7. November 2024

„Das holen die Kinder nie wieder auf“

Olaf Köller ist einer der Promotoren der Kompetenzorientierung. Er wurde in diesem Blog wegen seiner Haltung auch kritisiert. In diesem Interview weist er aber schonunglsos auf die sinkenden Leistungen der deutschen Grundschulschüler hin. Die Frage ist allerdings, wie viel die von ihm unterstützten Bildungsreformen zu dieser fatalen Entwicklung beigetragen haben.

Sabine Menkens, Politik-Redakteurin der WELT.

Ob Lesen, Schreiben oder Rechnen: Nichts weniger als eine „Katastrophe“ stellt Bildungsforscher Olaf Köller im Schulsystem fest – die auch mit einer stark veränderten Schülerschaft zu tun habe. Das Bildungssystem habe sich auf das Niveau von Pisa 2000 zurückentwickelt.

WELT: Der IQB-Bildungstrend ruft derzeit eine ähnliche Schockwelle hervor wie vor gut 20 Jahren Pisa. Ein Fünftel der Kinder erreicht nicht einmal den Mindeststandard in Lesen oder Mathematik, der Trend zeigt immer weiter abwärts. Wie bewerten Sie das, Herr Köller?

Olaf Köller: Die Entwicklung ist in der Tat dramatisch. Wir haben in den letzten zehn Jahren einen solchen Rückschritt im Bildungssystem erlebt, dass wir im Grunde wieder auf dem Niveau von Pisa 2000 angekommen sind. Wir haben große Gruppen von Risikokindern, die weder lesen noch schreiben noch rechnen können. Und das lässt sich nicht allein mit der Pandemie erklären. Der Trend war schon zuvor rückläufig.

Olaf Köller ist Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Das unabhängige Gremium aus Bildungsforschern berät die Bundesländer bei der Weiterentwicklung des Bildungswesens.

WELT: Welche Gründe sind aus Ihrer Sicht ausschlaggebend dafür?

Köller: Die Schülerschaft hat sich stark verändert. Wir haben eine deutliche Zunahme der Schüler mit Migrationshintergrund, darunter auch viele Flüchtlinge. Und dem System ist es in den letzten zehn Jahren offensichtlich nicht gelungen, darauf mit den entsprechenden Förderprogrammen zu antworten. Vor allem die in erster Generation eingewanderten Kinder sind weit abgehängt. Und auch die Leistungsstarken erreichen nicht mehr das Niveau wie vor zehn Jahren.

Neben den volkswirtschaftlichen Folgen hat es vor allem Folgen für den Ausbildungsmarkt.

WELT: Bildungsökonomen haben vorgerechnet, dass Lernrückstände in dem Ausmaß, wie wir sie jetzt beobachten, zu echten Einbußen beim Lebenseinkommen des Einzelnen und dem Wirtschaftswachstum insgesamt führen. Welche Folgen hat das für den Standort Deutschland?

Viele kommen nicht mehr in die Ausbildung.

Köller: Neben den volkswirtschaftlichen Folgen hat es vor allem Folgen für den Ausbildungsmarkt. Wir beobachten schon seit Langem, dass wir viele junge Leute nicht in die Ausbildung bekommen. Sie verfügen über so geringe schulische Kompetenzen, dass die Betriebe sie nicht einstellen können. Und der Wohlfahrtsstaat muss dann für ihre Alimentierung aufkommen.

WELT: Sie sehen also eine echte Katastrophe auf uns zukommen…

Köller: Vor allem eine Katastrophe, die in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch nicht den Platz einnimmt, den sie verdient. In den multiplen Krisen, in denen wir stecken, geht die Bildungskrise leider unter. Dabei führt die Entwicklung dazu, dass wir noch Jahrzehnte erhebliche Probleme haben werden.

WELT: Wie hätte man denn sinnvollerweise rechtzeitig gegensteuern müssen?

