25. April 2024

Leistungsdruck im Schulzimmer – Klüger, aber müder: Wie stressig ist unser Schulsystem?

Rund jedes dritte Kind klagt über Stress. Was steckt dahinter? Und wie viel trägt die Schule dazu bei? Wir schalten hier einen Bericht auf über einen Podcast von Daniel Bodenmann, der im SRF erschienen ist. Darin kommt auch unser Condorcet-Autor Alain Pichard zu Wort.

Daniel Bodenmann, Produzent: Viele Schülerinnen und Schüler fühlen sich von der Schule gestresst.

«Du musst ins Schulzimmer kommen und heulen wie ein Wolf, wenn er zum Rudel kommt.» Das sagt Martin Hänzi, einer meiner ehemaligen Lehrer an der Sekundarschule in Pieterlen in den 1990er-Jahren. Wie viel Wahrheit in dieser Aussage steckt, wurde mir bewusst, als ich zum Thema Stresspegel in der Schule recherchierte.

Hänzis Aussage ist dabei nicht autoritär gemeint, wie der Lehrer erklärt: «Nicht im Stile von ‹wenn du nicht machst, was ich will, dann beisse ich›‚ sondern von ‹nur zusammen sind wir ein Rudel.›»

Es geht also um ein Miteinander mit einem Leitwolf oder einer Leitwölfin, kein Gegeneinander. Im Unterricht von Lehrer Hänzi kam damals kein Stress auf. Logisch, man musste arbeiten, lernen und stillsitzen. Mehr, als uns oft lieb war. Aber man kam sich dabei nicht wie ein Lernsoldat vor.

 

Die Schule ist ein grosser Stressfaktor.

Lulzana Musliu Shana, Leiterin Medien und Politik bei Pro Juventute: Viele Kinder fühlen sich in und von der Schule gestresst.

Heutzutage scheint das anders: Viele Kinder fühlen sich in und von der Schule gestresst. Eine Studie von Pro Juventute vom letzten Jahr hat ergeben, dass eines von drei Kindern übermässig unter dem Leistungsdruck und der Stressbelastung leidet. Bei den 14-Jährigen sind die Zahlen sogar noch höher.

«Die Schule ist ein grosser Stressfaktor», erklärt Lulzana Musliu-Shahin, Leiterin Politik und Medien bei Pro Juventute. «Prüfungen und Hausaufgaben, aber auch Streit in der Klasse und Mobbing, führen bei den Schülerinnen und Schülern zu erhöhtem Stress.»

Vergleichbare Studien – zum Teil auch internationale – gehen zum Teil davon aus, dass sogar mehr als jedes dritte Kind gestresst ist. Das ist viel, um nicht zu sagen: zu viel.

Die neue Volkskrankheit

Stress ist so etwas wie die neue Volkskrankheit. Im jährlichen Arbeitsbarometer von Travail Suisse wird der Stress als Nummer 1 bei den belastenden Faktoren angegeben. Tendenz steigend.

Auch bei der Gesundheitsförderung Schweiz ist man alarmiert. Laut Erhebung sind die 16- bis 24-Jährigen am meisten gestresst. 40 Prozent klagen darüber. Und 30 Prozent fühlen sich sogar emotional erschöpft. Die Schule ist in diesem Sinne ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Die Lehrer zählen

Es gibt viele Stressfaktoren, welche die Kinder und Jugendlichen belasten. Dazu gehören auch die Lehrerinnen und Lehrer selbst – etwa, wenn sie den Kindern gegenüber nicht genug Verständnis aufbringen. «Ein negatives Bild der Lehrpersonen von ihren Schülerinnen und Schülern ist in hohem Masse korreliert mit der Stressbelastung ebendieser», heisst es in der Studie von Pro Juventute dazu. Das gelte umso mehr, wenn auch noch ein schlechtes Schulklima hinzukomme.

Mann im Sakko steht mit verschränkten Armen vor Wandtafel

Alain Pichard: Wer richtigen Stress erleben will, soll mal nach Südkorea gehen.

