7. November 2024

«Bildung tat weh, hatte sie erfahren» – eine Buchbesprechung

Condorcet Autor Georg Geiger empfiehlt den Roman der ehemaligen Migrantin Nadire Biskin vor allem für angehende Lehrerinnen oder Lehrer (auch nicht deutscher Herkunftssprache). “Lesen Sie dieses Buch, wenn Sie Gefühle haben. Oder wenn Sie Gefühle haben wollen. Lesen Sie einfach dieses Buch”, meint auch Georg Geiger.

Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor: Doch sie wurde zur Spezialistin für die Türkei und den Islam.

Vor kurzem verschickte ein Lehrerkollege folgende Chat-Nachricht: «Hatte heute Gespräch mit M. und L. Ok, wir kämpfen gegen Femizid und Nuklearbombe. Aber diese alltägliche Ausgrenzung bringen wir nicht weg. Klartext: Die SchülerInnen aus Portugal und Kroatien erleben unser System als rassistisch und ausgrenzend.»

Wer besser verstehen will, wie diese Ausgrenzung zustande kommt und wie sie sich anfühlt, möge den zornigen Erstlingsroman der 1987 in Berlin-Wedding geborenen Nadire Biskin lesen. Er eignet sich auch als Klassenlektüre auf der Mittelstufe. Biskin hat Philosophie, Ethik und Spanisch studiert und mehrere Jahre zu Sprachbildung und Mehrsprachigkeit geforscht. Heute arbeitet sie als Lehrerin und schreibt journalistische Texte und Essays.

Dem Roman ist folgende Widmung vorangestellt:

«Für Schüler*innen (ndH) und für (angehende) Lehrer*innen (ndH), für 65»

Die Abkürzung «ndH» steht dabei für «nicht deutscher Herkunft» oder noch korrekter für «nicht deutscher Herkunftssprache». 65 steht für das Wedding-Quartier in Berlin.

Nadire Biskin wurde 1987 in Berlin-Wedding geboren. Sie hat Philosophie, Ethik und Spanisch an der Humboldt Universität zu Berlin und Universitat d’Alacant studiert und mehrere Jahre zu Sprachbildung und Mehrsprachigkeit geforscht.
Auch in der türkischen Kleinstadt gibt es Diskriminierung, nicht nur in Berlin.

Nadire Biskin widmet ihr Buch all den Jugendlichen, die auf ihre Art Urszenen von Entfremdung und sozialer Ausgrenzung erleben, wie sie die Protagonistin Huzur als Mädchen beim Einkaufen mit ihrer Mutter an der Kasse des Supermarktes schildert: «Alles war wie sonst, die Kassiererin grüsste nicht, sagte kein ‘das macht so und so viel, bitte, in bar oder mit Karte?’» Erstaunt beobachtet die Tochter, wie die nachfolgende Kundin gleich zu Beginn mit einem lauten ‘Guten Tag’ begrüsst wird: «Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Huzur bewusst, dass zwischen den Frauen ihrer Familie und der blonden, grossen Kundin Niemandsland lag, etwas Trennendes, über das man niemals laut sprach, obwohl es immer da war. Es ging um sichtbare Unterschiede zwischen zwei Welten, um Kleidung, Sprache und Aussehen, und um Unsichtbares, wie das, was man in einer bestimmten Anzahl von Schuljahren lernen kann.» Und die Tochter beschliesst in diesem Augenblick, dass sie nicht auffallen will wie ihre Mutter «und von den Kassierinnen dieser Welt ein Guten Tag, einen Betrag und ein Bitte hören» will. Dazu muss sie die soziale Leiter aufsteigen. Die spätere Ernüchterung der Endzwanzigerin aber ist beträchtlich: «Heute weiss sie, dass man in Deutsch und Sport keine Chance hat, wenn die Grosseltern aus der Türkei und man selbst aus der Unterschicht kommt. Von der behauptet wird, dass es sie nicht gibt. Aber damals gab sie sich nicht geschlagen und arbeitete so hart, bis sie auch in Deutsch und Sport ihre Zwei hatte. Sie kam vorwärts, auch wenn es ein Vorwärtskommen mit aufgeschürften Knien war. Doch die Kassierin im Penny grüsste sie immer noch nicht.»

 Biskin widmet ihren Roman auch allen angehenden Lehrer*innen nicht deutscher Herkunftssprache, denn in den Bibliotheken kann man viele Bücher entdecken, «wie man im Klassenzimmer überlebte, aber nicht, wie man im Lehrerzimmer überlebte.»

