28. März 2024

Kritik an den Fachhochschulen – Lehrer fordert: «Das Aufgabenfeld der Pädagogischen Hochschulen soll zusammengestrichen werden»

Jürg Wiedemann ist im Kanton Baselland eine polarisierende Persönlichkeit. Seine von ihm gegründete «Starke Schule beider Basel» (SSbB) hat es immer wieder geschafft, relevante bildungspolitische Fragen aufs Tapet zu bringen. Mit Vorstössen, Initiativen und Referenden hielt die SSbB die Behörden in Baselland auf Trab und gewann – dies im Gegensatz zu verwandten Organisationen in anderen Kantonen – die Mehrheit ihrer Abstimmungen. Alina Isler, die in der SSbB angestellt ist, schreibt als Autorin für unseren Blog. Nun hat Jürg Wiedemann dem Nebelspalter ein brisantes Interview gegeben. Es geht um die PHs und den Zwecke der Lehrerbildung.

Daniel Wahl, Journalist Nebelspalter, im Interview mit Jürg Wiedemann.

In der von Pädagogen gemalten Schule der Zukunft bleiben traditionelle Bildungsinhalte wie Lesen, Schreiben und Mathematik auf der Strecke. Es soll eine individualisierte Schule ohne Noten sein – mit hohen Mitbestimmungsrechten von Schülern. Dieses Bild zeichnet eine Umfrage des Schulmuseums Bern zur Zukunft der Schule. Viele der Umfrageteilnehmer sind Pädagogen oder Studierende der Pädagogischen Hochschule Bern; sie haben das Umfragebild geprägt. (Der «Nebelspalter»: Pädagogen foutieren sich um Bedürfnisse der Wirtschaft)

Wäre die Umfrage von Berufsbildungsleuten oder Lehrlingen dominiert worden, sähe das Resultat anders aus. Diese geben an, an der Volksschule nur ungenügend «Lesen und Schreiben» gelernt zu haben.

Wegen der grossen Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Schulen und den Wünschen der Pädagogen wirft Sekundarlehrer Jürg Wiedemann, den Pädagogischen Hochschulen vor, statt die Lehrer auf die Arbeitswelt vorzubereiten, einen Egotrip zu veranstalten. Wiedemann ist Gründer des Netzwerkes «Starke Schule beider Basel». Monatlich erhält er mehrere Hinweise zu den Zuständen an den Pädagogischen Hochschulen.

Kaum für Selektion und marginalisierte traditionelle Bildungsinhalte: Umfrage «schule-zukunft.ch»

Jürg Wiedemann, Sie haben am Montag im Nebelspalter kritisiert, dass es den hochdotierten Dozenten an den Pädagogischen Hochschulen (PH) vor allem darum geht, sich mit Forschung einen Namen zu machen, und dass diese sich an den Hochschulen kaum um traditionelle Bildungsinhalte kümmerten. Insofern hat Sie das Umfrageresultat der Plattform «Schule-Zukunft.ch» nicht überrascht. Wie kommen Sie zu einer solchen Einschätzung?

Wir bekommen den Zeitgeist mit, der an den Pädagogischen Hochschulen herrscht. Unsere Organisation erhält fast im Wochentakt Anrufe und Mails von Studentinnen und Studenten, die ihrem Ärger und Unmut über die Zustände an den PHs Luft verschaffen. Sie klagen über fehlende Strukturen, eine hohe Präsenzpflicht und darüber, dass ihnen der Unterricht an der Hochschule dennoch wenig bis nichts bringt. Sie würden kaum auf den Alltag im Klassenzimmer vorbereitet: Wie erteile ich eine gute und motivierende Unterrichtslektion? Wie erkläre ich den Schulstoff dem Alter der Kinder entsprechend verständlich? Was ist wichtig, um einen Elternabend kompetent und informativ durchzuführen? Wie löse ich Mobbingprobleme in einer Klasse? Darum geht es an den Hochschulen leider nicht, oder zumindest nicht prioritär.

Die Studierenden werden mit vielen und auch unnötigen Themen lediglich oberflächlich konfrontiert.

Was kommt anstelle dieses Programms?

