28. März 2024

Kranke Jugend: Warum geht es ihnen so schlecht?

Die schlechten Meldungen um die Jugend reissen nicht ab. Selbst jetzt, ein halbes Jahr nach Beendigung der Pandemie, sind die Wartelisten in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken lang. In einem Interview spricht Allan Guggenbühl über Ursachen und Auswege. Man soll pessimistisch denken und optimistisch handeln, meint der Psychologe, der auch dem Condorcet-Blog stark verbunden ist.

Allan Guggenbühl, Psychologe: Jugendlichen mehr Widerstand leisten.

Grund zur Sorge haben die Jugendlichen nach wie vor genug: In Europa ist ein bedrohlicher Krieg ausgebrochen und auch die Klimakrise ist für niemanden bedrohlicher als für die junge Generation. Gleichzeitig sehen die Jugendlichen auf Social Media lauter schöne und erfolgreiche Menschen.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Oliver Bilke-Hentsch spricht angesichts zu grosser Herausforderungen von «erlernter Hilflosigkeit» die entsteht, wenn man immer wieder in Situationen kommt, in denen man nichts ausrichten kann. 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen würden psychische Auffälligkeiten zeigen, sagt er gegenüber dem Magazin «Fritz und Fränzi». Zehn Prozent sollten eigentlich behandelt werden, doch nur 1 Prozent bekommt diese Hilfe tatsächlich.

Kollege und langjähriger Psychologe Allan Guggenbühl bestätigt diese Einschätzung. Er betont aber, nicht immer müsse gleich ein Platz in der Psychiatrie gefunden werden und Möglichkeiten für ein erstes Gespräch könnten Eltern immer finden. In solchen Gesprächen ist er auch zu den Jugendlichen direkt. Guggenbühl findet die verbreitete «Schaumsprache» schädlich, bei der nur gesagt wird, was das Gegenüber hören will.

 

Die Jugendlichen könnten wieder ungehemmt feiern, offiziell ist die Pandemie vorbei. Aber nach wie vor sind viele psychisch nicht gesund – überrascht Sie das?

Allan Guggenbühl: Nein, es überrascht mich nicht. Man muss die Jugendzeit zwei- oder dreifach rechnen: Ein Jugendjahr entspricht mindestens zwei Erwachsenenjahren, weil so viel passiert in dem Alter und es so viele Aufgabe zur eigenen Persönlichkeit und der Frage, «Wer bin ich?», zu bewältigen gibt. Das geschieht, indem sich die Jugendlichen von den Eltern lösen. Sie müssen in einem halb-chaotischen Raum Erfahrungen machen. Durch Corona war das nicht mehr möglich. Nun geht es zwar wieder, aber die Kultur für diese Persönlichkeitsentwicklung muss erst wieder ins Laufen kommen.

Ein halbes Jahr Normalität reicht nicht für die Jugendlichen?

Nein, das reicht nicht! Sich in Banden und Cliquen zur organisieren, wo solche Erlebnisse möglich sind, braucht Zeit. Corona hat Nachwirkungen. Ich merke in den Therapiegesprächen, dass die Jugendlichen wieder am Suchen sind. Das wirft sie auf sich selber zurück, es geht ihnen dann teilweise erst jetzt schlechter, weil sie merken, sie haben nicht die Freundschaften, die sie gerne hätten. Ein anderer Faktor spielt in die Psyche der Jugendlichen, Corona-unabhängig: Wir lassen die Jugend etwas alleine.

Wie meinen Sie das?

«Wir lassen die Jugend etwas alleine.»

Es braucht Initiationen in diesem Alter, also Akte, welche die Jugendlichen in Schritten ins Erwachsenenleben führen. Dazu gehört in fast allen Kulturen das Aushandeln von Regeln und wichtigen Lebensinhalten mit den Alten, welchen Interessen soll man folgen, wie soll man sich kleiden usw…

Der Streit um unpassende Kleidung hat was Gutes?