 Biskin widmet ihren Roman auch allen angehenden Lehrer*innen nicht deutscher Herkunftssprache, denn in den Bibliotheken kann man viele Bücher entdecken, «wie man im Klassenzimmer überlebte, aber nicht, wie man im Lehrerzimmer überlebte.» Die Referendarin  Huzur schafft den sozialen Aufstieg: «Bald schon war sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen, im Lehrendenzimmer, dem Limbus in der Mitte der Gesellschaft, bei den Lehrern, die Wächter waren, für die Schüler ‘Problemkinder’ oder ‘Chaoskinder’ waren.» Huzur fühlt sich von Anfang an nicht als Individuum wahrgenommen: «Sobald sie das Lehrendenzimmer betrat, schien sich ein roter Teppich mit Halbmonden und Sternen unter ihr auszurollen. Man fragte sie, wie sie zu Erdogan stünde. Wie sie zu Böhmermann stünde, ob sie Schweinefleisch esse, wo sie so gut Deutsch gelernt habe (…)» Sie wird nur als Kollektiv wahrgenommen: «Sie war in Deutschland geboren, lebte hier, war hier zur Schule gegangen. Doch sie wurde zur Spezialistin für die Türkei, den Islam, zu der Situation von türkischen und muslimischen Frauen, zu arabischen Clans in Neukölln, und die Medienereignisse erweiterten den Fragekatalog.»

Die mit ihr auf der Schule waren und es geschafft haben, sind mittlerweile nach Charlottenburg oder Tempelhof gezogen.

 Zum Dritten widmet die Autorin ihr Buch dem Wedding-Quartier, in dem sie und auch ihre Protagonistin Huzur aufgewachsen ist. Und wieder geht es dabei um die Themen Entfremdung und sozialer Aufstieg: «Die mit ihr auf der Schule waren und es geschafft haben, sind mittlerweile nach Charlottenburg oder Tempelhof gezogen, wer aus Wedding wegkonnte, hat es gemacht. Nur weg von hier, denn neben allem anderen macht sich Wedding auch im Lebenslauf nicht gut. Die Kinder der Väter und Grossväter, die noch am Band gestanden haben, arbeiten jetzt in Behörden und haben Handcreme in ihrer Schreibtischschublade, obwohl ihre Hände nichts mehr auszuhalten haben. Nur sie, Huzur, die nicht wie die anderen BWL oder Jura studiert hatte, ist zusammen mit denen, die eine Berufsausbildung gemacht haben, noch immer in Wedding.»

 Der Roman spielt an zwei Orten. Es beginnt in Bucak, einer Kleinstadt im Südwesten der Türkei, zur Zeit des Opferfestes. Huzur ist bei ihrer Cousine auf einem mehrwöchigen Zwangsurlaub, denn in Berlin hat man sie vorübergehend vom Referendariat suspendiert wegen der «Sache mit dem Kopftuch». Sie war aus Protest gegen Äusserungen einer Kollegin mit einem Kopftuch (notabene verziert mit rosaroten Schweineköpfen!) im Lehrendenzimmer erschienen und dabei kam es zum Eklat, dessen Bereinigung immer noch ansteht. Aber auch in der türkischen Kleinstadt gibt es Diskriminierung, nicht nur in Berlin. So etwa gegenüber der syrischen Flüchtlingsfamilie ,deren Tochter seit Tagen verschwunden ist. Oder der Heiratsdruck, der ihr von der eigenen Sippe entgegenkommt. Und im Umgang mit einer fremden Tante auf dem Rückflug nach Berlin verhält sich Huzur fast so wie die Kassierin im Supermarkt: «Huzur ging mit der Tante so um, wie deutsche Sachbearbeiterinnen auf der Ausländerbehörde mit ihr umgingen. Wenig Augenkontakt, Sätze im Imperativ, kein Körperkontakt. Die Wörter deutlich ausgesprochen, mit langen Pausen dazwischen.»

Zurück in Berlin überschlagen sich noch am Abend ihrer Ankunft die Ereignisse. Huzur liest bei einer Busstation die verwahrloste zehnjährige Hiba auf, ein syrisches Mädchen ohne Familie, bei dem man sofort an die verschwundene Tochter der syrischen Flüchtlingsfamilie in Bucan denken muss. Plötzlich muss sich Huzur nicht nur um sich, sondern auch noch um ein fremdes Kind kümmern.  Da bleibt auch kaum mehr Zeit für die Beziehung mit Raphael, dem Langzeitstudenten mit Eltern aus der französischen Schweiz, die im vornehmen Dahlemdorf wohnen: «Er ist da, wo sie hin will, in der Mitte der Gesellschaft, er stammt aus dem Randbezirk, wo die Menschen nicht aus Not leben, weil sie dorthin gedrängt worden sind, sondern weil sie die Mitte der Stadt satthaben. Will sie dahin? Und wenn ja, wird sie dort jemals ankommen?» So viel sei verraten: Das Buch endet mit dem unversöhnlich-radikalen Satz: «Ich mag nicht mehr.»

 

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