Die Studierenden werden mit vielen und auch unnötigen Themen lediglich oberflächlich konfrontiert. Die Kurse haben wenig Substanz. Sie müssen jedoch über alles Mögliche ausführliche Erläuterungen und Reflexionen schreiben und werden dadurch mit oft unsinnigen und wenig zielführenden Arbeitsaufträgen belastet. Für die tägliche Arbeit im Klassenzimmer ist das nicht tauglich und es stärkt auch nicht das Handwerk der angehenden Lehrperson.

Weitaus grössere Vorlieben und Interessen haben die Dozierenden an der wissenschaftlichen Arbeit, am Entwickeln neuer Modelle und Reformen, um sich so auch einen Namen und ein Monument zu schaffen.

Warum ist das so?

Für viele Dozierende hat das traditionelle Ausbilden der angehenden Lehrpersonen keine Priorität; und zwar in dem Sinne, dass die Studentinnen und Studenten das Rüstzeug bekommen, um traditionell, motivierend und zielführend unterrichten zu können. Weitaus grössere Vorlieben und Interessen haben die Dozierenden an der wissenschaftlichen Arbeit, am Entwickeln neuer Modelle und Reformen, um sich so auch einen Namen und ein Monument zu schaffen. Altes, Traditionelles zu fördern, verspricht kein Ansehen für die Nachwelt. Neues muss her, auch wenn Altes grössere Lernerfolge in den Klassenzimmern verspricht. So werden an den PHs teilweise abstrakte, nicht überprüfbare Reformen entwickelt, die nur den philosophischen und psychologischen Ansprüchen genügen. In den Schulzimmern sind solche Pilotprojekte selten auf ihre Wirksamkeit überprüft worden. Bei der Einführung von Frühfranzösisch beispielsweise gab es keine Zielsetzung, was prompt zum Debakel führte: Während rund zehn Jahren erhielten die Primarschulkinder einen frustrierenden und demotivierenden Französischunterricht, basierend auf einer völlig untauglichen Ideologie.

Es macht den Anschein, dass viele Kurse nur deswegen geführt und die Studierenden zur Teilnahme mit Präsenzlisten gezwungen werden, um die PHs aufzublasen und damit hochbezahlte Stellen zu generieren.

Um die Subventionen zu erhalten, müssen die PHs Forschung betreiben. Sie bezeichnen diese Disziplin an den Hochschulen für aufgeblasen und übertrieben. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Einerseits handelt es sich um einen Eindruck, den wir aufgrund der zahlreichen, wiederkehrenden Reklamationen der Studierenden erhalten haben. Andererseits lässt sich dies auch objektiv an den gigantischen, zeitliche Ressourcen messen, die in solche Forschungsarbeiten investiert werden, ohne dass diese Arbeit für das künftige Unterrichten im Schulzimmer einen praktischen, relevanten Gewinn bringen. Es macht den Anschein, dass viele Kurse nur deswegen geführt und die Studierenden zur Teilnahme mit Präsenzlisten gezwungen werden, um die PHs aufzublasen und damit hochbezahlte Stellen zu generieren.

Auch die Dozierenden zeigen sich aufgrund der Flut von Arbeiten überlastet.

«Die Studierenden an den PHs werden massenhaft mit Reflexionen beschäftigt, die wenig Nutzen für ihre künftige Arbeit im Klassenzimmer bringen.»

Ein Unmass an Schreibaufträgen, eine Beschäftgiungstherapie ohne Sinn.

Die Vermittlung des Fachwissens – vor allem für Sekundarlehrpersonen – wird an den PHs hingegen vernachlässigt. Im Gegensatz zur Lehrerausbildung an den Universitäten oder den eidgenössischen technischen Hochschulen, an denen beispielsweise eine angehende Physik- oder Chemielehrperson eine fundierte Fachausbildung erhält, ist die Qualität und Quantität der Fachausbildung an den PHs um ein Vielfaches geringer. Die Studierenden an den PHs werden massenhaft mit Reflexionen beschäftigt, müssen in regelmässigen Abständen umfangreiche schriftliche Arbeiten abgeben, die belastend sind und wenig Nutzen für ihre künftige Arbeit im Klassenzimmer bringen. Auch die Dozierenden zeigen sich aufgrund der Flut von Arbeiten überlastet. Viele Dokumente ihrer Studierenden vermögen sie gar nicht mehr lesen. Ein Musterbeispiel zeigt dies auf bedenkliche Art: Ein Student der Fachhochschule Nordwestschweiz hat die Probe aufs Exempel gemacht und eine Word-Datei hochgeladen, die statt der geforderten fünfseitigen Abhandlung einer These nur ein einziges Wort enthielt. Seine Arbeit wurde angenommen, er erhielt die entsprechenden Credits.