Ja, heute mischen sich die Alten jedoch nicht mehr ein, die Jugend darf sich kleiden, wie sie will, was natürlich in Ordnung ist. Gegenstimmen sind jedoch auch wichtig, sie helfen sich zu finden. Erwachsensein drückt sich dann eben auch durch die Kleidung aus.

Wie denn?

Es signalisiert, dass man einen Schritt weiter weg von der Kindheit ist und man sozial etwas gemeistert hat. Unsere Ideologie hingegen ist, dass sich die Jugend selbst finden muss.

Und das ist anstrengend.

Es hat jedoch auch viele Vorteile und Freiheiten, z. B. dass man den Beruf selber wählen kann. Aber ein grosser Nachteil ist: Die Jugendlichen sind ohne Hilfe fast unmenschlich gefordert. Es ist einfacher, sich selbst zu finden, seine Interessen zu entdecken, wenn jemand etwas von einem fordert, denn da kann man dagegen sein. Wenn niemand von einem etwas will, ist es schwieriger.

Die Jugend zeigt ihre Fähigkeiten und ihre Kreativität, wenn sie einen Gestaltungsraum hat, wo die Erwachsenen nicht durch Vorschriften und Diplome Einfluss ausüben wollen.

Naja, aber irgendwann muss man eh wissen, was man selber will im Leben.

Sicher, aber es dauert eine Weile. Viele wissen mit dreissig oder vierzig noch nicht, was sie wirklich wollen. Eine andere Problematik ist, dass wir die Jugend zwar sehr lange gut ausbilden, jedoch zögern, ihnen die Verantwortung zu übergeben. Ausbildungsgänge und Diplome werden dann zu einem, die Jugend auszugrenzen.

Man muss auch mehr wissen heute.

Das stimmt. Aber für die Lebens- und Berufstüchtigkeit braucht man nicht nur Diplome. Die Diplome drohen zu einer reinen Selbstbestätigung der Geronten zu werden, also der Alten. Wir werden zu einer Gerontokratie! Was jemand kann, weiss man meistens erst, wenn der oder die Betreffende die volle Verantwortung für die entsprechende Tätigkeit trägt. Dazu braucht es die Übergabe von Verantwortung. Wir sind eine hochprofessionalisierte Gesellschaft, das ist auch gut, doch die Jugend zeigt ihre Fähigkeiten und ihre Kreativität, wenn sie einen Gestaltungsraum hat, wo die Erwachsenen nicht durch Vorschriften und Diplome Einfluss ausüben wollen. Das ist ein Schwachpunkt unserer Gesellschaft, der sich auch auf die Psyche der Jugendlichen auswirkt.

Allan Guggenbühl (70) ist Psychologe und Experte für Jugendgewalt. Er ist war Leiter der Abteilung für Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche in der Stadt Bern und ist Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich. Er hat eine eigene Praxis für Psychotherapie in Zürich.

Sie sagen, wir lassen die Jugendlichen alleine – sollen ihnen aber gleichzeitig mehr Verantwortung geben? Ist das nicht ein Widerspruch?

Das ist kein Widerspruch. Verantwortung übernehmen heisst, eine Arbeit selbstständig übernehmen können, Eigeninitiative entwickeln können und auch scheitern dürfen. In den Lehren geschieht das zum Teil, da muss die Jugend nicht wie in akademischen Berufen jahrelang auf Tablets starren, leider besteht auch dort die Tendenz der Verschulung.

Die Lehrabbrüche sind nach wie vor hoch. Was hat das mit der Zeit nach der Pandemie zu tun?

Das hat weniger mit der Pandemie zu tun, viel mehr damit, dass wir die Kinder mit Samthandschuhen anfassen. Wir wollen ihnen Frustrationen ersparen und tun so, als sei alles, was sie sagen oder leisten, super. Oft fehlen Momente, wo Kindern und Jugendlichen gesagt wird: Du musst dich anstrengen, denn du kannst auch scheitern.

Man muss auch Dinge sagen, die den anderen eventuell aufwühlen oder irritieren könnten.

