Ich plante für diese Doppellektion an einer 8. Klasse, für die ich als Stellvertreter eingesprungen bin: Rückgabe des Tests, die Korrektur desselbigen, Arbeit an einem Arbeitsblatt Prendre/Faire, Üben eines Dialogs «Midi» (Rollenspiel in Gruppen), Répétition «ça bouge» l’histoire du BD Questions Gespräch mit Klasse, Austeilen von 10 Seiten des BD Jo, stille Lektüre, anstreichen der nicht bekannten Wörter, Aufschreiben der nicht bekannten Wörter ins Heft, gemeinsames Übersetzen, Diskussion über das Gelesene, Fertigstellen des Arbeitsblatts «faire» «prendre». Das war eine ganze Menge Stoff und ich machte mir keine Illusionen darüber, dass ich wirklich alles behandeln könnte. Aber da es in der Klasse auch zweisprachige Schülerinnen hatte, plante ich jeweils über die Kante.
Das Protokoll
Es herrscht von Anfang an eine Unruhe, die ich kaum herunterbringen konnte. Die Schüler quatschen ständig und ungeniert mit den Pultnachbarn. Ich erkläre, dass ich keine Teste mehr akzeptiere, auf denen nichts steht. Ich lege die korrekten Antworten über den Visualizer auf die Leinwand. Auf die Tafel habe ich geschrieben.
Auftrag: Schreibt unter den ausgeteilten Test:
Corrections du test du 28.2.22
Und mündlich füge ich hinzu : Réécrivez toutes les phrases dans lesquelles vous avez fait une faute et soulignez les fautes avec une couleur.
Nur sehr wenige verstehen diesen Satz, weshalb ich ihn noch einmal auf Deutsch wiederholte: Diejenigen, welche eine 6 haben, machen sich direkt an das Arbeitsblatt faire/prendre.
Es bricht ein kleineres Chaos aus. N., F., R. geben mir kurz darauf Korrekturen ab, die allesamt lausig und unvollständig gemacht wurden. Ich weise sie an, es jetzt richtig zu machen. Ich muss zwei Schüler, die den Unterricht stören, isolieren, was in dem kleinen Klassenzimmer mit 21 Schülerinnen und Schülern nicht so einfach ist.
Ich auf Deutsch: «Für das Arbeitsblatt faire/prendre muss man das in der vorderen Lektion ausgeteilte Regelblatt verwenden».
14 der anwesenden SchülerInnen geben an, das Arbeitsblatt nicht bekommen zu haben. Ich weise sie an, in ihrem Heft nachzuschauen, ob sie es haben. 4 Schüler müssen das Heft draussen suchen. F., C., S. und D. schlagen das Heft vor mir auf und sehen die Blätter … sie sind nicht eingeklebt. «Ich habe keinen Leimstift!» Diesen Satz höre ich sicher zehnmal.
Als ich wieder hochkomme, bemerke ich, dass ein Schüler das Lösungsblatt von meinem Pult genommen und es unter den Visualizer gelegt hat. Die Klasse kann so das Arbeitsblatt einfach abschreiben.
Am Schluss muss ich doch noch 4 Blätter kopieren. Als ich wieder hochkomme, bemerke ich, dass ein Schüler das Lösungsblatt von meinem Pult genommen und es unter den Visualizer gelegt hat. Die Klasse hat so das Arbeitsblatt einfach abschreiben können.
Ich nehme es wieder herunter und spreche von einem Vertrauensbruch. Und sie seien ja da, um etwas zu lernen. Ich frage die Klasse, wer es denn gewesen sei. Niemand meldet sich und die Klasse schweigt. Ich antwortete, dass die Klasse sich einfach überlegen solle, wofür sie da seien.
Grosse Unruhe. Leimstifte fliegen herum. Ich fordere die entsprechenden Schüler auf, keine Gegenstände herumzuwerfen und weise sie an, einfach an dem Arbeitsblatt weiterzuarbeiten, bis der Leimstift kommt. F., D., Ch. und K. machen nichts, bis der Leimstift kommt.
A. sitzt an einem «2er-Pult mit K. und V. Weil er ständig schwatzt, versetze ich ihn an ein Einzelpult. Protest, aber er macht es. A. versteht sehr gut Französisch. Ich ermahne ihn, die Lösungen nicht immer hineinzurufen, sondern aufzustrecken. Umsonst, er kann es nicht.
Ich versuche nun, die Theatergruppen einzeln hinauszunehmen, und weise die anderen an, am Arbeitsblatt weiterzumachen.