Die angehenden Pädagoginnen und Pädagogen getrauen sich nicht, an der PH zu ihrer eigenen Meinung zu stehen. Sie haben Angst, schlechter benotet oder bei der Stellenwahl benachteiligt zu werden.

Die Tatsache, dass sich Studenten bei der Starken Schule beider Basel melden, ist ein schlechtes Zeugnis für die Pädagogischen Hochschulen. Kritik müsste doch direkt adressiert werden.

Ja, unbedingt. Wenn wir Studierende, die bei uns ihren Frust abladen, darauf hinweisen, lautet der Standardsatz: «Solange ich an der PH bin, kann ich mir keine öffentliche Kritik leisten.» Das ist doch grotesk: Die angehenden Pädagoginnen und Pädagogen, die von ihren künftigen Schülerinnen und Schülern verlangen sollen, eine eigene Meinung zu bilden und diese auch unabhängig von der Meinung ihrer Lehrer vertreten, getrauen sich nicht, an der PH zu ihrer eigenen Meinung zu stehen. Sie haben Angst, schlechter benotet oder bei der Stellenwahl benachteiligt zu werden. Wir stellen fest, dass Studierende, die das Neue und das von den Dozenten Untergejubelte kritisch hinterfragen, kaltgestellt und unausgesprochen mit Repression bedroht werden. So lässt sich die unendliche Angst der Studierenden der PHs begründen. Deshalb üben sie Kritik – wenn überhaupt – nur hinter vorgehaltener Hand.

Für Kritik haben die Hochschulen ein Netz von Anlaufstellen für Beschwerden aufgebaut. Da ist es unverständlich, dass Kritik nicht platziert werden kann.

Das Sekretariatsteam der Starken Schule beider Basel erkennt aufgrund der um Hilfe suchenden Studierenden, dass ein nonverbaler Druck aufgebaut wird. Man gibt den Studierenden zu verstehen: «Pass auf, was Du auslöst.« Schon die Einladungen zu Gesprächen sind so formuliert, dass sie als Einschüchterung verstanden werden. Da ist kein offenes Gespräch möglich, um den Austausch auf Augenhöhe zu verbessern, im Sinne: «Komm sag mir mal, was nicht rund läuft.» Gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern im Kanton Basel-Stadt läuft das übrigens ähnlich. Es gibt eine Weisung vom Basler Erziehungsdepartement an die Lehrkräfte, wer wie auf Medienanfragen Auskünfte geben darf. Das Erziehungsdepartement spricht von Koordination. Als Kontrolle wird es an der Basis verstanden. Wenn solches durchgehend passiert, entsteht eine Angstkultur. Unter dem früheren Präsidenten der Erziehungsdirektoren, Nationalrat Christoph Eymann, war es noch bedenklicher. Er hat auch schon Lehrer, die sich öffentlich in Leserbriefen kritisch zum Basler Bildungssystem geäussert haben, auf sein Büro zitiert und ihnen unmissverständlich klargemacht, was er erwartet.

Studierende, die an den PHs mehr als zweimal ohne Arztzeugnis fehlen, müssen den gesamten Kurs im folgenden Jahr wiederholen.

Sie haben Jahrgang 1960 und an der Universität in Basel studiert. War es damals anders?

Die Universität zwang die Studierenden nicht – so wie heute die PHs mit Präsenzkontrollen – die Vorlesungen zu besuchen. Die Professoren hielten interessante und lehrreiche Vorträge. Wenn sie es schlecht machten, blieben die Hörsäle leer, und die Vorlesung wurde im nächsten Jahr gestrichen. Heute ist in den Fachhochschulen alles reguliert und die Stelle des Dozenten abgesichert, egal, ob er gehaltvolle oder langweilige Inputs gibt. Studierende, die an den PHs mehr als zweimal ohne Arztzeugnis fehlen, müssen den gesamten Kurs im folgenden Jahr wiederholen. Man geht mit den angehenden Lehrpersonen um wie mit Schulkindern.