Ist es nicht gerade dieses Leistungsdenken, unter dem die Jugend leidet?

Deshalb ist es eben Betrug, von Kindern nicht auch etwas zu fordern. In den Fortbildungen für Lehrmeister höre ich oft, dass die Lernenden denken, sie könnten in der Arbeit selbst bestimmen, was ihnen gefällt und was nicht. Und wenn sie müde sind oder kränkeln, sei es ihr Recht, dass der Betrieb dies berücksichtigt.

Kürzlich erwähnten Sie in einem Gespräch, es werde immer mehr Schaumsprache geredet. Gehört das auch dazu?

Mit Schaumsprache meine ich, dass man nicht nur sagen soll, was der andere hören will und dem Mainstream entspricht. Man muss auch Dinge sagen, die den anderen eventuell aufwühlen oder irritieren könnten.

Warum sollte man das tun?

Auf diese Weise ist wirklicher Kontakt und Beziehung möglich. Ausserdem kommt man in Kontakt miteinander und es werden dann auch wichtige Themen angesprochen, die wir alle gerne vermeiden.

Aber man könnte jemanden auch vor den Kopf stossen und ihn als Freund oder Freundin verlieren.

Das ist das Risiko. Aber man verliert jemanden auch, wenn man nicht sagt, was ist. Wenn man nur auf Harmonie bedacht ist. Dabei gehört zu Beziehungen auch das Sich-nicht-Verstehen und die Frage: Wie meinst du das?

Heute findet man die neue Musik interessant, alle haben Verständnis.

Sie begleiten Jugendliche schon seit über 40 Jahren. War das früher wirklich anders?

Ja, der Kontakt mit den Erwachsenen war konfrontativer. Ich erinnere mich, wie ich als Vierzehnjähriger an einem Kiosk das Bravo kaufen wollte. Da sagte die Kioskfrau: «Einem solchen Langhaardackel wie dir verkaufe ich kein Bravo.» Und die beiden Kunden neben mir empörten sich ebenfalls über meine Haare. Ein wunderbares Erlebnis, phantastisch!

Warum phantastisch?

Ich stiess auf eine Resonanz und wurde ernst genommen in meinem Auftritt. Auch die Lärmmusik der Beatles wurde nicht einfach so hingenommen. Heute findet man die neue Musik interessant, alle haben Verständnis.

Das lässt einen im leeren Raum?

Ja! Wenn ich ihre Musik nicht geniesse, dann gebe ich zu: Ich kann mit eurer Musik nichts anfangen. Und das kommt nicht schlecht an.

Oft erkennen die Eltern aber gar nicht, wenn die Tochter oder der Sohn eine Depression hat.

Moment – fordern Sie gerade weniger Toleranz?

Ich rede von Authentizität. Ich werte niemanden ab, ich nehme die Jugendlichen ernst. Ich überlege mir, was ich wirklich finde und teile dies mit. Tolerant geben sich heute alle. Das ist verdächtig. Toleranz gehört zur Schaumsprache, weil alle diese Eigenschaft für sich beanspruchen.

Wann sollten Eltern handeln, wenn sie denken, das Kind verhält sich ungesund?

Es gibt viele Abstufungen von handeln. Manchmal genügt nur ein Gespräch, um ein Thema in einer Familie anzustossen oder die Eltern zu stärken. Man ist nicht entweder gesund oder krank und deshalb sind auch die Hilfestellungen abgestuft, von der Beratung bis zur stationären Therapie. Oft erkennen die Eltern aber gar nicht, wenn die Tochter oder der Sohn eine Depression hat.

Das ist auch schwierig, oder?

Ja, ganz schwierig. Ohne Beratung geht es oft nicht.

Aber was, wenn man gar nicht hin kann, weil die Wartelisten so lange sind?

Eine Beratung von einer Stunde sollte eigentlich immer möglich sein. Das Problem ist gerade, dass viele schon die Lösung im Kopf haben: eine Einweisung in eine Klinik.