Köller: Wir wissen ja um die Risikogruppen. Das sind häufig Kinder mit Migrationshintergrund, die die deutsche Sprache nicht ausreichend lernen, oder auch deutsche Kinder, die sozial und kulturell besonders benachteiligt sind. Wir wissen auch, in welchen Kitas und Schulen diese Kinder sich sammeln. Man hätte frühzeitig mit Förderprogrammen an den Start gehen können, die man auf diese Schulen und Kitas konzentriert.

Wir wissen ja um die Risikogruppen. Das sind häufig Kinder mit Migrationshintergrund, die die deutsche Sprache nicht ausreichend lernen, oder auch deutsche Kinder, die sozial und kulturell besonders benachteiligt sind.

WELT: Was halten Sie von dem „Startchancen“-Programm zur Förderung von 4000 Brennpunktschulen, das die Bundesregierung auflegen will?

Köller: Die Idee finde ich nicht schlecht. Es ist aber wichtig, frühzeitig die genauen Ziele festzulegen. Denn nur weil das Schulgebäude saniert ist, lernen die Kinder nicht automatisch besser Deutsch und Mathe. Wir brauchen hier eine klare Ex-ante-Evaluation, was erreicht werden soll und wie die Mittel sinnvoll eingesetzt werden.

WELT: Grundschullehrer beklagen, dass vielen Kindern schon bei der Einschulung wichtige Fähigkeiten fehlten – von der Sprache über mathematische Vorkenntnisse bis zur Feinmotorik. Legen wir zu wenig Wert auf frühkindliche Bildung?

Köller: Wir haben immer noch in zu wenigen Einrichtungen das Bewusstsein, dass die Kita neben dem Betreuungs- und Erziehungsauftrag auch einen Bildungsauftrag hat. Das bedeutet, vor allem für benachteiligte Kinder gezielte Förderangebote zu machen. Sie liegen gegenüber privilegierten Kindern in der Entwicklung schon bei der Einschulung um bis zu zwei Jahre zurück. Das holen sie nie wieder auf.

WELT: Der IQB-Schock hat jetzt dazu geführt, dass sogar über die Einführung einer Kita-Pflicht gesprochen wird. Sind Sie dafür?

Uns fehlt das Bewusstsein, wie wichtig die Kitas sind.

Köller: Teilweise gibt es Ähnliches schon. In Berlin etwa müssen Kinder, die bei der Sprachstandserhebung auffällig werden, in die Sprachförderung, etwa in einer Kita. Die Pflicht ist aber das eine, die Umsetzung das andere. Laut Statistik kommt nur ein Drittel der Kinder mit negativer Diagnose auch in den Förderangeboten an. Wenn man solche Dinge einführt, muss man aber auch sicherstellen, dass sie eingehalten werden – notfalls mit Bußgeldern. Es mangelt an der Durchsetzungskraft. Aber natürlich auch an qualifiziertem Personal.

WELT: Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz, der Sie vorsitzen, beschäftigt sich damit, wie Unterricht in der Grundschule aussehen muss, um alle Kinder bestmöglich zu fördern und fordern. Nämlich wie?

Köller: Wir werden Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres unser Gutachten dazu vorstellen. Den Viertklässlern, über die wir jetzt reden, mangelt es ja an ganz basalen Kompetenzen. Dazu gehören zum Beispiel das flüssige Lesen und das Verständnis für den Satzzusammenhang. Mit diesen Kindern muss man erst mal üben, die Wörter, die sie sehen, zu dekodieren. Erst wenn sie flüssig lesen können, ist ein normaler Unterricht überhaupt möglich. Genauso in der Mathematik: Hier geht es um ganz basale Rechenfertigkeiten und ein Zahlenverständnis, Dinge, die man eigentlich in den ersten beiden Klassen lernt. Das muss man gezielt mit ihnen üben.

WELT: Wird an unseren Schulen insgesamt zu wenig Wert auf Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen gelegt?