Wie sehen Ihre Lösungsansätze aus?

Das Aufgabenfeld der PHs sollte zusammengestrichen und auf das Wesentliche begrenzt werden. Dabei ist zwischen der Ausbildung der Primar- und der Sekundarlehrpersonen zu unterscheiden. Die Fachausbildung der Sekundarstufe 1 sollte der Pädagogischen Hochschulen entzogen und wieder den Universitäten und eidgenössischen Hochschulen übertragen werden. Die PHs müssten sich auf die methodisch-didaktische Ausbildung beschränken, mit verstärktem praxisorientierten Bezug: Wie bringe ich in einer ersten Sekundarschulklasse das Bruchrechnen den Lernenden motivierend und erfolgreich bei? Wie kann ich den Schülerinnen und Schülern auf eine nachhaltige Art den Subjonctif erklärten, sodass diese das Gelernte erfolgreich anwenden können?

«Die Pädagogischen Hochschulen müssten sich auf die methodisch, didaktische Ausbildung beschränken, mit verstärktem praxisorientierten Bezug.»

Beschränken sich die PHs auf das Wesentliche, so kann die methodische-didaktische Ausbildung ohne Qualitätsverlust auf ein Jahr beschränkt und auf ein Arbeitspensum von rund 50 Prozent beschränkt werden. Das gibt den angehenden Lehrpersonen Freiraum für die praktische Ausbildung an den Schulen. Sie wären in der Lage, bereits ein Teilpensum an einer Schule zu übernehmen, um erste konkrete Erfahrungen zu sammeln. Dadurch wäre gewährleistet, dass die Studierenden schnell erkennen, was ihnen für einen guten Unterricht fehlt und mit welchen Lerninhalten die PHs sie unterstützen könnten.

Betreffend methodisch-didaktischen Kompetenzen benötigen die angehenden Primarlehrpersonen hingegen eine vertiefte Ausbildung

Und bei der Primarstufe?

Betreffend Fachwissen reicht eine Maturität aus, um an den Primarschulen unterrichten zu können, ausgenommen vielleicht in den Fremdsprachen. Vereinzelte Impulse und Auffrischungen können gegebenenfalls gleichwohl sinnvoll sein. Betreffend methodisch-didaktischen Kompetenzen benötigen die angehenden Primarlehrpersonen hingegen eine vertiefte Ausbildung. Dies auch deswegen, weil sie gegen Ende der Primarschulzeit gleichzeitig die lernschwächeren und lernstärkeren Schulkindern in derselben Klasse unterrichten. Die Heterogenität ist heute insbesondere in einer fünften und sechsten Primarklasse erheblich. Das nötige Rüstzeug zur Bewältigung dieser schwierigen Aufgaben müssten ihnen die PHs vertieft vermitteln.

Dieser Artikel ist zuerst im Nebelspalter erschienen.

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2 Kommentare

  1. Auf den Punkt gebracht.
    Das System “Fachhochschulen – Lehrplan 21 – teilautonom geleitete Schulen” zerstört das Bildungssystem nachhaltig.

  2. Mit vielem hat Jürg Wiedemann recht mit seiner Kritik an der PH. Aber was er nicht im Fokus hat, ist die Frage, weshalb die Pädagogischen Fachhochschulen so realitätsfremd, praxisverachtend und pseudowisschenschaftlich geworden sind. Ganz im Stile des Neoliberalismus hat man diese Ausbildungsstätte aufgebaut wie ein Unternehmen. Jeder Dozent und jede Dozentin wird zur kleinen Ich-AG und muss Drittmittel auf Teufel komm raus aquirieren, um den eigenen Arbeitsplatz zu garantieren. Also beginnen die Leute aus purer Existnzangst Forschungsvorhaben zu erfinden, um einfach die Stelle nicht zu verlieren. Und die PHs sind wie die öffentlichen Schulen einer zunehmenden Hierarchisierung und Entdemokratisierung unterworfen. Dies ist wohl die wirksamste Vorbereitung auf den kapitalistischen Arbeitsmarkt: Den Mund halten, Befehle ausführen, seinen Job erledigen, wie es die Vorgesetzten oder die Aktienmärkte gerne hätten….

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