Dabei muss man festhalten, dass das Schulklima heute deutlich angenehmer ist als früher: Es fliegen keine Schlüsselbunde mehr herum, und das Lineal wird ausschliesslich zum Zeichnen gebraucht und nicht als Schlagstock. «Es gibt zahllose Stützangebote, Mobbingpräventionen, Nachteilsausgleiche und individualisierende Lehrmethoden», findet der Lehrer und Bildungspolitiker Alain Pichard.

«Hausaufgaben werden abgeschafft, Vokabeln sollen spielerisch und ohne Anstrengung eingeübt werden», sagt Pichard. «Wer Leistungsstress erleben will, soll nach Südkorea, Singapur, Taiwan oder China gehen.»

Wenn Eltern drängen

Dennoch scheint der subjektive Stress der Schüler und Schülerinnen nicht kleiner geworden zu sein. Ob man heute besser hinschaut und mehr sieht als früher, sei dahingestellt. Was aber klar sein sollte: Wenn Kinder in diesem Ausmass unter Stress leiden, läuft etwas schief. Immer wieder werden die Noten als grosser Druckfaktor aufgeführt. Dazu kommt ein weiterer Faktor, wie die Pro Juventute-Studie zeigt: Eine gewichtige Ursache der Stressbelastung von Kindern und Jugendlichen sei das Gefühl, dass die Eltern zu hohe Erwartungen an sie stellen, welche die Kinder nicht erfüllen können, heisst es dort.

Es lebe die Lehre

Die duale Ausbildung ist erfolgversprechend.

Die Eltern sind also oft ein grosser Teil des Problems, etwa mit ihrer Hoffnung auf gute Noten. Vielfach treibt sie der Irrglaube an, ein Kind müsse in die Sekundarschule oder ans Gymnasium, weil nur so ‹etwas› aus ihm wird.

Dabei ist unser duales Bildungssystem mit der Berufslehre ein Erfolgsmodell. Immer noch. Das bestätigen auch zahlreiche Studien, etwa vom Staatssekretariat für Wirtschaft SECO. Das geht des Öfteren vergessen. Es sei hier zur Stressminderung erwähnt.

«Trotz der starken Zunahme von Tertiärabschlüssen, die oft über eine gymnasiale Matura erreicht werden, hat die berufliche Grundbildung in der Schweiz ihre im internationalen Vergleich herausragende Stellung als Erstausbildung in den vergangenen zwanzig Jahren behalten», heisst es in der SECO-Studie. Es zeige sich dabei, dass die Jugendliche, die eine Lehre absolvieren, sich über erfreuliche Berufsaussichten freuen können. Ihre Erwerbsquoten seien hoch, die Arbeitslosigkeit niedrig.

«Ein furchtbares Hamsterrad»

Margritt Stamm: Viel zu viel Freizeitorganisation.

Es nimmt manchmal schon fast absurde Züge an, wenn man vernimmt, dass es einen Trend zur Nachhilfe für Kinder gibt, die gar keine Nachhilfe bräuchten. Also jene, die schulisch nicht gefährdet sind, sondern einfach von ihren Eltern in der Freizeit noch weiter angeschoben werden, um in der Konkurrenzsituation in der Klasse besser dazustehen.

«Das ist zum Teil ein furchtbares Hamsterrad, in dem die Kinder sind», sagt Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften. «Die umfassenden Freizeitprogramme, die viele haben, die durchgetakteten Wochenpläne. Deshalb reden wir in der Forschung von Terminkindheiten.»

Zusammenspiel ist zentral

Die Eltern und ihre Erwartungen und Haltungen kann man nur bedingt ändern. Auch die Weiterentwicklung des Schulsystems ist ein träger, politischer Prozess. Weder die 45-Minuten Struktur, der frühe Schulbeginn noch die langen Präsenzzeiten werden so schnell verschwinden. Das gilt auch für die wechselnden Fachlehrkräfte, die ebenfalls Stress bedeuten.