Köller: Wir akzeptieren noch zu wenig, dass man sich in solchen Fällen nicht mehr an den Lehrplänen orientieren kann. Diese Kinder brauchen zusätzliche Angebote, um aus der Misere rauszukommen. Es reicht nicht aus, sie nur im Regelunterricht zu unterstützen.

WELT: Hat die Grundschule als Gemeinschaftsschule für alle noch Bestand? Oder braucht es schon am Anfang mehr Differenzierung nach Leistungsstand?

Bei der Schuldzuweisung an der Misere sind es oft die Kinder, die Eltern oder die Umstände. Es wird zu selten gefragt, was in den Kollegien selbst getan werden kann. Immer nur zu sagen: „Wir würden ja gern, aber es geht nicht“ ist zu wenig.

Köller: Wir werden die Grundschule in ihrem Grundgefüge nicht ändern. Aber man braucht auf jeden Fall kluge Ideen der Binnendifferenzierung. Mit zunehmenden Ganztagsangeboten brauchen wir in jedem Fall passende Angebote sowohl für die leistungsschwachen als auch für die leistungsstarken Schüler, um allen Kindern gerecht zu werden.

WELT: Welche Rolle spielt die Lehrerpersönlichkeit?

Köller: Natürlich spielt Professionalität eine Rolle. Vor allem aber muss ein Kollegium insgesamt bereit sein, an der Weiterentwicklung des eigenen Handelns zu arbeiten. Bei der Schuldzuweisung an der Misere sind es oft die Kinder, die Eltern oder die Umstände. Es wird zu selten gefragt, was in den Kollegien selbst getan werden kann. Immer nur zu sagen: „Wir würden ja gern, aber es geht nicht“ ist zu wenig.

WELT: Was muss sich an der Lehrerausbildung ändern, damit die geeignetsten Menschen Lehrer werden?

Köller: Beim derzeitigen Lehrermangel brauchen wir über Zulassungsbeschränkungen an Unis gar nicht nachzudenken. Aber wir haben bei der Qualität der Ausbildung noch durchaus Luft nach oben. Die Studenten werden viel zu wenig auf den Umgang mit der extremen Heterogenität der Schülerschaft vorbereitet. Wir gehen immer noch von einer Schule aus, wie sie vielleicht vor 30 oder 40 Jahren existiert hat. Auch Fortbildungen finden oft nicht strategisch statt. Es ist letztlich den Interessen und Hobbys der Lehrkräfte überlassen, welche Fortbildungen sie besuchen.

WELT: Ist den Kultusministern bewusst, wie hoch der Handlungsdruck ist?

Köller: Das Bewusstsein ist da. Aber es gibt angesichts der vielen Krisen natürlich einen enormen Verteilungskampf um die Ressourcen. Meine Befürchtung ist, dass die Bildung den Kürzeren zieht. Das wäre allerdings ein fataler Fehler. Die Bildungskrise hat immense Langfristfolgen auch finanzieller Natur. Jeder Euro, den wir hier nicht investieren, fehlt uns in den nächsten 20 Jahren um ein Vielfaches beim Bruttoinlandsprodukt.

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Aufgrund der fundamentalistischen Interpretation der Salamanca-Erklärung von 1994 ( https://condorcet.ch/2023/04/das-missverstaendnis-von-salamanca/ ) erfolgte fast 2 Jahrzehnte später im Rahmen des Lehrplan 21 die Inkludierung aller Schüler in den Normalunterricht. Die Folgen davon sind bekannt. In den inkludierten Klassen herrscht ein Kommen und Gehen.

Schule ohne Selektion und Noten. Ist das die Lösung?

Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz stünden unter hohem Stress. So das Ergebnis einer Stress-Studie der Pro Juventute. Daran sei die Schule mit ihrem Selektions- und Notendruck wesentlich schuld. Gefordert wird daher eine Schule ohne Selektion, in welcher der Leistungsdruck insgesamt sinken soll. Dies laufe der damit angestrebten Chancengleichheit zuwider, hält Gastautor Mario Andreotti dagegen.

