, was die Situation in diesem Jahr verschärft hat. Doch wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Der Lehrkörper ist verjüngt worden, sodass wir nicht mit einer Pensionierungswelle rechnen müssen. Wir konnten alle Stellen besetzen, unser System ist recht belastbar. Wer gute Bedingungen bieten kann, ist im Vorteil.

In dieser angespannten Situation fordert der Züricher Lehrerverband, der sogenannte Lektionenfaktor sei zu erhöhen. Mit anderen Worten: Es seien statt 100 Stunden neu 200 für die Vorbereitung des Unterrichts zu entgelten. Da Lehrer nicht mehr als 100 Prozent arbeiten dürfen, werden Sie demzufolge noch mehr Lehrer für den Unterricht anstellen müssen. Warum bieten sie dafür Hand?

«Man kann uns nicht vorwerfen, dass wir das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfen.»

Silvia Steiner, Bildungsdirektorin des Kantons Zürich

Ich sage dazu weder Ja noch Nein. Ich habe die Vorstösse aus dem Kantonsrat entgegengenommen, weil ich der Meinung bin, dass sie geprüft werden müssen. Der Regierungsrat wird ein Paket mit Vorschlägen bringen und es in die Vernehmlassung geben. Welche Lösung gewählt wird, wird dann der politische Prozess zeigen. Aber dass man das anschaut und moderate, aber gute Verbesserungen für die Lehrpersonen entwickelt, da bin ich immer dafür. Besonders, wenn es zu einer Entlastung der Lehrkräfte führt. Wir haben aber auch noch ein ganz anderes Problem: Die gesellschaftlichen Ansprüche an die Schule haben sich gewandelt. Wir aber hinken diesen hintendrein. Die bedeutendste Reform war nicht etwa der Lehrplan 21, sondern der Weg hin zur individuellen Beschulung der Schülerinnen und Schüler. Das ist aufwändig. Wir stehen da an einem ganz anderen Ort als vor 25 Jahren, haben das aber in der Schulorganisation noch nicht richtig nachvollzogen.

Ich interpretiere dies als Fortsetzung Ihres politischen Weges: Sie pumpen immer mehr Finanzmittel in die Schulen hinein, um die Probleme zu lösen, ändern aber nicht das System. Wo ist das Ende der Fahnenstange?

Wir sind sehr sparsam unterwegs. Aber wo ich nicht sparen kann, ist bei der Anzahl der Lehrpersonen. Die werden durch die Zahl der Schuleintritte bestimmt. Ich räume hier gerne ein, dass unsere Direktion gesetzlich bedingt das grösste Stellenwachstum verzeichnet. Man kann uns nicht vorwerfen, dass wir das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfen. Das Kostenwachstum in der Bildung ist im Wesentlichen auf die steigende Anzahl Schülerinnen und Schüler zurückzuführen.

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2 Kommentare

  1. „Mich stört zum Beispiel, dass eine Lehrkraft zu lange auf Entlastung warten muss, wenn sie zu viele sehr anspruchsvolle Kinder in ihrer Klasse betreuen muss“, sagt Madame Steiner …

    ….. und mich stört u.a., dass Steiner’s Laden nicht in der Lage ist, die Lehrkräfte und Ersatzlehrkräfte innert Frist zu bezahlen: Löhne sind spätestens bis Ende Monat zahlbar und ganz sicher nicht mit 4 Monaten Verzögerung! Unglaublich.

    Diese Dame muss weg, nächstes Jahr haben die Stimmbürger die Chance für den Vollzug

  2. Seit bald zwanzig Jahren dreht man sich beim Sonderpädagogischen Konzept im Kreis herum. Viele Lehrerinnen und Lehrer tun sich schwer mit verhaltensauffälligen Schülern, welche den normalen Betreuungsaufwand bei Weitem übersteigen. Frau Steiner spricht mit keinem Wort von den gehäuft auftretenden gravierenden Fällen, wo ganze Klassen als Folge eines unhaltbaren Dogmas (“kein Schüler darf ausgegrenzt werden”) aus dem Ruder gelaufen sind. Es fehlt den Zürcher Schulen an Freiheiten, die finanziellen Mittel für die Unterstützung von Schülern mit hohem Betreuungsaufwand so einzusetzen, dass auch Kleinklassen oder teilseparative Lösungen wirklich infrage kommen. Obwohl man längst weiss, dass bei Verhaltensauffälligen eine stundenweise Betreuung durch Heilpädagoginnen wenig bringt, hält die Bildungsdirektion stur am reinen Integrationsmodell fest. Man verniedlicht die realen Schwierigkeiten in den Schulklassen und schimpft über den Sand im Getriebe bei der Hilfeleistung für die belasteten Lehrpersonen. Solange Frau Steiner nicht bereit ist, das Integrationsmodell flexibler zu gestalten, geht der Verschleiss an Lehrpersonal munter weiter.

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