Wer keine entspannte Rudelführerin oder einen empathischen Leitwolf vor sich hat, ist deutlich gestresster. Das Zusammenspiel von Lehrpersonen und SchülerInnen ist zentral.

Alexander Wettstein, PH-Bern, forscht schon lange zum Thema “Stress”.

«Innerhalb der Schule entsteht der grösste Stress, wenn die soziale Interaktion nicht funktioniert», weiss Alexander Wettstein. Er ist Leiter des Forschungsschwerpunktes Soziale Interaktion an der PH Bern. «Zum Beispiel, wenn eine Schülerin verweigert oder es aggressives Verhalten gibt.»

Wettstein hat im Rahmen einer noch nicht erschienenen Studie während zwei Jahren insgesamt 42 Lehrpersonen im Raum Bern intensiv begleitet. Herzschlag messen, Stresshormon im Speichel, und das über ganze Tage hinweg.

Mann mit kurzen blauen Haaren und blau gestreiftem Hemd

Das Resultat: Rund ein Drittel der Lehrpersonen hat einen zu hohen Stresspegel und sollte etwas dagegen unternehmen. Wenn bezüglich Stressregulation nichts passiert, wird nämlich der Unterricht schlechter und die Schülerinnen und Schüler unruhiger. Das wiederum steigert den Stress bei der Lehrperson.

Klimawandel im Klassenzimmer

«In der Schule müsste man ein Klima hinkriegen, in dem es allen wohl ist», sagt Wettsein. «Denn nur in einer Atmosphäre, in der es mir gut geht und in der auch einmal miteinander gelacht werden kann, kann ich auch lernen. Wenn ich gestresst bin, bin ich blockiert. Dann geht nichts mehr in den Kopf.»

Es komme übrigens nicht darauf an, ob die Lehrperson jung oder alt, Mann oder Frau, sei. Stress ist individuell. Fühle man sich unterstützt und sehe den Sinn der Arbeit ein, wirke das präventiv gegen Stress. Steht eine Lehrperson an einem Arbeitstag auf, dann ist der Stresspegel doppelt so hoch wie normalerweise. Der antizipative Stress, bevor man vor die Klasse tritt, ist hoch. Kein Wunder, gilt es doch viele Anforderungen zu erfüllen. Der Stress ist dabei aber ein schlechter Ratgeber.

Leiten ohne beissen

«Das Lernklima ist wie ein Fundament. Wenn das nicht gut ist, ist Hopfen und Malz verloren», sagt Wettstein. In Anbetracht des Lehrkräftemangels beruhigt diese Erkenntnis nicht. Aber um im System einen gesunden Hebel zu haben, braucht es gute Lehrpersonen. Solche, die ein Rudel leiten können, ohne zu beissen und die den Kindern entspannt und mit emotionaler Wärme begegnen. Trotz all den äusseren Stressfaktoren, die auch – oder besonders – auf die Lehrpersonen täglich einprasseln. Keine einfache Aufgabe.

Sport statt Stress

Klar ist zumindest, was bezüglich Stressabbau und Prävention empfohlen wird: Für Lehrpersonen – also eigentlich für die ganze Gesellschaft – gilt: Abschalten und sich ein Hobby suchen, einen Ausgleich. Das gilt ebenso für Kinder.

«So geben Kinder und Jugendliche mit niedrigeren Stresswerten eher an, Zeit zu haben, um sich zu erholen. Gleichzeitig investieren diese Kinder und Jugendlichen ihre freie Zeit häufig in Aktivitäten wie Sporttraining, Musiküben oder Treffen mit Freundinnen und Freunden», schreibt die Pro Juventute in ihrer Studie.

Die Gesellschaft muss hier mit gutem Beispiel vorangehen. Denn die Kinder eifern den Erwachsenen nach.

 

https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/leistungsdruck-im-schulzimmer-klueger-aber-mueder-wie-stressig-ist-unser-schulsystem

 

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Wieder ein zusammengewurstelter Kommentar, weit entfernt von den tatsächlichen Tatschen. Besonders was von srf verbreitet und gezeigt wird, trifft 150% daneben.

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