4 Kommentare

  1. Nein, Herr Köller. Nicht zurückgekehrt auf den Stand von Pisa 2000. Nie weiter gekommen. All das Wunschdenken dank Kompetenzorientierung ist Schwurblerei und geradezu eine der Ursachen für die heutige Bildungsmisere. Getoppt wird diese Entwicklung lediglich noch von der Homeschooler- und Unschoolerbewegung, wo das Kind die Lerninhalte bestimmt. Vermeidungsstrategien sind da an der Tagesordnung. Mathe? Deutsch? Keine Lust. Ergebnis: Eine Viertklässlerin rechnet auf dem Stand Ende zweiter Klasse, ein Sechstklässler schreibt ausschliesslich in Grossbuchstaben und liest dementsprechend. Die Beispiele sind nicht erfunden.
    Die Bildung ist wild geworden und das System Schule ist ein Tummelplatz selbsternannter Experten mit fatalen Folgen.
    “Äss ghippd gainä Khardofeln mähr!”
    Sie wissen, was ich meine…

  2. “Die Frage ist allerdings, wie viel die von ihm unterstützten Bildungsreformen zu dieser fatalen Entwicklung beigetragen haben.”
    Nein, das ist nicht die Frage. Und wenn, dann kann sie jeder außerhalb des didaktischen Elfenbeinturms beantworten.

  3. Leider hat Herr Vuilliomenet recht. Herr Köller hat zwar die Probleme (die ja auch in der Schweiz herrschen) erkannt, aber er gibt primär den anderen Schuld (Ausländern, Schulen, Lehrkräfte etc.). Dabei gab es auch schon zu jener Zeit, als unsere Grosseltern die Schulbank drückten, Probleme mit Sozialfällen und bildungsfernen Familien. Früher wurden weit weniger Themen durchgenommen im Vergleich zu heute. Gleichzeitig hat die Bereitschaft (und Zeit) zu üben und zu repetieren abgenommen. Auch bei der Disziplin lassen wir den Kindern sehr viel mehr Freiraum als früher – getreu dem Motto: das Kind wird das korrekte Schreiben eines Wortes oder das gute Beherrschen des Einmaleins schon noch lernen, wenn es im Moment noch keine Lust darauf hat. Ausserdem lassen sich viele Kinder und deren Familien von den Online-Medien vereinnahmen und zuguterletzt werden die Kinder mit besonderen Bedürfnissen in die Regelklassen integriert. Ach ja, und bevor unsere Kinder im Deutschen sattelfest sind, beginnen wir mit einer zweiten Sprache. Und um es dann noch etwas komplexer zu machen, kommt noch die dritte hinzu. Nicht zu sprechen von den vielen Kindern, die zuhause noch weitere Fremdsprachen sprechen.
    Die Eltern, die die Probleme erkennen und sich erdreisten, mit dem Kind hinzusitzen und zu üben, sind dann ehrgeizige Eltern, die ihre Kinder unter Druck setzen…. Ich habe zwei Mädchen in der Oberstufe (12 und 14 Jahre alt) und wage zu behaupten, zu wissen, wovon ich spreche.

  4. In Frage 9 wird bekannt, weiche Funktion Köller hat. Seine Antworten zeigen nur eines, dass die “ständige wissenschaftliche Kommission” keinen blassen Dunst hat, wie 6 jährige Kinder und auch Erwachsene ins Lesen, Schreiben, Rechnen und weiteres eingeführt werden. Wissenschaftlich ist dies längstens bekannt. Man kann es bei Jeane Chall nachlesen. Am besten, man löst diese Kommission auf. Man würde eine Menge Geld elnsparen statt dieses in solchen Phantasmen wie “Migrationshintergrund” zu verbuttern.I

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