Ich lasse zwei Gruppen die Szene spielen. Obwohl ich den Auftrag gegeben habe, den ersten Teil auswendig zu lernen, kann es nur D. Ich erkläre, dass sie diesen Text in zwei Wochen auswendig können müssen. Grosser Protest. Nach zwei Gruppen ist der Lärm im Klassenzimmer so gross, dass ich den Gruppenunterricht abbreche.
Neue Anweisung: Nehmt «ça bouge» hervor, S. 53. Ich will die Schüler erzählen lassen, was sie noch über «l’histoire du BD» wissen.
Ein geordnetes Klassengespräch ist nicht möglich. Ich versetze D. nach vorne … D. wird wütend, warum ich? Ich sage ihm, er hat jetzt genau 5 Sek. Zeit, den Platz zu wechseln … sonst kann er sich das von der Schulleitung erklären lassen. Er packt seine Sachen … F. zählt laut: 1,2,3 ….
Ich versetze auch ihn direkt vor mich ans Lehrerpult.
Ein Handy läutet, die halbe Klasse lacht laut auf. N. kann sich fast nicht auf dem Stuhl halten vor lauter Lachen.
Ich unterbreche den Unterricht und frage: Mal unter uns, nervt euch das nicht, dass wir hier kaum etwas lernen können, wenn ich immer unterbrechen muss, weil eine so grosse Unruhe herrscht?
V. sagt: Herr L., Sie haben ein schönes Hemd an.
A. und V. meinen, das sei bei ihnen normal. Ich lache, und antworte: Das glaube ich nicht und ich finde das überhaupt nicht normal.
V. sagt: Herr L., Sie haben ein schönes Hemd an.
Ich sage: V., das tut jetzt nichts zur Sache, konzentriere dich auf die Aufträge. Wir sind hier nicht an einem Kindergeburtstag.
Ich entschliesse mich, das «ça bouge» und die «l`histoire du BD» abzubrechen. Ich teile den Schülerinnen 10 kopierten Seiten des BD «Jo» von Déribe aus.
Auftrag: Lisez ce texte et marquez tous les mots que vous ne comprenez pas.
Es war gedacht, dass sie still lesen und arbeiten. Das ist kaum möglich, ständig wird das Gespräch mit dem Nachbarn gesucht. Als dann zwei Nacktbilder der beiden Protagonisten in den Bildern auftauchen, gibt es fast kein Halten mehr. Es wird gekichert, gelacht, man hört anzügliche Bemerkungen, auch gepfiffen wird.
Jetzt werde ich das erste Mal laut. Ich stelle die Klasse vor ein Ultimatum. Entweder arbeiten wir jetzt an dem Text oder wir machen an den Grammatikübungen weiter. Zwei Mädchen regen sich jetzt ebenfalls auf und mahnen die anderen, endlich ruhig zu sein.
Zum ersten Mal herrscht jetzt Ruhe. Die Schülerinnen und Schüler lesen den Text und markieren. Ich mache Kontrollen und merke, dass der Text viel zu schwierig ist für über die Hälfte der Klasse. S. weiss nicht, was «mais» heisst.
Ich lasse sie den Text laut vorlesen … sofort wieder Unruhe. Ich versuche, die erste Seite, die sehr einfach ist, mit ihnen zu übersetzen. Es geht um das «Schluss-Machen».
Die Freundin von J. sagt, es sei nicht einfach, einem Knaben zu sagen, dass Schluss sei. Als alle das verstanden haben, frage ich: Y-a-t-il quelqu’un qui a déjà dit à un garçon ou une fille que c’est fini?
Über die Hälfte der Klasse versteht diese Frage nicht oder will sie nicht verstehen. Als ich sie übersetze, meint V., das sei privat. Ich antworte: Niemand muss antworten.
D. meint, wie oft haben Sie schon Schluss gemacht. Ich lache und sage, dass weiss ich nicht mehr, aber ich habe es nie gerne gemacht …
Wieder grosse Unruhe und kaum ein Gespräch.
K. arbeitet nur auf Anweisung. Er kommt kaum voran; wenn ich nicht ermahne, macht er nichts. Er schlägt auch das Buch nicht auf, obwohl ich es ihm auftrage.
K. stört den Unterricht, redet ständig mit seinen Nachbarn und gefällt sich in tollen Sprüchen, die er aber leise unterdrückt sagt, damit seine Nachbarn es hören, die Lehrkraft vorne nur bedingt.
Mitten während meiner Ansage gibt mir K. ein Klebeband, das ihm zugeworfen worden ist.
K. zu mir: «Können Sie das brauchen!»
Ich negiere und fahre fort. Er hält mir wieder das Klebeband entgegen. K.: «Hier, das ist für Sie»
Ich nehme ihm das Klebeband aus der Hand und lege es auf das benachbarte Pult.