Das Bundesamt für Statistik meldete, dass in den Jahren 2020 und 2021 die Mädchen und jungen Frauen nicht nur generell wegen psychischer Probleme öfter stationär eingewiesen wurden, sondern auch 70 % der Einweisungen wegen Selbstverletzungen oder Suizidversuchen Mädchen und junge Frauen betrafen. Sind junge Männer resilienter?

Es ist so: Die psychiatrischen Kliniken sind voller Frauen, die Gefängnisse voller Männer. Die Geschlechter gehen mit Schwierigkeiten typischerweise anders um. Männer nehmen Probleme eher auf die leichte Schulter, was gut sein kann, sie bagatellisieren sie  – dafür nehmen sie sie weniger ernst – was Probleme verschlimmern kann.

Die Strategie kann also gut oder schlecht sein.

Ja. Frauen wälzen die Probleme im Kopf länger, sinnieren und reflektieren, warum sie keine Freundschaften haben. Männer sagen eher: Ich bin halt so.

Warum?

Geschlechtertypische Unterschiede sind so vielschichtig, dass es sich nicht sagen lässt, ob sie angeboren oder anerzogen sind.

Die besten Gesellschaften sind die halb-chaotischen, sie ermöglichen neue Prozesse und Innovationen.

Wie können junge Männer sich besser reflektieren und wie lernen junge Frauen, Probleme auch mal beiseite zu schieben?

Über Kontakte mit Erwachsenen, die sie ernst nehmen. Jugendliche verhalten sich oft provokativ und sind ein Ärgernis. Dann ist es ganz wichtig, dran zu bleiben und dem Konflikt nicht einfach auszuweichen. Man muss aber auch auf ihre Ideen eingehen!

Da wären wir wieder bei der Anleitung zu mehr Verantwortung.

Ja. Ich erinnere mich an Schulbesuche in Japan. Da haben vom Empfang bis zum Mittagessen alles die Jugendlichen organisiert. Auch fürs Einkaufen, Kochen und Putzen waren die Schülerinnen und Schüler zuständig. Das führte zu einer ganz anderen Atmosphäre, die Jugendlichen identifizierten sich viel mehr mit ihrer Schule. Warum müssen Köche für 15-Jährige kochen? Wenn man bei uns Selberkochen einführen würde, würde es erst zehnmal nicht gut kommen. Und einige Male gar kein Essen dastehen. Aber so entsteht eine andere Kultur und die Jugend wird selbstständig.

Bleiben Sie optimistisch bezüglich der psychischen Gesundheit der Jugendlichen?

Ich finde, man sollte pessimistisch denken, aber optimistisch handeln. Es gibt Veränderungsmöglichkeiten und Lösungen. Unsere offene und dynamische Gesellschaft hat viele Vorteile. Ich habe eine Zeitlang in China Studenten beraten, das System ist sehr problematisch. Man kann so vieles nicht ansprechen. Die Studies hatten internalisiert, was man sagen darf und welche Themen man vermeidet. Bei uns gibt es Debatten, man kann Fragen stellen, man darf sich über andere und den Staat ärgern. Das macht mich optimistisch. Die besten Gesellschaften sind die halb-chaotischen, sie ermöglichen neue Prozesse und Innovationen.

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2 Kommentare

  1. Die woke, schaumsprachige, politisch “korrekte”, aber in Tat und Wahrheit durch und durch verlogene Aufwachsumgebung all dieser Jugendlichen ist der Motor für die ganzen Psychokrisen.
    Ich habe über 40 Jahre mit Jugendlichen gearbeitet. Am Wichtigsten ist Authentizität – etwas, was den meisten heutigen Erwachsenen und Verantwortungsträgern vollends fehlt.

  2. Ein Endloskommentar mehr. Dass der zur Zeit erteilte Unterricht, das Verlangte, die Beurteilungen, die an der Sache vorbei konzipierten Lehrmittel auch eine Rolle spielen könnten, wird in den psychologischen Mitteilungen regelmässig ausgeblendet.

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