Ich: «Konzentriere dich jetzt auf deine Aufgabe»
K. nimmt das Klebeband wieder und wirft es C. zu, der auch damit spielt … Unruhe.
Ich komme und nehme das Klebband und sage: «Mein Gott, braucht ihr hier eigentlich einen Papi, der euch sagt, wie ihr euch konzentrieren müsst.»
Grosses Gelächter. V., K. und C. rufen «Papi!»
Ich lächle und sage: Okay, beruhigt euch wieder. Sie hören zuerst auf. Da schreit K. plötzlich ganz laut «Papi!»
Ich fordere ihn auf, den Raum mit dem Lernmaterial zu verlassen und draussen vor der Türe zu arbeiten. Das tut er auch.
Es wird ruhig. Nach ca. 3 Minuten kommt K. wieder ins Zimmer und sagt, er habe den Stift vergessen. Ich nicke, er holt den Stift, nicht ohne Mätzchen …
Als er wieder hinausgeht, sagt er noch «Ciao Papi!»
Daraufhin weise ich die Klasse an, an dem Arbeitsblatt weiterzuarbeiten und gehe mit K. zur Schulleiterin in den Unterricht, so wie es mir von dieser aufgetragen wurde.
Sie nimmt K. in ihre Obhut. Wir haben noch 8 Minuten. Über die Hälfte der Unterrichtszeit ist durch Unterrichtsstörungen verloren gegangen.
Die Lernsituation ist für viele Schülerinnen dieser Lerngruppe sehr unerfreulich.
Als sehr schwierig erweisen sich: A. (nicht böse, aber stark verhaltensauffällig), C. (völlig abgelöscht), F. (abgehängt und provozierend), N. (ständig lachend), D. (extrem zappelig und unruhig), V. (bemüht, aber komplett überfordert), L. (arbeitet kaum und führt die Aufträge nicht aus), N. (bemüht, aber lässt sich von den anderen sofort anstecken). K. (ist offen frech). Ein knappes Viertel erreicht einigermassen die Anforderungen einer Realgruppe in der 8. Klasse. Der Rest ist kaum in der Lage ,Anweisungen auf Französisch zu verstehen.
Fazit:
Ich werde für die Führung dieser Klasse ein Teamteaching beantragen. Die SL kennt die Probleme und hat mir Unterstützung zugesagt. Eine Person für Teamteaching wird gesucht. Und ich kann mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass ich mir wünschen würde, dass all die PH-Dozentinnen und Dozenten, die Bildungsfunktionäre und Bildungsforscher mal eine Woche lang in dieser Klasse unterrichten.
Es mag vermessen sein, hier Ratschläge erteilen zu wollen. Dennoch wird aus der plastischen Schilderung klar, dass bei den Lernenden das Vertrauen in ihre Leistungsmöglichkeiten gering ist, so dass sie auf sachfremde Interaktionen und Provokationen ausweichen:
1. Bevor sinnvoller Unterricht beginnen kann, muss die Klasse zur Ruhe kommen, die Aufmerksamkeit auf die Lehrperson zentriert werden, vermittelt werden, dass jetzt auf ein gemeinsames Ziel hingearbeitet werden soll, welches jedem einzelnen einen Gewinn an Wissen und Können bringen muss. Die Lehrperson muss versuchen, dies ruhig und bestimmt, ohne Hektik und Nervosität herüberzubringen.
2. Bei Klassen mit wenig diszipliniertem Arbeitsverhalten und eher schwachen Lernenden empfiehlt sich, zunächst eng geführt im Klassenverband zu arbeiten.
Dabei sollten die Lernenden ständig einbezogen werden, der Diskurs sollte den Lernenden das Gefühl geben, sich beteiligen zu können, gehört zu werden.
3. Zur Aufrechterhaltung der Konzentration sollte die Arbeit im Klassenverband häufig durch Stillarbeitsphasen unterbrochen werden, deren Resultate nachher im Plenum besprochen und weiterverwendet werden. Die geleistete Arbeit sollte stets die Beachtung der Lehrperson finden. Das reine Abarbeiten von Blättern ohne Kontrolle oder Weiterverwendung bringt eher Frust.
4. Arbeitsblätter mit Strukturübungen sollten so abgefasst sein, dass sie allenfalls für Partnerarbeit genutzt und nachher im Plenum vorgeführt werden können. Dadurch entsteht die Möglichkeit zur Kontrolle und zur Verbesserung, aber auch das unmittelbare Gefühl, die Mühe werde gewürdigt, es sei etwas dazugelernt worden.
5. Texte mit neuem Sprachmaterial müssen mit Hilfe der Lehrperson gleichsam wie ein Rätsel entschlüsselt werden. Hilfen wie inhaltliche und sprachliche Vorentlastung, vereinfachende Umformulierung, etc. Die Lehrperson bestätigt und begrüsst, wenn das Verstehen nachweislich gelungen ist.
6. Bei undiszipliniertem Verhalten sofort das störende Handeln benennen, an die Regeln erinnern, die Konzentration unbeirrt wieder herstellen, kein inflationäres Strafen.
Zu den guten Ratschlägen müsste noch hinzugefügt werden, was der pensionierte Pädagoge in der NZZ am Sonntag vom 11.9.2022 als
“Mein wichtigstes Werkzeug ist Empathie” bezeichnet und wie folgt erklärt:
“Ein Akademiker mit dem Anspruch auf Perfektion ist im Bildungsbereich
an der Schülerfront am falschen Ort, insbesondere auf dem Niveau der Sek B oder C. Es geht nicht darum, Prozesse zu optimieren, sondern um Empathie für Kinder und Jugendliche mit all ihren Stärken und Schwächen, Wünschen und Träumen, die heute mit einer seltenen Offenheit kommuniziert werden. Und es geht darum, Anleitungen und Antworten zu finden, wie jede und jeder Einzelne mit den ganz eigenen Ressourcen das Leben zu bewältigen lernen kann.”
Ich habe Jahrgang 1941 und habe in den Jahren 1948 bis 1957 eine andere Schule erlebt. Unsere Gesellschaft darf die geschilderten Zustände nicht länger tolerieren. Schade fürs Geld. Bildungsauftrag und Schulgesetz müssen dringend geändert werden. Kinder, welche sich der Schul- und Klassenordnung widersetzen sind ganz einfach von der Schule zu weisen.
Beim Lesen der Vorbereitungen des betroffenen Lehrers(ich schreibe absichtlich “bertroffen” statt betreffend, siehe “Papi” und den Schalk in den Augen des fotografierten Buben) und seiner Reaktionen und Zurechtweisugen während der Unterrichtsstunde wird es aufs Deutlichste klar, dass er derjenige ist, der Unterricht braucht, dies klar in der Praxis. Eloquente Theorien und Verhaltensvorschläge helfen kaum. Deshalb landen die drei vorangeheden Kommentare bei mir im Papierkorb. Zudem währen einige Demissionen von Lehrkräften an den PHs wünschenswert. Für Kinder und Jugendliche brauchen wir Tiefschulen.
Werte Frau Gächter,
Ich stolpere schon seit langem über ihre Kommentare, vor allem weil ich viele davon gar nicht richtig verstehe. In diesem Kommentar sprechen Sie zum Beispiel von Tiefschulen. Diesen Begriff kannte ich echt nicht…
Grundsätzlich – und das veranasst mich zu einer Antwort – kommt Ihr Kommentar ziemlich überheblich daher. Ich finde, dass die Lehrkraft sehr anständig, geduldig und klar agierte, immer im Bestreben, die Schüler zu spiegeln und sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Aber vielleicht erkundigen Sie sich einmal bei der Redaktion nach der Adresse dieses Lehrers, nehmen mit ihm Kontakt auf und vereinbaren eine Nachhilfelektion für ihn. Dann werden Sie ihm sicher zeigen können, wie man es richtig macht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen. Der ‘betroffene’ Lehrer hat nichts falsch gemacht und wir sollten ihm auch keine guten Ratschläge geben.
Vielmehr entscheidend ist die Geringschätzung des Faches Französisch von der Schule, den Eltern, Schülerinnen und sogar vom Lehrkörper.
Wie und warum das so geschehen ist, lässt sich nicht in einem Kommentar vollständig zusammenfassen, aber schuld an diesem Desaster ist jedenfalls nicht das Fach selbst, sondern wuchtige pädagogische Reformen, die schnell vollzogen werden, ohne zu prüfen und zu evaluieren, was diese bewirken werden,ungeeignete Lehrwittel wie ‘Mille feuilles’ und ‘Clin d’oeil’, die an der Sek und speziell an der Real allerlei Ablehnungaktivitäten seitens der Schülerinnen hervorrufen. Was man ihnen nicht verdenken kann, da sie ja im Französisch kaum etwas lernen.
Das ist schade und ich denke, wir sollten nicht bei jeder Änderung im Schulbetrieb das Rad neu erfinden und auf eine misslungene Reform eine nächste unglückliche folgen lassen.
“Schuster bleib bei deinen Leisten” – es ist nur eine Fremdsprache!